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Sturm aufs Wasserglas

Brimborium oder Notwendigkeit? In der Debatte über die Inszenierung von Autorenlesungen erwidert Literatur-Professor Stephan Porombka das Plädoyer für „Wasserglaslesungen“ von Rainer Moritz. Und spricht sich dabei für die mediale Polygamie aus:

Der von mir als Autor und Literaturvermittler gleichermaßen verehrte Rainer Moritz hat eine spitze Bemerkung, die ich über langweilige Lesungsformate gemacht habe, aufgegriffen, um das Wasserglas für die Literatur zu retten.  Für das Fernsehen hat das vor einigen Jahren schon Harald Schmidt in seiner Late Night-Show getan. Mit großem Erfolg. Nach gelungenen Pointen genehmigte sich Schmidt einen Schluck aus seinem Glas und sprach dazu den großen Satz: „Ich sage JA zu deutschem Wasser“. Das Publikum hat diesen Satz bald laut mitgesprochen und damit signalisiert, dass es den mehr oder weniger geheimen Hintersinn der Geste verstehen konnte:  Sie gehörte in Schmidts Arsenal von Spitzen gegen die Programmmacher der öffentlich-rechtlichen Sender, die Fadheiten servieren und dabei  so tun, als gehöre das zu ihrem Auftrag, die deutsche Medienkultur vor den Zumutungen der Privaten zu retten.

Der andere Umgang mit Literatur

Rainer Moritz gibt nun der Schmidt’schen Geste den Ernst zurück. Grund dafür ist seine Befürchtung, ich „wollte der klassischsten literarischen Veranstaltungsform – der Wasserglaslesung – den Garaus machen“. Tatsächlich habe ich den Vorschlag gemacht, darüber n a c h z u d e n k e n, ob sich die Veranstalter von Lesungen nicht von einem reinen Literaturbegriff verabschieden sollten, um der lebendigen Dynamik der gegenwärtigen Medienkultur gerechter zu werden. In diesem Kontext ändert sich nämlich die Bedeutung von Literatur auf radikale Weise. Zugleich ändert sich der Umgang mit Literatur. Die Studien, die wir fast monatlich über die Veränderungen des Medienkonsums lesen können, geben uns dafür deutliche Signale. Sie bestätigen letztlich nur das, was wir sehen können, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen und dabei nicht zuletzt uns selbst beobachten.

Natürlich – Rainer Moritz und ich, wir lieben die Literatur und halten das Lesen und das Vorlesen literarischer Texte für etwas, auf das unsere Kultur nicht verzichten kann. Aber Hand aufs Herz, lieber Rainer Moritz: Auch wir lieben längst nicht mehr so, wie es die getan haben, die man einst zu der soziologischen Fiktion des Bildungsbürgertums zusammengezählt hat. Wir lieben anders: lebendiger, produktiver, schneller, vielleicht auch flüchtiger, auf jeden Fall medial polygamer. Sigmund Freud hat im Hinblick auf die sexuelle Konstitution von Säuglingen davon gesprochen, sie sei „polymorph pervers“. Eigentlich ist das doch eine schöne Formel, mit der auch wir Literaturliebhaber unseren gegenwärtigen Medienkonsum beschreiben könnten.

Lesungen im Speckgürtel

Nun muss man allerdings dazu sagen, dass ich meine Vorschläge samt spitzer Bemerkung im Zusammenhang mit einer Studie über die gegenwärtige Literaturvermittlung in den fünf einstmals neuen Bundesländern gemacht habe. Sie bezog sich also erst einmal gar nicht auf den Hamburger literarischen Speckgürtel, in dem Rainer Moritz mit großem Erfolg ein Literaturhaus leitet. Bezogen war sie vielmehr auf die Situation vieler Literaturvermittler in Sachsen-Anhalt oder in Thüringen, die mit ganz anderen kulturellen und politischen Rahmenbedingungen zurechtkommen müssen und die – so lautet das Ergebnis der Studie – deshalb über neue Konzepte der Literaturvermittlung nachdenken sollten. Wenn Rainer Moritz feststellt, „dass es ein wachsendes Bedürfnis gibt, spartanisch anmutende Wasserglaslesungen zu besuchen“, dann mag das für das Hamburger Literaturhaus und einige andere Häuser gut gelten. Für den ganzen Rest der Republik gilt es nicht.

Die produktive Hochform der Literatur

Doch lässt sich das, was ich über die Wasserglaslesung als Format gesagt habe, mit dem ein recht alter Literaturbegriff am Leben gehalten wird und mit dem man heute vor allem jüngere Generationen kaum zum Lesen animieren kann, gut und gerne allgemeiner fassen.

Grundsätzlich gilt erstens: Die Überzeugung, dass der literarische Text im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen muss, dass man sich auf ihn und den Autor konzentrieren und sich in das Gelesene versenken muss, ist keine überzeitliche oder allgemeingültige Wahrheit. Sie hat ihren historischen Index. Die Überzeugung ist ein Effekt der Schwierigkeit, die das Lesen von Schrift und der Umgang mit dem Buch mit sich bringen. In einer Kultur, in der die Schrift aufhört, Leitmedium zu sein, lassen sich für diese Überzeugung folglich nicht mehr so viele Anhänger gewinnen.

Grundsätzlich gilt zweitens: Die Schrift, das Buch, die Literatur – sie sind im Zuge dieser nunmehr schon seit 150 Jahren andauernden Veränderung einem ganz besonderen Druck ausgesetzt. An ihnen wird gerüttelt, sie werden durchgeschüttelt, sie fallen von einer Krise in die andere. Und doch ist insbesondere die Literatur gerade in der Medienkonkurrenz immer wieder zu produktiver Hochform aufgelaufen. Und das insbesondere immer dann, wenn sie sich darauf eingelassen hat, ihre eigene Situation zu reflektieren und mit den immer neuen Gegebenheiten und Möglichkeiten zu experimentieren.

