Gut zwei Jahre ist es her, als die Medien den Begriff der „Industrie 4.0“ zelebrierten, um wenig später ernüchtert festzustellen, dass der deutsche Mittelstand diese Bewegung verschläft. Dem Klagelied trotzte dann die Cebit 2016, als sie die Sache zu ihrem Leitthema machte. Und wie nach jedem ausgewachsenen Hype ist es still geworden, und das gibt Anlass zu hoffen, dass die Unternehmen in Klausur gegangen sind, um der nächsten Etappe der industriellen Revolution den Weg zu ebnen (s. Kasten am Ende des Artikels).
Was einen Verlag bewegt – oder: Wann bewegt sich ein Verlag?
Unser Verlagstreiben als industriellen Prozess zu verstehen, fällt zugegebenermaßen nicht leicht. Die Spezies der Verlage und deren „Warenausstoß“ schwimmt im geschützten Teich diverser Gesetze. Und die zentrale Botschaft, die der verminderte Mehrwertsteuersatz für Bücher sendet, unterstreicht einmal mehr den kulturellen Auftrag, den das Verlegen immer noch bedeutet.
Und während sich unsere Absatzmärkte und unser Wettbewerbsumfeld fundamental ändern, schenkt auch die demografische Entwicklung keine Hoffnung, dass sich das Rad der sinkenden Auflagen und ins Digitale abwandernden Leserschaft je zurückdrehen ließe, wie Tomorrow Trends unter „Disruptive Demographics and the Future of the World Population Until 2060“ drastisch skizziert.
In seiner Keynote auf der vergangenen Herstellungsleitertagung in Irsee gab uns Richard Gutjahr zwei zentrale Hinweise mit auf den Weg: Das Internet ist kein Medium, sondern eine Infrastruktur; und die überraschende Aussage des Netflix-Gründers Reed Hastings, der sich mit HBO und Amazon in einem natürlichen Konkurrenzumfeld sieht, jedoch Bücher zur feindlichen Kategorie zählt. Wir lernen: Der Kampf um das Zeitkontingent des Users (aka: Lesers) ist eröffnet! Alles ist also nur einen Klick entfernt – und unsere Verhaltens-DNA längst mutiert. Wir sind Freunde, Verwandte und Kollegen. Wir schreiben und kommentieren die Welt für alle sichtbar. Wir sind Leser und User. Wir lassen uns unterhalten und bestimmen Programm und Zeitpunkt selbst. Wir vertrauen unsere (Lebens-)Fragen dem Angebot diverser Plattformen im Netz an und stillen unseren Informationsbedarf mit was immer deren Algorithmen uns ausspucken. Wir sind Käufer und Nutzer. Wir lernen, unabhängig von Raum und Zeit in frei wählbarer Form Medien zu konsumieren und beliebige Produkte zu kaufen. Der Bestellbutton verspricht umgehende Bedürfnisbefriedigung. In weiser Voraussicht hat sich Amazon 1999 das One-Klick®-Patent sichern lassen und unser Konsumverhalten nachhaltig verändert.
Informationen mobilisieren
Im Zeitalter des Internets der Dinge geht es darum, Inhalte als Ware zu begreifen und ihnen alle Vorteile eines Online-Shops zugutekommen zu lassen, wie es Gerrit Klein, CEO des Ebner Verlags, treffend ausführt und uns damit zu adaptierenswerten Überlegungen inspiriert, denn: Warum auch sollte unser neu erlerntes Nachfrageverhalten beim Kulturgut Buch haltmachen?
