Die Peergroup Produktion der IG Digital veröffentlicht ein neues Grundsatzpapier zum Einsatz von XML in der Verlagsbranche. Das Fazit: Eigentlich müsste XML längst Standard sein, aber…
Tobias Ott, Geschäftsführer von Pagina, dem Tübinger Spezialisten für Publikationstechnologien und die digitale Transformation der Verlagsbranche, saß als „Peer“ mit am Tisch. In einer Serie im Channel Strategie & Transformation auf buchreport.de beleuchtet Ott die strategischen, prozessualen und technischen Aspekte, die sich durch den XML-Einsatz für Verlage ergeben.
Worauf warten wir?
„Eigentlich“: Sobald im Gespräch dieses Wort fällt, spüren wir, dass die Zeit reif ist für Veränderung. Denn das „eigentlich“ – auf das dann stets ein „aber“ folgt – markiert den Punkt, ab dem Erkenntnis und Handeln zunehmend in Diskrepanz stehen. Eigentlich müssten wir viel weniger Fleisch essen, aber es war gerade im Angebot. Eigentlich sollte das nächste Auto ein Elektroauto sein, aber wir haben Sorge wegen Reichweite und Ladeinfrastruktur. Eigentlich müsste die Verlagsbranche schon viel weiter sein beim digitalen Wandel, aber die Branche ist so heterogen und kleinteilig. Eigentlich müssten wir im Verlag längst XML eingeführt haben, aber…
Gehen wir diesem „aber“ heute einmal auf den Grund.
Wiederverwertbarer, maschinell zu verarbeitender Content ist eine notwendige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung für digitale Geschäftsmodelle, für die Präsenz von Verlagsinhalten in der digitalen Wirklichkeit unserer Leserinnen und Leser und damit für eine starke Rolle der Verlage in der modernen Gesellschaft. Jedes Branchenmarketing wird wirkungslos verhallen, wenn wir uns dieser Realität nicht stellen.
Darüber herrscht in der Verlagsbranche weitestgehend Einigkeit. Auch darüber, dass sich Verlage zunehmend als Prozessorganisation verstehen müssen, um hinsichtlich Geschwindigkeit und Kosten am Informationsmarkt mithalten zu können, ohne die Qualität zu gefährden. Und es gibt auch ganz konkrete neue Anforderungen an Verlagsdaten: Ab 2025 werden die Vorschriften des European Accessibility Acts (EAA) hinsichtlich der Barrierefreiheit digitaler Publikationen verpflichtend.
Für all das ist XML eine wesentliche, wenn nicht gar eine notwendige Voraussetzung. Doch immer noch zögern viele Verlage, die erforderlichen Schritte zu gehen. Das „aber“ scheint oft noch größer als das „eigentlich“.
Die Mär von der Innovationsfeindlichkeit der Verlage
Dafür gibt es viele – und auch berechtigte – Gründe. Es pauschal auf die Innovationsfeindlichkeit unserer Branche zu schieben, wie es jahrelang gemacht wurde, wäre jedenfalls falsch. Es lohnt also, einen differenzierteren Blick auf Strategie, Technologie und Kosten zu werfen.
Viele der Verlage, die sich sehr früh für eine XML-basierte Satzproduktion entschieden haben, taten das primär aus Gründen der Kostenersparnis. Hier kam und kommt XML vor allem als Mittel zum Zweck zum Einsatz als optimale Voraussetzung für Automationsprozesse. Dabei gilt: Je einheitlicher die Produkte, umso größer das Einsparpotential.
Umgekehrt gilt aber auch: Je individueller die Typographie, je weniger der Satz regelbasiert erstellt werden kann, umso geringer ist der Einspareffekt durch XML. Nicht für jeden Verlag amortisiert sich also der Einsatz von XML durch geringere Satzkosten.
