Unter den europäischen Verlagsmanagern gibt es wenige, die sich so intensiv mit dem Wandel der Buchverlage im Zuge der Digitalisierung beschäftigen wie Marcello Vena. Der Digital-Chef bei RCS Libri glaubt, dass digitale Replikate gedruckter Bücher die Branche nicht voranbringen. Im Interview zeigt Vena, wo der zweitgrößte Buchverlag Italiens (nach Mondadori) derzeit viel experimentiert.
Beim Trendtag in der Akademie des Deutschen Buchhandels hat Vena Anfang November sein Bild von Buchverlagen und ihren Herausforderungen skizziert:
- Buchverlage seien nicht primär Hersteller und Verkäufer von Produkten, sondern Full-Service-Dienstleister.
- Es werde immer Autoren und Leser geben, die entscheidende Frage sei, wer diese künftig zusammenführen werde.
- Die digitalen Verlagsaktivitäten hätten sich bislang meist hauptsächlich darauf fokussiert, digitale Replikate gedruckter Bücher zu erstellen – nach dem traditionellen Ansatz, dass es das Beste sei, das gewohnte Geschäftsmodell mit neuen Methoden zu replizieren.
- Auf diesem Wege seien aber nur „inkrementelle Innovationen“ möglich, die nur mittelfristig Bestand hätten. Das eigentliche Ziel müsse es sein, radikale Innovationen zu suchen.
- Bei RCS Libri gehe man davon aus, dass E-Books nicht nur digitale Produkte seien, sondern „Ermöglicher neuer Services und Geschäftsmodelle“ („key enablers of brand-new services and business models“).
- Zwei der radikalen Innovationen von RCS Libri seien das Projekt „Ebooksaboard“, bei dem Nutzern italienischer Schnellzüge E-Books angeboten werden (hier mehr) und der Autorenwettbewerb „YouCrime“ (hier mehr).
Kaum ein Verlag experimentiert so viel wie RCS Libri, z.B. mit E-Book-First-Modellen, Genre-Imprints, dem Verzicht auf DRM. Was haben Sie bislang aus den Experimenten gelernt?
Marcello Vena: Ich habe erkannt, dass der beste Weg des Lernens darin besteht, etwas einfach zu machen. Hinzu kommt, dass viele dieser Projekte nur funktionieren, wenn man sie schon beim ersten Mal vernünftig umsetzt – erst dann kann man sehen, ob die Idee gut oder schlecht ist.
Ist es schwierig, auf dem italienischen Markt zu testen, weil das E-Book dort noch nicht so etabliert ist wie in den USA?
Es ist vielleicht schwieriger, weil wir nicht die großen Absätze haben. Aber wenn man etwas länger testet, erhält man genug Daten für verlässliche Aussagen. Im Moment haben wir den Vorteil, dass unser Online-Markt für Print-Bücher noch sehr klein ist. Das E-Book ist also auf dem Online-Markt sehr präsent und mit fast 30% Anteil auch sehr relevant. Dass der Online-Markt für Bücher generell eher klein ist, mag daran liegen, dass Amazon erst vor drei Jahren bei uns angekommen ist. Das ist noch nicht eine so starke Marke wie in den USA oder in Deutschland.
Ist Amazon Markführer?
Amazon ist nah daran, Marktführer zu werden.
Kobo scheint in Italien sehr aktiv zu sein.
Kobo macht das sehr gut. Es ist ein cleverer Schachzug, Partnerschaften mit den Einzelhändlern einzugehen. Seit vergangenem Jahr verkaufen sie ihr Gerät in der zweitgrößten Buchhandelskette Italiens, Mondadori, jetzt stehen sie im Dialog mit der größten Kette, Feltrinelli. Kobo hat damit gute Chancen, Amazon am E-Book-Markt einzuholen.
Eines der jüngsten Experimente von Ihnen ist der Autorenwettbewerb You Crime. Wie war das Debüt?
Wir waren von den Ergebnissen beeindruckt, unsere Erwartungen wurden massiv übertroffen. Alle Titel, die an diesem Wettbewerb teilgenommen haben, haben es in die Top-50 der E-Book-Bestsellerlisten geschafft, teilweise haben sie sich in den Kindle-Charts ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Dan Browns „Inferno“ geliefert. Wir waren nicht nur in Bezug auf Verkaufszahlen sehr zufrieden, auch im Hinblick auf das Ziel, neuen Autoren die Möglichkeit zu geben, im großen Spiel mitzumachen und zu lernen, was „veröffentlichen“ bedeutet – der Roman-Erstling des Gewinners Gabriele Santoni wird 2014 erscheinen. Und für uns als Verlag war es eine wunderbare Möglichkeit, zu lernen, wie die Leser auf solche Aktivitäten reagieren.
