Warum die Krise nur ganzheitlich lösbar ist – Theresa Bolkart und Olaf Deconinck (Publisher Consultants) über Beschaffungsstrategien
Spätestens seitdem der SPIEGEL in seinem News Briefing vom 16. September titelte „Wird Papier das neue Gold?“, haben das Thema Beschaffung und die „Papierkrise“ ihren Weg in die breite öffentliche Wahrnehmung gefunden. Was anfangs nur ein coronabedingter Engpass war, wirft jetzt die Frage auf, inwieweit die Beschaffung auch ganz grundsätzlich neu gedacht werden muss.
Bislang fuhren viele Unternehmen gut mit dem Konzept, ihre Papierbestellungen bedarfsgerecht abzusetzen, anstatt sich die Lager vollzustellen mit Paletten von „totem Wald“, die Auflagenplanung wurde just in time vorgenommen. Inzwischen ist das kein funktionierendes Modell mehr. Die Situation im Markt ist unverändert angespannt, zwar haben sich viele bis zum Jahresende bevorratet, aber wie es danach weitergehen kann und was die aktuelle Situation für die Zukunft bedeutet, welche Strategiewechsel vonnöten sind, um auch in Zukunft die eigenen Produkte zu den Kunden zu bringen, ist häufig noch nicht geklärt.
In der aktuellen Situation bietet es sich an, zweigleisig zu fahren: Einerseits muss spontan gehandelt werden, z.B. bei Nachdrucken oder „Schnellschüssen“, weil ein Titel noch kurzfristig ins Programm kommt. Andererseits müssen mittel- und langfristig Strategien entwickelt werden, um der Beschaffung – auch im Kontext der immer relevanter werdenden Nachhaltigkeitsdebatte – einen Rahmen zu geben.
Um kurzfristig lieferbar bleiben zu können, hilft es, folgende Fragen zu prüfen:
- Ist der aktuell verfügbare Bestand wirklich über die Ladentheke gegangen oder liegen bei einzelnen Groß- oder Zwischenhändlern ggf. noch ungenutzte Kontingente, die umverteilt werden können?
- Gibt es Print-on-Demand-Angebote, die, vor allem im Bereich der Backlist, Abhilfe schaffen können? Derzeit sind die ad hoc gedruckten Exemplare ohnehin auf dem Vormarsch und auch, wenn sie im Handel noch nicht geliebt werden, sind sie eine zumutbare Alternative zur Meldenummer 80.
- Welche Titel können im größten Notfall auch nicht zum geplanten Zeitpunkt erscheinen? Corona hat uns gelehrt, dass hier durchaus Möglichkeiten sind, wenn uns die äußeren Umstände dazu zwingen, und auch, wenn das keine angenehme Entscheidung ist, kann sie kurzfristig helfen, die Wirtschaftlichkeit von Verlagen zu verbessern.
Mittel- und langfristig sollte überlegt werden, welche der kurzfristigen Maßnahmen zum Teil einer haltbaren Beschaffungsstrategie erhoben werden können:
- Stellen Sie sich die Frage, ob wirklich alle Titel immerzu lieferbar sein müssen. Ab welcher Stückzahl ist es vertretbar, on demand zu drucken? Welche Abstriche in Qualität und Lieferzeit sind Sie bereit hinzunehmen, wie sind dazu die Rückmeldungen aus dem Buchhandel? Dies ist ggf. ja ein Weg, Teile der Backlist lieferbar zu halten, ohne dafür weitere Druckauflagen zu produzieren.
- In Zusammenarbeit von Herstellung und die richtige Erstauflage zu kalkulieren, gilt als Königsdisziplin in Verlagen. Und dennoch: Schauen Sie sich den Entscheidungsprozess noch genauer an. Sind alle Parameter parat? Wie treffsicher waren Entscheidungen in der Vergangenheit, welche Informationen fehlen noch, um noch sicherer zu kalkulieren? Das Vermeiden von zu großen Druckauflagen gehört zum kleinen Einmaleins, aber wie verändert sich die Rechnung, wenn Sie nicht davon ausgehen, dass auch kleinere Nachauflagen jederzeit gedruckt werden können? Und hier sprechen wir noch nicht von Sonderpapieren, Veredelung, Vierfarbigkeit …
- Nehmen Sie Ihre Zahlen und fragen sich ganz nüchtern: Wie viele Bücher muss ich wie gut verkaufen, um als Unternehmen gesund und erfolgreich zu sein? Diese Frage betrifft alle Abteilungen eines Verlages, die Vielzahl von Stimmen und Meinungen ist vorprogrammiert. Doch die Beschaffungskrise ist keine Frage, mit der sich einfach nur die Herstellerinnen und Hersteller plagen, sie betrifft die verlegenden Unternehmen als Ganzes.
- Machen Sie Ihre Hausaufgaben. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die sich auch jenseits von Papierkrise, Druckkostenverhandlungen und Asien-Produktion positiv auf Kosten und Wirtschaftlichkeit auswirken können: Standardisierungen von (Papier-)Qualitäten, langfristige Planung und der enge Kontakt zu Druckereien und Papierlieferanten können helfen, in Notsituationen lieferbar zu bleiben und Ziele auch unter schwierigen Bedingungen zu erreichen.
Die Papierkrise ist jetzt schon das zweite Ereignis, das in kürzester Zeit vor Augen führt, wie zentral es ist, dass Verlage ganzheitlich denken und ihre Fragestellungen als Einheit definieren und beantworten. So wie die Corona-Krise keine Krise war, die allein Marketing und Vertrieb betraf, so betrifft die Papierkrise nicht allein die Herstellung: Wenn Bücher nicht ausgeliefert werden können, wenn sie gar nicht erst gedruckt werden können, dann wird die gesamte Wertschöpfungskette bedroht. Daher lohnt es sich, die Krisen als das zu begreifen, was sie letztlich sind: Chancen zur Organisationsentwicklung, zu mehr Nachhaltigkeit und zur idealen Ressourcenorientierung – nicht nur in Bezug auf Papier und Karton.
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