Die Schriftstellerin Judith Hermann erhält den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2023. Sie erhält den vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig gestifteten und mit 30.000 Euro dotierten Preis für ihr Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ (S. Fischer).
Die Begründung der Jury im Wortlaut: „Judith Hermanns ‚Wir hätten uns alles gesagt‘ verdichtet das literarische Schaffen eines Vierteljahrhunderts. Zugleich öffnet und verwandelt es das Werk der Schriftstellerin auf faszinierende und unvermutete Weise. Indem Hermann Intimstes preisgibt, um es im nächsten Moment ins Imaginäre kippen zu lassen – und umgekehrt –, lässt sie in ‚Wir hätten uns alles gesagt‘ einen atmosphärisch dichten Schwebezustand entstehen, ein beständiges Changieren zwischen Realität und Fiktion, zwischen Zeigen und Verbergen, das kaum mehr aufzulösen ist – und das auch nicht nach Auflösung verlangt. Dieses Gespinst aus Verweisen, Motiven und Allusionen ist nicht nur mit ihrer eigenen Familiengeschichte und deren Versehrungen verbunden, es eröffnet auch einen Raum für die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nicht zufällig lässt Judith Hermann ihr poetologisches Verfahren des Verschiebens und Übertragens ihren vermeintlich langjährigen Psychoanalytiker erklären: ‚Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.‘ Judith Hermann hat in ‚Wir hätten uns alles gesagt‘ weit mehr als Poetikvorlesungen geschrieben. Es sind Erzählungen über das Schweigen und Verschweigen-Müssen, über die Annäherung an das Unsagbare, das den Urgrund ihres Schreibens ausmacht – wenn nicht von Literatur und Kunst überhaupt. ‚Wir hätten uns alles gesagt‘ ist ein Buch, das beeindruckt durch die Vulnerabilität, die es offenbart, und das zugleich von großer Kraft ist: Denn das Vermögen von Judith Hermann besteht darin, das Nicht-Sagbare und die existenzielle Verunsicherung aufscheinen zu lassen, und ihnen im Erzählen eine sprachliche Form zu verleihen, die voller Anmut und von geradezu metaphysischem Trost ist.“
Die Jury des Wilhelm Raabe-Literaturpreises setzt sich in diesem Jahr zusammen aus Gerd Biegel (Präsident der Internationalen Raabe-Gesellschaft e.V.), Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Dominique Haensell (Literaturwissenschaftlerin und Autorin), Samuel Hamen (freier Literaturkritiker), Anja Hesse (Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Braunschweig), David Hugendick („Die Zeit“ und „Zeit online“), Michael Schmitt (3sat), Julia Schöll (Institut für Germanistik, TU Braunschweig) und Wiebke Porombka (Deutschlandfunk).
Oberbürgermeister Thorsten Kornblum und Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue überreichen Judith Hermann den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2023 am 5. November im Rahmen eines Matinee-Festaktes im Kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters.
Rückblick auf 2022:
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