buchreport

Die größte Gefahr: dass die Leute aufhören zu lesen

Spätestens mit dem Einstieg von Amazon ins E-Book-Abo-Geschäft („Kindle Unlimited“) ist die Luft für die etablierten Akteure dünner geworden. Zu den Marktführern in den USA zählt Scribd, der mit Harper Collins und Simon & Schuster bereits zwei Konzernverlage an Bord hat. Im Interview erklärt Inhalte-Chef Andrew Weinstein, wie sich Scribd gegenüber Amazon behaupten will, warum sein Geschäftsmodell nachhaltig ist – und weshalb grundsätzlich kein Weg an Flatrate-Modellen vorbei führt.


Mehr zum Thema im Dossier von buchreport.de und einem Webinar, dessen  Video hier bezogen werden kann.


Amazon ist gerade groß ins Geschäft mit E-Book-Abos eingestiegen. Die großen Verlage HarperCollins und Simon & Schuster haben einen Teil ihres Katalogs bei anderen Abo-Anbietern reingestellt. Ist dieses Jahr der Wendepunkt für Abomodelle?
Andrew Weinstein: Das hoffen wir natürlich. Die zwölf Monate nach unserem Start waren großartig, und wir beobachten weiterhin einen stattlichen Zuwachs an Abonnenten und ein großes Wachstum bei den Leseaktivitäten. Außerdem werden unsere Mobil-Angebote ganz hervorragend angenommen. Und mit der wachsenden Zahl der Abos steigt das Interesse der Verlage. Wir hatten schon einen guten Katalog mit über 10.000 Titeln von Harper Collins zum Start, später folgten Simon & Schuster, John Wiley, Lonely Planet und einige University-Press-Verlage.
Eine Studie von Codex kam zu einem anderen Ergebnis: Demnach haben alle Abo-Anbieter bis auf Amazon im 1. Halbjahr 2014 auf dem US-Buchmarkt Kunden verloren haben. 
Unser Abonnenten-Stamm wächst. Natürlich haben manche Kunden gekündigt, aber die Gesamtzahl der Kunden ist im vergangenen Jahr gewachsen. Insofern kann ich dies Ergebnisse der Studie nicht nachvollziehen. Gleichwohl müssen auch wir an der Kundenbindung arbeiten. Wir investieren in Inhalte, um die Abonnenten als solche zu behalten. Denn der Hauptgrund, warum ein Abo gekündigt wird, liegt darin, dass Kunden die gesuchten Titel nicht finden. Wir haben schon eine große Bandbreite, aber ohne Penguin Random House, Hachette und Macmillan fehlen natürlich viele Bestseller.
Im vergangenen Jahr stammte der meistgelesene Scribd-Titel aus der Backlist. Wie stark ist diese Präferenz der Kunden, ältere Titel zu lesen?
Manche Verlage stellen zwar ihren gesamten Katalog zur Verfügung, einige Independent-Verlage zum Beispiel. Aber von HarperCollins oder Simon & Schuster haben wir überhaupt keine Neuveröffentlichungen. Es ist daher wenig überraschend, dass deren Titel unsere Am-meisten-gelesen-Listen dominieren. Wir strukturieren unsere Empfehlungen oder Algorithmen nicht anhand des Veröffentlichungsdatums, wir orientieren uns stattdessen an den Leseinteressen unserer Nutzer und daran, was unsere Lektoren oder unser System für großartige Bücher hält. Insofern spüren wir keinen Druck, immer den neusten Titel von beispielsweise Stephen King pushen zu müssen – wir haben Stephen King, aber nicht sein neuestes Werk. 
Also verbessern die Flatrate-Abieter die Discoverability bei älteren Titeln? 
Ja, wir sehen bei uns ein ganz anderes Lese- und Stöberverhalten. Wenn man sich beispielsweise die Kommentare in Romance-Blogs anschaut, dann findet man dort Leser, die es kaum erwarten können, endlich diesen oder jenen Harlequin-Autor endlich wieder zu lesen zu können. Das würde nie passieren, wenn sie die Bücher einzeln kaufen müssten. Auf diesem Weg wird die Backlist wiederentdeckt. 
Was wird sich durch den Start von Amazons Kindle Unlimited verändern?