Auf der Höhe der Zeit bleiben

Will die Literatur – und will die Literaturvermittlung – auf Höhe ihrer Zeit bleiben und die Gegenwart kritisch reflektieren, bleibt ihr wohl kaum etwas anderes übrig, als sich der Gegenwart zu öffnen, sie anzusaugen, sie aufzusaugen und mit ihr zu experimentieren, um sich immer wieder neu auszuprobieren. Oder aber sie zieht sich auf das zurück, was nur sie selbst und kein anderes Medium kann. Dann wird sie zu dem, was man Literatur-Literatur nennen kann. Sie beschwört ihre eigene Welt und ihre ganz eigenen Erfahrungsmöglichkeiten. Das tut sie freilich mit der Gefahr, sich auf eine Nische zu beschränken, in der zunehmend so etwas wie eine Privat-Religion gepflegt wird. Das ist zulässig. Vielleicht ist es auch wünschenswert. Nur sollte man dann nicht mehr einfach dem Wunsch nachgeben, den eigenen Nischen-Glauben als allgemeinmenschliche Pflichtübung auszugeben und alle, die dem nicht folgen mögen, als event-versessene Heiden zu verteufeln.

Polygamie! Polytheismus! Polymorph pervers!

Ob man sich nun als Autor und als Literaturvermittler auf die jeweiligen Gemengelagen der Gegenwart offensiv einlässt oder ob man eher zur Ausübung einer Privat-Religion neigt – beides öffnet Möglichkeiten und beides produziert seine ganz eigenen Probleme. Deshalb ist es gar nicht zulässig, von einem Entweder-Oder zu sprechen. Genau deshalb würde ich auch nicht dafür plädieren, der Wasserglaslesung „den Garaus zu machen“. Schon gar nicht würde ich Autoren vorschreiben wollen, was und wie sie zu schreiben und zu lesen haben. Eine der großen Errungenschaften unserer Zeit ist – neben der Lizenz zur medialen Polygamie – die Möglichkeit, jederzeit zwischen unterschiedlichen Kultur- und Literaturreligionen zu wechseln. Wenn man will, kann man sie sogar zur gleichen Zeit ausüben.

Institutionen der Literaturvermittlung dürfen deshalb auch wie protestantische Kirchenhäuser organisiert werden, in denen den Bedürftigen spartanisch anmutende Wasserglaslesungen geboten werden. Man muss es nur gut machen. Dabei sollte man dann allerdings vermeiden, Autoren, Texte und Flaschen so in Szene zu setzen, dass ihre Wirkung im leeren Raum verpufft und man als Besucher für eine Stunde jeden Glauben daran verliert, dass Literatur Kulturrelevanz erzeigen könnte. Wer über einen längeren Zeitraum regelmäßig Lesungen besucht, der kann ein Lied davon singen, wie viel peinliches Elend es bei solchen Veranstaltungen zu sehen und zu hören gibt und mit welch falscher Selbstwahrnehmung es obendrein als „einmalige Erfahrung“ ausgegeben wird.

Was man sich aber eigentlich wünschen darf, das sind Häuser oder Festivals, in denen alle literarischen Kulte vorgestellt werden, die gegenwärtig die Literatur bestimmen. Das sind dann Häuser oder Festivals, in denen vielleicht alles ein wenig lebendiger, produktiver, schneller, vielleicht auch flüchtiger, auf jeden Fall medial polygamer ausgerichtet ist. Es sind Orte, an denen es auch immer wieder Wasserglaslesungen gibt. Aber die sind inmitten der Aktivierung der polymorphen Perversionen der Literatur  eben das, was sie sie in Wirklichkeit sind: nur eine Perversion unter vielen.

Zur Person: Stephan Porombka

1967 geboren, ist Professor für Kulturjournalismus und Literatur. Er leitet gemeinsam mit Hanns-Josef Ortheil den Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ an der Universität Hildesheim. Zuletzt erschienen u.a. „Kritiken schreiben. Ein Trainigsbuch“ (UvK) und „55 Klassiker des Kulturjournalismus“ (Bostelmann).

Verlauf der Debatte:

Stephan Porombkas erster Text

Kritik von Rainer Moritz

Weitere Kommentare von Benedikt Geulen und Jan Böttcher

Kommentare

1 Kommentar zu "Sturm aufs Wasserglas"

  1. Hoffmann - Reicker | 30. November 2017 um 0:05 | Antworten

    Autorenlesungen erscheinen mir nicht als Bewegungen im Wasserglas. Sie sind nicht tot. Es finden sich interessanterweise stets Leser, die zu solch einer Veranstaltung kommen. Egal, wie kritisch man Literatur betrachtet – am Interesse für Lesungen besteht hierzulande kein Zweifel. Das Leser zusammenkommen, um sich aus einem Buch vorlesen zu lassen, daß sie zu Hause bequemer lesen können, ist leider ein wenig untersuchtes Phänomen, der verabschiedeten bürgerlichen Kultur. Es geht um das Hinterfragen.
    Egal, wie kritisch es um Literatur bestellt sein mag – an der Popularität von Lesungen besteht hierzulande z.Z. noch kein Zweifel.
    Lesungen sind wohl auch Inszenierungen der Arbeit eines Autors, die mit größter Sorgfalt vorbereitet werden müssen, um Antworten auf unausgesprochene Fragen der Besucher zu geben.

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