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Harry Potter wichtiger als Goethe

Diese Tagung war anders. Auf allen Ebenen. Von den Teilnehmern, den Beiträgen, den Themen und den abendlichen Gesprächen in den Salons. Man konnte die Veränderung förmlich mit Händen greifen.

Krisenstimmung? Ja, durchaus. Doch scheinen wir nach langen Phasen des Leugnens, der Wut über die Auswirkungen der Digitalisierung, dem Verhandeln (mit den Ärzten des Volkskörpers, der Politik) und der Depression endlich bei der Akzeptanz des Unausweichlichen angelangt.

 

 

Gleichzeitig beginnt sich etwas zu formieren: Gestaltungswillen. Politisches Bewusstsein. Vor allem aber: ein politischer Gestaltungswille jenseits der ästhetischen Pose.

Und das obwohl oder gerade wegen der ernüchternden Tagungsbefunde. Denn die alten Instanzen der Literaturvermittlung tragen nicht mehr. Der öffentliche Diskurs bedient sich neuer Mittel und Wege. Die Literatur hat [zumindest in ihrer herkömmlichen Gestalt] ihre Macht verloren (Disputatio, Aufschlag Oliver Jungen) – und doch lebt die Literatur (Disputatio, Return Stephan Porombka).

 

Die Befunde im Einzelnen:

(1.) Die zentralen Vermittlungsinstanzen von Literatur verlieren an Bedeutung und besitzen keine Deutungshoheit mehr.

(2.) Die einstmals zentrale literarische Öffentlichkeit zerfällt in pluralistische (Teil-) Öffentlichkeit.

(3.) Der klassische Werkbegriff transformiert sich in transmediale Resonanzräume – mit dem jeweiligen Werk als Knotenpunkt seines eigenen kontextuellen Netzwerks.

(4.) An Stelle eines verbindlichen literarischen Kanons haben wir es mit einer Vielzahl soziokultureller Referenzrahmen zu tun.

(5.) Der öffentliche Diskurs (und mit ihm die Aufmerksamkeit) haben sich von den Printmedien hinein ins Netz verlagert, allen voran in soziale Netzwerke.

(6.) An Stelle zentraler, linearer Botschaften tritt Kommunikation auf Augenhöhe, da im Netz jedes Individuum eine eigene Stimme besitzt und seinerseits Öffentlichkeit herstellen kann – teilweise mit deutlich höheren Reichweiten als etablierte Medienvertreter.

(7.) Es bilden sich neue Zentren der Macht im Netz, die Aufmerksamkeit und Kommunikation bündeln und nicht zuletzt lenken.

(8.) Der Autorenbegriff löst sich auf und weicht dem Autorenkollektiv – Literatur entsteht nicht isoliert, sondern im Austausch mit anderen.

 

Krisenliteratur oder Literatur in der Krise?

Wir leben in Zeiten der Krise. Am besten hat diesen Zustand der Beitrag von Stephan Porombka beschrieben, der einen Vergleich zur Einführung des Buchdrucks zog – und den Befürchtungen, von denen er begleitet war.

 

Sein Fazit: Die Mahner hatten recht. Und nicht nur das. Es kam sogar noch schlimmer als prophezeit. Die alten Herrschaftssysteme brachen in sich zusammen, gesellschaftliche Revolutionen folgten. Gleichzeitig hatte jede Phase des Umbruchs auch literarische Blüten zur Folge. Ständig entsteht und vergeht Neues. Und dennoch bleibt die Entwicklung nie stehen. Es geht immer weiter. Wie in der Biologie, wo eine Generation auf die andere folgt – und die Entwicklung mitunter evolutionäre Sprünge macht.

Die Literatur steht im 21. Jahrhundert ganz im Zeichen der Digitalisierung – und das völlig unabhängig davon, wie hoch der E-Book-Anteil am Buchmarkt ist. Denn eigentlich geht es bei der Digitalisierung gar nicht um Literatur, sondern um die gesellschaftlichen Folgen. Die Krise der Literatur ist eine Krise der Gesellschaft.

Der Informations- und Kommunikationsfluss, der, durch den industriellen Buch- bzw. Zeitungsdruck befeuert, die feudale Gesellschaft ins Industriezeitalter katapultierte, hat durch die Digitalisierung weiter an Beschleunigung erfahren und reißt in seinem Fluss alles mit sich.