Sie haben den Ansatz von „YouCrime“ Co-Publishing genannt. Was bedeutet das?
Co-Publishing ist eine Alternative zu den beiden Varianten, die wir zur Zeit kennen: Zum einen gibt es den traditionellen Ansatz, bei dem der Verlag entscheidet, in welchen Schriftsteller er investiert, er trägt dann das Risiko und erhält Teile der Einkünfte. Zum anderen gibt es Autoren, die von den großen Verlagen abgelehnt werden. Denen bleibt die Möglichkeit des Selfpublishing. Es gibt zwar wenige Autoren, die dabei erfolgreich sind und Selfpublisher bleiben möchten, aber der Großteil der selbstverlegenden Autoren geht diesen Weg, weil es keinen anderen für sie gibt. Co-Publishing ist der Versuch, die besten noch unbekannten Autoren zu entdecken und einen ökonomisch sinnvollen und effizienten Weg für uns zu finden, sodass wir bis zu einem bestimmten Level in den Autor investieren können. Für die Autoren ist das eine deutlich bessere Lösung als Selfpublishing, denn sie erhalten unsere Unterstützung wie Coaching und Lektorat und müssen sich nur um den letzten Teil kümmern, das Selbst-Promoten.
In Deutschland hat ein Verleger ein ähnliches Konzept als „Publishing light“ bezeichnet. Trifft diese Bezeichnung?
Das passt vielleicht, wenn der Einsatz des Verlags geringer ausfällt. Bei uns ist das nicht der Fall. Wir gehen mit ins Risiko, investieren in unbekannte Autoren. Im Gegenzug müssen die Autoren aber ihren Job erledigen und ebenfalls Marketing in eigener Sache betreiben. Insofern passt Co-Publishing besser.
Bei E-Book-Verlagen gibt es den Trend, dass die Vorschüsse im Vergleich zu klassischen Verträgen reduziert und dagegen die Erfolgsbeteiligung erhöht wird. Ist das zielführend?
Ja, ganz sicher. Wenn man in absolut unbekannte Autoren investiert, kann man nichts im Voraus zahlen. Der Deal ist also, dass am Ende die Gewinne geteilt werden. Das ist ein fairer Deal, man muss bedenken, dass wir da sehr viel Arbeit reinstecken, wir arbeiten z.B. mit der größten italienischen Zeitung zusammen, um die Autoren bekannt zu machen. Dieses Modell passt auch zum Co-Publishing: Wenn die Autoren sich um nichts kümmern, dann springt auch für sie nicht viel heraus. Wenn man einen neuen Autor hat, der sich nicht um seine Zukunft schert, kann man auch bei den alten Autoren bleiben, aber die hören früher oder später auf zu schreiben. Wir müssen also stets in neue Autoren investieren. Und der traditionelle Weg ist einfach zu teuer.
Was sagen die Autoren zu diesem Modell?
Die neuen Autoren sind alle sehr zufrieden. Selbst wenn diese am Ende nicht die großen Verkaufszahlen haben sollten, so konnten sie sich für kurze Zeit einen Traum verwirklichen – mit einer Veröffentlichung bei Rizzoli haben sie schon mal viel erreicht.
Sie sammeln derzeit Erfahrungen auf dem englischen Markt, für den Sie Ihre Titel übersetzen lassen. Wie lautet die Zwischenbilanz?
Wir haben jetzt über 4000 E-Books in italienischer Sprache verfügbar, im kommenden Jahr wird das Programm auf 6000 Titel wachsen. In englischer Sprache sind es aktuell rund ein Dutzend. Der englischsprachige Markt ist sehr interessant, weil er viel größer ist als der italienische. Als Verleger ist es also nur logisch dahinzugehen. Allerdings ist der Markt auch sehr weit entwickelt, und das Angebot ist gewaltig groß. Unter Millionen von Titeln muss man sein eigenes Angebot erst einmal platziert bekommen. Man fängt dort wie ein Selfpublisher an, man ist ein Niemand. Es ist zwingend, Partner zu finden, die das Marketing vor Ort machen können und Dir in Fragen der Qualität von Inhalten und Autoren voll und ganz vertrauen, sodass man gemeinsam eine Marke aufbauen kann.
Die Fragen stellte Daniel Lenz
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