Mit Begriffen wie „Standards“, „Automation“ und „auf Knopfdruck“ gehen wir vorsichtig um, haftet ihnen ein gewisses Stigma der Gleichmacherei und Entfremdung an, wenngleich sie – intelligent eingesetzt – der Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens sind. So kommt es, dass wir nach der strengen Auslegung der industriellen Entwicklung gelegentlich noch Arbeitsweisen praktizieren, die noch nicht einmal den Errungenschaften der Industrie 3.0 gerecht werden. Dabei sind es gerade die Verlage, die den Geist des Neuen in die Welt tragen und wertvolle Lektüren von der Digitalisierung über den gesellschaftlichen Wandel bis hin zu weit vorausdenkenden Science-Fiction-Stoffen veröffentlichen. Und auch wenn die Visionen des in die Jahre gekommenen Genres unsere Vorstellungskraft wiederholt sprengen, philosophieren und forschen deren Anhänger noch immer erfrischend frei in die Zukunft, wie es jüngst in der „Wired“ unter der Überschrift „Books Could Be So Much Better If They Could Read Your Mind“ nachzulesen war.
Wir haben Systemlandschaften in den Verlagen geschaffen, die nach alter Karteikarten-Tradition brav alle Daten zu einem Titel aufnehmen. Doch dann entpuppt sich das System als Datengrab. Wertvolle Informationen werden unbrauchbar, weil die eingepflegten Termine uns nicht darin unterstützen, ein Projekt termingerecht abzuwickeln oder für eine Verlagskalkulation dann doch wieder Teilinformationen aus dem System in eine Excel-Datei übertragen werden müssen. Fehlende Vernetzungsintelligenz macht sich auch in Dateiverwaltungssystemen deutlich: Mittels komplexer Suchfunktion finden wir nun alle Bilder, Cover und Inhaltsdaten, jedoch scheuen wir Entwicklungskosten, wenn es um den Ausbau intelligenter Funktionen geht, wie beispielsweise die systeminterne Qualitätssicherung. Die fatale Folge: Eine lücken- und fehleranfällige Systemlandschaft. Weit entfernt von den Möglichkeiten, unsere Inhalte medial anzureichern und in ein Storytelling-Format auszuspielen, über Ratgeber-Community-Plattformen verfügbar gemacht zu werden oder auf Kundenwunsch maßgeschneidert bereitzustehen.
Digital ≠ digital verwertbar
Den Anforderungen neuer Absatzkanäle herstellerisch gerecht zu werden, setzt eine intelligente Vernetzung unserer Systeme und flexible Bevorratung strukturierter Inhalte voraus. Aus zwei E-Books ein E-Bundle zu generieren, darf für den Hersteller nicht bedeuten, dass er 27 Arbeitsschritte und 86 Minuten seiner Zeit aufwenden muss, nur weil wir unsere Content-Typen nicht definiert und automatisiert generierbar sind und zusätzlich zahlreiche Rückfragen an Lektorat und Vertrieb erzeugen. Allein der Aufbau einer Titelei inklusive des Impressums, aber auch der Eigenanzeigen muss nicht mehr als Word-Manuskript oder Mail an die Herstellung übergeben werden: Wenn wir die nötigen Informationen fehlerfrei im Verlagssystem hinterlegen (und dieses dann systemgestützt mit dem getaggten Manuskript an den vernetzten Satzserver senden), dann könnte das schon der erste Schritt zu einer automatisierten Produktion sein. Ob Ihre E-Books auf dem Stand der Technik sind, nach dem „Form follows function“-Prinzip eine angemessene Produktausstattung erfahren und Reader-optimiert ausgeliefert werden, das ist lediglich eine Frage der Definition und der Technologieentscheidung. Die verschiedenen Produktformen mit dynamischen Metadaten auszuspielen und flexibel mit variierendem Zusatz-Content auszustatten, kann ein klug vernetztes Verlags- und Produktionssystem leisten. Individualisierte Ausgabeformen zu ermöglichen, z.B. Leseexemplare mit zugeschnittenen Informationen für Journalisten oder den Buchhändler in Kleinmenge digital gedruckt, stellt keine unüberwindbare Herausforderung mehr dar, wenn Verlags- und Produktionssystem miteinander sprechen. Hat man einmal technologisch diese Voraussetzung geschaffen, ist die Anbindung an Ihr Vertriebssystem und On-Demand-Lieferung nicht mehr weit.