Wir erleben gerade, wie unsere tradierten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Systeme nicht mehr tragen und in sich zusammenbrechen. Wirtschafts- und Bankenkrisen, Trump und der wiedererstarkende Populismus in Europa sind nicht die Ursachen, sie sind die Symptome dieser Entwicklung.

 

Die Literatur ist tot – es lebe die Literatur!

Dabei ist die Literatur heute mächtiger denn je. Nie hatten Autoren mehr Einfluss auf die Gesellschaft. Nur schreiben diese Autoren nicht an Romanen, sondern an Narrativen. Sie programmieren damit das öffentliche Bewusstsein und unsere Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft zu funktionieren hat.

 

Wir leben im Zeitalter der Scripted Reality. Fiktion wird uns als Realität verkauft, so oft wiederholt, bis sie Teil der eigenen Lebenswirklichkeit wird. Wir leben in Zeiten, in denen selbst der Präsident der Vereinigten Staaten nicht mehr zwischen Reality-TV und Realität unterscheiden kann und die Quote das bestimmende Prinzip ist.

Die großen Dramen unserer Zeit werden dabei nicht mehr auf der Bühne aufgeführt, sondern im Fernsehen bzw. im Netz. Politische Inszenierungen und Seifenopern sind an der Tagesordnung. Netflix und Amazon Originals haben hervorragende [und zu Recht gefeierte] Autorenteams und man fragt sich in der Tat immer öfter, wer hier eigentlich wen imitiert – die Kunst die Wirklichkeit oder die Wirklichkeit die Kunst.

Und Harry Potter tut mehr für die Leseförderung als Goethe und Schiller zusammen. Schlimmer noch: Gerade an den Schulen wird künftigen Generationen laut Christian Dawidowksi das Lesen systematisch abtrainiert. Persönlichkeitsbildendes Lesen ist nicht länger Teil des Curriculums. Leseförderung wird an Software (Antolin) delegiert und damit lediglich das kompetitive Lesen gefördert, das rein auf extrinsische Motivation abzielt und in dem Moment aufhört, in dem es nicht mehr prüfungsrelevant ist.

Unsere Kinder werden mit Hilfe von PISA und Zentralabitur zu empathielosen Lernrobotern abgerichtet, die zwar Lerninhalte wiederkäuen können, denen es jedoch an tiefergehendem Verständnis fehlt. Quote statt Bildung. Leben nach Kennzahlen. Neoliberaler Optimierungswahn auf Kosten der Gesellschaft. Die Politik konzentriert sich aufs Verwalten und überlasst das Gestalten der Wirtschaft, die sich mittlerweile bereits im Kindergarten ihren Nachwuchs rekrutiert.

 

Literaten aller Länder vereinigt euch!

Was die Gesellschaft dringend braucht, sind neue gesellschaftliche Entwürfe, neue Narrative. Wir brauchen eine neue Internationale – Literaten aller Länder vereinigt euch!

Wir müssen schreiben, was das Zeug hält: Businesspläne, Lehrpläne, politische Programme. Utopien entwerfen. Programme für das Leben von morgen. Ideen davon entwickeln, wie wir künftig zusammenleben wollen. Gefragt sind Phantasie, Erfindergeist und Empathie.

Wenn wir dabei so vorgehen wie einst Martin Luther, der sich in der Verbreitung seiner Ideen neuzeitlicher Technologien bediente, sollte die digitale Reformation gelingen. Denn die Veränderung lässt sich nicht aufhalten, nur gestalten. Worauf es ankommt, ist das zugrundeliegende Narrativ.

 

Volker Oppmann ist Gründer und CEO von log.os. Er studierte Germanistik und Skandinavistik in Bonn und Bergen. Erste Verlagserfahrung sammelte er 2002 bei Rogner & Bernhard in Hamburg und gründete anschließend den Berliner Independent-Verlag ONKEL & ONKEL. Mit textunes war er erster deutscher Anbieter von eBook-Apps und war von 2011 bis zum Launch des Tolino im März 2013 verantwortlich für den Digitalbereich bei Thalia. Seit 2013 arbeitet er im Bereich des Entrepreneurial Designs und Managements bei log.os.

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