Mit dem Aufkommen digitaler Medien – zunächst CD-ROMs, später Webportale und schließlich E-Books – trat neben den Kostenaspekt ein weiteres, noch wichtigeres Argument für die Arbeit in XML: Die Inhalte mussten nun wiederverwertbar sein, und zwar automatisiert wiederverwertbar – auch in anderen Zusammenstellungen und medialen Ausprägungen. Es bedurfte also „medienneutraler“ Inhalte, und dafür ist XML das weltweit anerkannte technische Konzept.
Damit aber stieg der Anspruch an das zu Grunde liegende XML. Es ist aufwändiger, Verlagscontent medienneutral vorzuhalten, als lediglich eine Form zu wählen, die eine Satzautomation erlaubt. XML ist also nicht gleich XML – und ein Verlag, der (noch) keine digitalen Zweitverwertungen seiner Inhalte plant, wird den Wechsel auf dieses aufwändigere Procedere scheuen.
Weitere Lösungen, Impulse und Erfahrungsberichte lesen Sie im Channel Strategie & Transformation von buchreport und Channel-Partner Publisher Consultants.
Hier mehr…
XML und die digitale Realität
Heute nun leben wir in einer digitalen Informationsgesellschaft, in der wir umgeben von n-dimensionalen Wissensnetzen sind, in denen wir Medien aus beliebig feingranularen, verschlagworteten, semantisch vernetzten und individuell für uns zusammengesetzten und barrierefrei abrufbaren Informationseinheiten konsumieren können und wollen.
Die Diskrepanz zwischen der Datenqualität, die erforderlich ist, um Inhalte hierfür bereitzustellen, und der Datenqualität, die sich aus den „klassischen“ Verlagsabläufen ergibt, bei denen die Buchproduktion im Vordergrund steht oder das Buch gar das einzige geplante Produkt ist, könnte nicht größer sein. Der Wechsel auf eine XML-basierte Produktion wird damit für immer mehr Verlage eine strategische Entscheidung zur Zukunftssicherung.
Verlage müssen darauf achten, technologisch nicht den Anschluss zu verlieren, um auch in Zukunft von der Vermarktung kostenpflichtiger Inhalte leben zu können. Neben den Aspekten der Kosten und der technischen Wiederverwertung treten heute also neue Anforderungen an den optimalen Verlagsprozess: Die Verlagsinhalte müssen im Rahmen der Wertschöpfungskette mit mehr – und anderen – Informationen angereichert werden, als dies für die reine Print-Produktion erforderlich wäre. Das sind zum einen Querverweise, Schlagworte, Metadaten, Alternativtexte für Bilder (eine notwendige Bedingung für barrierefreie digitale Produkte) etc., zum anderen aber ggf. auch die Zerlegung der Inhalte in kleine, digital vermarktbare Einheiten.
Digitale Geschäftsmodelle können es auch erfordern, dass deutlich mehr Content in den digitalen Kanälen angeboten wird, als im gedruckten Buch enthalten ist. Die Folge daraus ist, dass der Satzprozess überhaupt nicht mehr als Korrekturphase für diese Inhalte in Frage kommt. All das sind keine technischen, sondern redaktionelle Arbeiten – es beginnt nun also die Einbindung der Lektorate und Redaktionen in die ansonsten eher technischen Abläufe. Darauf sind allerdings die klassischen Verlagsabläufe vom Manuskript zum gedruckten Buch nicht ausgelegt.
XML ist kein Allheilmittel für die Probleme unserer Branche. Vor allem gibt es nicht den einen XML-Prozess, der für alle Verlage gleichermaßen geeignet wäre.
Doch abermals gilt: Dieser sehr hohe Anspruch an den Verlagscontent ist nicht für jeden Verlag und für jedes Verlagsprogramm gleichermaßen relevant.