Zusätzlich lohnt es, die Reihe einzelner Arbeitsschritte für die Beauftragung der Produktionsetappen genauestens unter die Lupe zu nehmen. Ob für den Korrekturauftrag oder die technische Manuskriptaufbereitung, die Konvertierung eines E-Books, den Satz oder den Druckauftrag: Es macht einen spürbaren Zeitgewinn pro Order aus, ob wir sie in einem Word-Dokument hacken, ausdrucken und dann faxen, gegenüber der schlanken Verfahrensweise, nach der Sie lediglich den Auftrag im Verlagssystem freischalten und über API-Schnittstelle in das System Ihres Dienstleisters schreiben. Die erfreulichen Nebeneffekte wie eine tippfehlerfreie Informationsübermittlung, Statusnachverfolgung im Verlagssystem, bis hin zur nahtfreien Übergabe der Projektverantwortung an die Urlaubsvertretung und hin zu mobilem 24/7-Zugriff kommen uns zusätzlich zugute. Am anderen Ende der Kette produziert nämlich längst die smarte Fabrik, und es liegt an uns, die noch ungenutzten Ressourcen für uns auszuschöpfen.
Standardisierte Produktformen, automatisierte Prozesse
Zahlreiche Bemühungen, unsere Arbeit zu digitalisieren, wurden bislang nicht weit genug gedacht: Analog getätigte Aufgaben lediglich digital abzubilden, hat keine Zeitersparnis erbracht, die Effizienz nicht erhöht, denn wie Wirtschafts- und Industriesoziologe Hartmut Hirsch-Kreinsen erkannte, geht es darum „das ganze Gefüge aus Technik und Arbeit neu zu organisieren“. Um das einzulösen, bedarf es eines umfassenden Verstehens der Arbeitsschritte auf den Schreibtischen unserer Kollegen. Wer darin tief taucht und kritisch jeden einzelnen Handgriff überprüft, wird mit wertvollem Zeitgewinn belohnt. Lassen wir uns auf standardisierte Produktformen und automatisierte Prozesse ein und beziehen den Grundgedanken des „One Click“ ein, überwiegen zudem die Vorteile der Qualitätssteigerung, der Flexibilität, mit geringem Aufwand, individuelle Kundenwünsche zu bedienen und neue Angebotsformen, auch für Nischenmärkte, anzubieten. Bevor wir diese Hausaufgaben nicht gemacht haben, brauchen wir über individuelle B2B- oder barrierefreie Angebote nicht weiter nachzudenken, denn wer im Mai die Nachricht von „The Kindle Chronicles“ wahrgenommen hat, versteht, dass die nahezu ausgereifte Text-to-Speech-Technologie ganz neue Zielgruppen und Angebotsformen bedeuten kann.
Vernetztes Denken
Vernetzte Lösungen setzen vernetztes Denken voraus, und nur mit dem Blick über den Abteilungs-Tellerrand wird es uns gelingen, intelligente Lösungen zu entwickeln, die uns entlasten und umfangreiche Arbeitsschrittfolgen auf ein Minimum reduzieren. Viel nachfragen hilft an dieser Stelle:
- Wo kann ein Arbeitsablauf eine Abkürzung nehmen – bei gleichbleibendem, wenn nicht gar besserem Ergebnis?
- Wo schlummern Informationen in Systemen, die für den Produktionsprozess nutzbar gemacht werden können?
- Welche wiederkehrenden, monotonen Tätigkeiten können vernetzte Rechner übernehmen, statt den Umweg über das Mailpostfach unserer Kollegen zu nehmen? Allein die ungezählten Vorgänge, wenn wir Daten von A nach B schieben, sind längst überfällig, an unsere Systeme delegiert zu werden.
- Muss die Druckrechnung noch mit Kontierungsstempel versehen, händisch kontiert und in die Buchhaltung getragen werden – oder vereinbare ich mit meinem Dienstleister eine XML-basierte Monatsrechnung, die das Buchhaltungssystem digital einliest und nach Abgleich mit den vorkalkulierten Werten im Verlagssystem dementsprechende Titel zuweist und von selbst die Überweisung veranlasst?