Für uns gar nichts. Wir müssen weiterhin versuchen, das bestmögliche Produkt anzubieten: ein großartiges Leseerlebnis mit vielen guten Inhalten. Und wir müssen den Lesern weiter Gründe liefern, Scribd-Abonnenten zu werden und zu bleiben. Je breiter Amazon sein Angebot international aufzieht, desto mehr Aufmerksamkeit bekommen Abo-Modelle in diesen Ländern insgesamt – in allen Ländern, in denen Amazon Kindle Unlimited gestartet hat, sind wir mit Scribd bereits vertreten. Unser Vorteil könnte sein, dass wir unsere Kunden besser mit lokalisierten Inhalten  bedienen können. Wir haben zwar bislang hauptsächlich einen englischsprachigen Katalog, aber wir legen einen Schwerpunkt darauf, unser Angebot in lokalen Sprachen auszubauen.
In der Internet-Wirtschaft gibt es eine stark ausgeprägte Tendenz zum Monopol. Bei Abo-Modellen dürften am Ende nur ein oder zwei Anbieter überleben.
Und wir hoffen, einer davon zu sein (lacht). Amazon zählt auch nur als einer, zumindest, als ich das letzte Mal gezählt habe. Amazon wird auch in diesem Bereich an Macht gewinnen, aber Abo-Anbieter wie Scribd oder Oyster, die zuerst mit diesem Modell auf den Markt gegangen sind und sich dort eine Führungsposition erarbeitet haben, haben nichts zu verlieren – sie haben beispielsweise kein stationäres Geschäft, das wegbrechen könnte. Dementsprechend können wir dort sehr aggressiv investieren und das Geschäft mit einem singulären Fokus verfolgen, sodass Amazon Probleme bekommen wird.
Wie sehen Sie den Wettbewerb mit Oyster in den USA?
Oyster hat eine tolle App. Sie hatten einen guten Start und bleiben uns auf den Fersen. Oyster bringt uns dazu, unsere Innovationen – sowohl auf der Produkt- wie auch auf der Inhaltsseite – stetig voranzutreiben. Aber in diesem frühen Stadium, in dem das ganze Abo-Modell-System sich befindet, wird nicht ein Unternehmen den Markt übernehmen. Je mehr Anbieter es gibt, die ihren Platz auf dem Markt behaupten, desto besser ist es im Endeffekt für alle.
Charlie Redmayne, CEO von HarperCollins UK, hat auf einer buchreport-Konferenz im Mai erklärt, dass sein Verlag in den USA bereits nach wenigen Monaten mit Scribd 2% seiner E-Book-Einnahmen erzielt – mehr als mit dem Google-Shop. Geben Sie uns weitere Zahlen?
Nein (lacht), Was ich aber sagen kann, ist, dass sich unsere Ausschüttungen an die Verlage mehr als verzehnfacht haben, seit wir an den Start gegangen sind. Darauf achten wir sehr genau: Wenn unser Service wächst, müssen auch die Zahlungen an die Verlage steigen. Das ganze Modell ist ja eine Art Ausgleich: Wenn wir die Verlage in einem Maße bezahlen, das ihnen nicht fair vorkommt, verlieren wir den Zugang zu ihren Inhalten und damit Abonnenten. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass die Abonnenten nicht zu viel lesen. Dann müssten wir noch mal einen Blick auf das Geschäftsmodell werfen und gegebenenfalls die Preise für das Abo erhöhen. 
Ist dies realistisch?
Bislang mussten wir es noch nicht. Unser Ziel ist auch, so lange wie möglich global einen bestimmten Preis aufrecht zu erhalten.. Solange wir „faule“ Leser haben, die die besonders aktiven Leser ausgleichen, ist alles in Ordnung.
Es gibt Kritiker, die sagen, das Modell sei nicht nachhaltig. Sobald Ihr Kunde zwei Bücher lese, zahlten Sie drauf.
Es geht nicht um die Anzahl der Bücher, sondern um die Preise der Bücher, die gelesen werden. Wir haben Titel zwischen 99 Cent und 99 Dollar im Angebot. Wenn jemand zwei 99-Cent-Bücher liest, ist das für uns sehr gut. Und wir haben auch Kunden, die lesen überhaupt nichts. Daneben gibt es aber einen sehr kleinen Teil an Kunden, für die werden Zahlungen an den Verlag von 50 bis 60 Dollar pro Monat fällig – auch wenn wir von diesen Kunden nur 8,99 Dollar bekommen. Das ganze Geschäft ist sehr von der Nutzung abhängig. Bislang geht diese Rechnung für uns aber gut auf.
Planen Sie einen Premium-Service?