Es gab in der Vergangenheit viele Gründe, bei einer „konventionellen Buchproduktion“ zu bleiben. Wenn ein Verlag weder einen strategischen noch einen kostenseitigen Nutzen aus einer Produktionsumstellung auf XML ziehen kann, wird er den Schritt eines Umstiegs scheuen, selbst dann, wenn eine abstrakte Sinnhaftigkeit der Technologie unmittelbar einleuchtet. XML ist also kein Allheilmittel für die Probleme unserer Branche – und vor allem gibt es nicht den einen XML-Prozess, der für alle Verlage gleichermaßen geeignet wäre.
Es ist Zeit für XML im Verlag – wieder
Und doch ist es der richtige Zeitpunkt, die Situation neu zu beleuchten und frühere Entscheidungen „für uns ist XML nicht relevant“ zu überdenken.
Denn XML ist schon lange nichts Besonderes mehr, keine Spezialtechnologie für ausgewählte Verlagssparten. Im Gegenteil: Die XML-Produktion ist der neue Standard unserer Branche. Effizient, robust und vor allem zukunftssicher(nd). Die Technologie hat einen Reifegrad erreicht, der eine Neubewertung im Verlag fast zwingend erforderlich macht. XML ist die Grundlage für jede digitale Publikation, für reibungslose barrierefreie Produktion, für individuelle Zusammenstellung von Verlagscontent, für vollautomatische Satzprozesse über PrintCSS. XML ist die technische Grundlage für Verlagsmetadaten (ONIX), für digitales Lernen, für das gesamte Web.
Vor allem aber passen Buchproduktion und XML mittlerweile hervorragend zusammen. Das schließt die Konvertierung von Word nach XML genauso mit ein wie die Verarbeitung von XML-Daten in InDesign – in beiden Bereichen hat sich in den letzten Jahren extrem viel getan.
Die Branche unterscheidet dabei klassischerweise zwischen einem „XML-first“- und einem „XML-last-Workflow“. Dabei spricht man von XML last, wenn die XML-Daten aus den auskorrigierten und imprimierten Satzdaten erzeugt werden, also Teil einer Zweitverwertung der Satzdaten sind. „XML first“ fasst hingegen all die Prozesse zusammen, bei denen alle Medienformen – also auch das Buch – aus XML-Daten erzeugt werden. Hier werden die Verlagsinhalte vor Beginn der Satzarbeiten nach XML konvertiert – in der Regel aus Word – oder direkt in XML erfasst. Spätestens dann, wenn die Inhalte direkt in XML erfasst werden, kommen Redaktions- oder Content-Management-Systeme ins Spiel.
XML first vs. XML last: Für jeden Verlag den richtigen Prozess
Für beide Ansätze – XML first und XML last – gibt es gute Argumente und technologisch gute Lösungsansätze.
Das größte Argument für XML last ist es, dass die Verlagsabläufe bis zum Abschluss der Buchproduktion unverändert bleiben. Ein XML-last-Prozess bedeutet zunächst einmal nur, dass die Satzdaten nach Abschluss der Satzproduktion nach XML konvertiert werden.
Der wahrscheinlich wichtigste Vorteil einer XML-first-Produktion ist die höhere Prozess- und Datenqualität.
Dieser Vorteil ist allerdings auch gleichzeitig die größte Beschränkung von XML last. Zum einen gilt: Aus unstrukturierten Satzdaten lassen sich keine verwertbaren XML-Daten exportieren. Wer (teil)automatisiert aus Satzdaten XML erzeugen will, muss im Satz ebenso strukturiert arbeiten (zum Beispiel über systematisch angewandte Word-Formatvorlagen) wie bei XML first. Aus konsequent strukturierten Word-Daten ließen sich aber auch gleich XML-Daten erzeugen, sodass solche Daten auch für einen XML-first-Workflow geeignet wären. Daneben kann ein XML-last-Prozess natürlich nur die Inhalte abbilden, die in den Satzdaten enthalten sind. Metadaten, Zusatzinformationen, weitere redaktionelle Inhalte fehlen oder müssten mühevoll im Nachhinein in die Daten eingepflegt werden.
