Vor zehn Jahren sorgten Malcom Gladwells und Chris Andersons Theorie vom Long Tail (hier mehr) für Aufsehen. These: Die vielen vermeintlichen Nischenprodukte sorgen für mehr Umsatz als die wenigen Bestseller. Marcello Vena, Digitalchef bei der italienischen Verlagsgruppe RCS Libri, meldet massive Zweifel an.
In einem White Paper (hier zu beziehen) will Vena den „Mythos des Long Tails“ entlarven. Die Theorie besagt, dass besonders beim Musik- und Bücherverkauf selten verkaufte Titel auf den herkömmlichen Vertriebsschienen zu hohe Kosten verursachen. Gerade aber durch die Möglichkeiten des Internets könnten Nischenprodukte für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens sehr wichtig sein.
Nach Einschätzung von Vena funktioniert dieses Prinzip womöglich bei industriell gefertigten Waren, nicht aber bei kreativen Inhalten. Dies will Vena an den Beispielen Musik und E-Book belegen.
Musik: 1,1% der Stücke sorgen für 86% des Absatzes
Für den Musikmarkt verweist Vena auf eine Arbeit von Anita Elberse von der Harvard Business School („Blockbusters: Hit Making, Risk-taking, and the big business of entertainment”, Henry Holt & Co., Oktober 2013), die Nielsen-Zahlen zum US-Musikmarkt untersucht habe, und zwar die Zusammensetzung der 8 Mio Musik-Stücke, die 2011 digital verkauft wurden. Ergebnis:
- 1,1% aller Stücke hätten 86% des Absatzes eingebracht.
- Die Zahl der Stücke, die null Umsatz gebracht häten, sei über die Jahre kontinuierlich (bis auf 32% im Jahr 2011) gestiegen.
Venas Fazit: „Der Long Tail der Musikstücke wird zum Lost Tail auf dem Markt“.
E-Book: Der Kopf wächst schneller
Zu einer ähnlichen Erkenntnis kommt Vena für den Buchmarkt, zumindest nach der Analyse der eigenen Zahlen von RCS Libri:
- Vena untersucht jeweils, wie viel Prozent der Titel in den einzelnen Jahren 80% des Absatzes ausgemacht hätten. Dieser Anteil sei seit 2011 von 23% auf 15% gesunken.
- Während das eigene E-Book-Geschäft stark zugelegt habe, hätten die Bestseller einen immer größeren Stellenwert erlangt. „Der Kopf ist schneller gewachsen als der Schwanz, obwohl die Anzahl der Schwanz-Titel dramatisch gestiegen ist (drei bis vierfach).“
Diese verstärkte Fokussierung aufs Bestsellergeschäft führt Vena neben der mangelnden Nachfrage nach Nischentiteln u.a. auf die Konzentration auf der Vertriebsseite zurück: Je größer die Marktmacht weniger Anbieter wie Amazon, desto kleiner die Chance für Nischentitel, sich abzuheben. „Wir sind immer noch im Blockbuster-Geschäft, stärker als je zuvor.“
Eine Erklärung ist, dass der Long Tail bei den Piraten landet, also dort, wo der bei weitem größte Teil des Ebook-„Markts“ stattfindet. Mag ja sein, dass Verlage sich immer nur auf die aktuellen Titel konzentrieren können/wollen, aber das muss für Leser bzw. Hörer keinesfalls gelten. Wie man ja auch leicht feststellen kann, wenn man sich mal die (mitunter sogar sechsstelligen) Downloadzahlen auf den Seiten anschaut, die welche angeben.
Prima, dann soll er mit das Long Tail überlassen. Kann ich auch mit Leben. Pssst!