Wir werden in der nächsten Zeit ein paar Dinge verkünden, aus denen sich auch die Möglichkeit eines solchen Angebots ergibt, aber im Moment müssen wir erstmal eine kritische Masse erreichen. Wir bieten dem Konsumenten ein überwältigendes Angebot an, um den Verlagen zu zeigen, dass es Kunden gibt, die bereit sind, für den Zugang zu Büchern monatlich einen bestimmten Betrag zu zahlen, und gleichzeitig wollen wir den Verlagen eine faire Kompensation bieten. In unseren Augen liegt die größte Gefahr für den Buchmarkt nicht darin, dass die Leute kein Abo abschließen, sondern darin, dass die Leute aufhören zu lesen. Es gibt so viel Umsonst-Angebote im Internet, wie Facebook oder Instagramm, und außerdem Abomodelle von der Musik- und Filmindustrie. Wenn wir kein Äquivalent für den Buchmarkt anbieten, besteht die Gefahr, dass die Leser keine Lust haben, jedes Buch einzeln zu erwerben und sich stattdessen lieber Facebook oder LinkedIn widmen. Dann verlieren alle: die Händler, wir und die Verlage.
Einige Abo-Anbieter kommen mit so genannten Freemium-Modellen auf den Markt, wie Blloon (Txtr-Spinoff) oder Readfy in Deutschland. Was halten sie davon?
Bei Scribd gibt es einen kostenlosen 30-Tage-Test, das ist unser „Freemium“. Eines der Themen, das wir von Anfang an mit den Verlagen besprechen mussten, ist die befürchtete Entwertung ihrer Inhalte. Wenn Verlage bei einem 8,99-Dollar-Modell schon beunruhigt waren, werden sie es bei einem Freemium-Modell erst recht sein. Aber es ist gut, dass viel experimentiert wird, und alles, was die Leute zum Lesen bringt, ist im Endeffekt eine gute Sache. Ob sich die Geschäftsmodelle dann tragen, wird sich zeigen.
Was sagen Sie Verlagen konkret, die Angst haben, dass ihre Inhalte entwertet werden?
Verlage unternehmen selbst alles Mögliche, um den Wert ihrer Bücher zu senken, man denke an die „Kindle Daily Deals“ oder das Verschenken der ersten Teile einer Serie. Andererseits betonen wir gegenüber den Verlagen, dass wir dafür sorgen, dass mehr gelesen wird, dass wir ihnen neue, zusätzliche Leser bescheren und dass die Leute nicht aufhören, Bücher zu kaufen. Wir sind in einer Studie zu der Erkenntnis gekommen, dass die Leute Scribd nutzen und weiterhin E-Books und Hardcover kaufen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Zum Beispiel steht der jeweilige Titel auf Scribd nicht zur Verfügung, oder jemand möchte den Titel lieber als Printprodukt lesen. 
Der Scribd-CEO hat im Frühjahr erklärt, dass Scribd ein 1-Mrd-Dollar-Unternehmen werden könnte, falls alle großen Verlage mitmachen. Sind Sie auch so optimistisch?
Abo-Modelle werden sich als sehr überzeugendes Geschäftsmodell und starker Verkaufskanal für Verlage etablieren, und ich hoffe, dass Scribd dann 1 Mrd Dollar wert wird. Was war Print-on-Demand vor 15 Jahren? – Heute ist die Technologie Mainstream. Ich denke, dass Abo-Anbieter einen ähnlichen Weg gehen werden.

Die Fragen stellte Daniel Lenz, Übersetzung: Torge Frühschulz

Kommentare

Kommentar hinterlassen zu "Die größte Gefahr: dass die Leute aufhören zu lesen"

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihre Daten elektronisch gespeichert werden. Diese Einverständniserklärung können Sie jederzeit gegenüber der Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien-GmbH & Co. KG widerrufen. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutz-Richtlinien

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*

Themen-Kanäle

SPIEGEL-Bestseller

1
Fitzek, Sebastian
Droemer
2
Neuhaus, Nele
Ullstein
3
Garmus, Bonnie
Piper
4
Schlink, Bernhard
Diogenes
5
Follett, Ken
Lübbe
27.12.2023
Komplette Bestsellerliste Weitere Bestsellerlisten

Veranstaltungen

Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.

größte Buchhandlungen