Der XML-first-Ansatz kehrt dieses Prinzip um. Dabei heißt XML first nicht automatisch, dass das XML ganz zu Beginn der Verlagsprozesse erzeugt werden müsste, wie die obenstehende Grafik zeigt. XML first heißt zunächst einmal nur, dass das XML vor Beginn der eigentlichen Medienproduktion entsteht, also auch der Satz aus den XML-Daten entsteht. Wie alles, so hat auch diese Arbeitsweise, die sich zunehmend in der Verlagsbranche durchsetzt, Vor- und Nachteile.
Der wahrscheinlich wichtigste Vorteil einer XML-first-Produktion ist die höhere Prozess- und Datenqualität. Durch die Möglichkeit der Einbeziehung von Redaktion und Lektorat lassen sich höherwertige, reichhaltigere Daten erstellen als dies durch die Konvertierung aus Satzdaten möglich wäre. Gleichzeitig lassen sich die Satzprozesse optimieren und automatisieren, bis hin zu einer vollautomatischen Produktion im Verlag (zum Beispiel über PrintCSS). Spätestens, wenn es im Verlag angedacht ist, auch digitale Produkte zu erstellen, die nicht nur eine Zweitverwertung aus einem gedruckten Werk darstellen, führt an einem „Content first“-Ansatz kein Weg vorbei.
Roundtripping, die große Unbekannte
Der größte Vorbehalt gegenüber einer XML-first-Produktion ist eigentlich gar kein Nachteil der Produktionsweise, sondern eine Konsequenz aus der gelebten Praxis: In aller Regel finden nämlich die Textkorrekturen an einem Werk noch während der Satzarbeiten statt. Auskorrigierte, imprimierte Inhalte liegen also erst mit Abschluss der Satzarbeiten vor. Die vor Beginn der Satzarbeiten erstellten XML-Daten sind damit wertlos – wenn sie nicht durch den Satz hindurchgeschleust und auskorrigiert wieder exportiert werden können. Dieser Prozess, den man auch als „Roundtripping“ bezeichnet, stand viele Jahre lang dem Einsatz von XML first im Wege, vor allem beim Einsatz von InDesign.
Mittlerweile gibt es ausgereifte Lösungen am Markt, die ein XML-Roundtripping sicherstellen. Erst damit werden XML-first-Prozesse für alle Verlage interessant. Vielen erscheint ein XML-first-Prozess wegen des erforderlichen Roundtrippings und der Veränderungen der Verlagsabläufe als zu mühsam. Und nicht für alle Verlage eignet sich ein XML-first-Prozess oder führt zu effizienten Workflows.
Doch meist ist es das „Eigentlich – aber“, das uns vor der Konsequenz neuer, zukunftsweisender Arbeitsweisen abhält.
Nadelöhr Buchproduktion?
Wenn wir in zehn Jahren auf unsere heutige Arbeitsweise zurückblicken: Wird es uns nicht antiquiert vorkommen, dass wir zunächst einen Print-Workflow durchlaufen und Daten in einem Satzsystem korrigieren mussten, um zu digital verwertbaren Inhalten zu kommen?
Und je größer der Anteil der digitalen Umsätze im Verlag wird, je höher also der Anspruch des Marktes an die Verlagsdaten wird, umso mehr drohen die traditionellen Abläufe einer Printproduktion zum „Flaschenhals“ einer Content-Strategie zu werden. Dieser Flaschenhals darf die wichtige Rolle der Verlage als professionelle Informationsanbieter im digitalen Zeitalter nicht gefährden.
Unsere Produkte mögen sich wandeln. Was sich nicht ändern darf, ist, dass wir Verlage für kuratierte, redaktionell gepflegte, fehlerfreie Inhalte stehen – egal in welchem Medium.
XML ist dafür die beste technische Grundlage. Darin sind sich die Mitglieder der Peergroup Produktion der IG Digital und alle Lösungsanbieter einig. Das Grundsatzpapier der Peer Group Produktion steht zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Kommentar hinterlassen zu "Die Buchbranche entdeckt ihren Content neu"