Die Ideen der Industrie 4.0 ins Verlagsgeschäft zu transferieren, fällt leichter, wenn man in Max Rauners heiterem Artikel „Wenn ich mit euch fertig bin, seid ihr ein Joghurt“ über die Fertigung des Wunsch-Joghurts stellvertretend für das Milchprodukt ein „Buch“ einsetzt. Viele Aufgaben und Entscheidungen, die über Jahrzehnte den Berufsalltag des Herstellers bestimmt haben, können wir nun getrost den virtuellen Produktionsagenten unserer vernetzen Verlagswelt überlassen. Wichtig wird, mit sinnstiftender und kreativer Wissensarbeit aktiver Teil der Wertschöpfung zu werden und die Zukunft der Verlagsindustrie mitzugestalten. Das verlangt Mut, neue Wege zu gehen, aber auch das konsequente Engagement der Unternehmenslenker, in diese Zukunft zu investieren.
Industrie 4.0
Unter der Überschrift „Industrie 4.0“ beschrieb die Bundesregierung bereits 2013 ein Zukunftsbild, in dem, aufbauend auf „vernetzte und flexible Produktionstechnologien (…), sich innovative Geschäftsmodelle“ entwickeln würden. Die Absicht war, den industriellen Fortschritt in Gang zu bringen, nachdem die Produktionsautomation ins Stocken geraten drohte. Doch bereits 2011 sahen einige kluge Köpfe voraus, dass von Elektronik und Informationstechnologie unterstützte Fertigungsstrecken in nicht allzu ferner Zukunft den nächsten Entwicklungsschritt nehmen würden. Fünf Jahre später ist unbestritten, dass die Organisationsgestaltungsprinzipien der Industrie 4.0 unsere Märkte und Arbeitswelt grundlegend verändern, denn:
- die Vernetzung der Systeme schenkt uns Geschwindigkeit und eine Vielfalt neuer Optionen, unsere Produkte bedarfsgerecht an den Markt zu bringen;
- die Möglichkeiten der Informationstransparenz sowie der intelligenten Datenauswertung schaffen die Grundlage in völlig neuen Richtungen weitere Märkte zu entdecken;
- die Interaktion zwischen Systemen und Menschen machen wir uns zunutze, um Aufgabenstellungen schnell und fehlerfrei zu lösen, und
- cyber-physische Systeme werden von uns in die Lage versetzt, Entscheidungen autonom zu fällen.
Vereinfacht formulierte es der „Zeit Online“-Journalist Max Rauner: „Hinter Industrie 4.0 steckt ein Versprechen, dass Kunden ein maßgeschneidertes Produkt zum Preis eines Massenprodukts bekommen.“ Und erst durch die „566 Billiarden Müsli-Varianten“ über mymuesli.de wird klar, dass die vierte Industrierevolution längst an unserem Frühstückstisch Platz genommen hat.
aus: pubiz.kompakt Dienstleister 2016
Veranstaltungstipp zum Thema:
Der Verlag von Morgen: Manufaktur oder Industriebetrieb?
Sind industrielle Verlagsabläufe die Realität von morgen, um Produkte immer noch schneller und wirtschaftlicher auf den Markt zu bringen? Und sehen dann alle Bücher gleich aus, wenn alles nach Schema F läuft? Oder liegt die Lösung doch in der individuellen Produktentwicklung und -umsetzung? In diesem Panel setzen sich Verlagsprofis mit den Optionen auseinander: Individualisierung versus Standardisierung. Diskutieren Sie mit!
- Liane Kade (Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG)
- Barbara Scheuer-Arlt (Verlagsgruppe Random House GmbH)
- Katharina Beck (Dr. Josef Raabe Verlags-GmbH)
- Michaela Phllipzen (Ullstein Buchverlage GmbH)
Moderation: Barbara Lennartz (Langenscheidt GmbH & Co. KG)
Partner: Stiftung Buchkunst
Forum Verlagsherstellung, Frankfurter Buchmesse
Mittwoch, 19. Oktober 2016, 12 bis 13 Uhr
Halle 4.0, J 35
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