Das 20. Jahrhundert war geprägt von der Welt der Massenmedien und der Massenkultur, die in Fabriken erstellt wurde. Das 21. Jahrhundert wird geprägt sein von Digitalisierung, Datennutzung – und das digitale Prinzip der Personalisierung: Inhalte entstehen nicht mehr einzig beim Hersteller und Absender, sondern werden mittels Datensammlung und -auswertung auf den Konsumenten und Empfänger zugeschnitten.
So zumindest die These von Dirk von Gehlen („Süddeutsche Zeitung“) in seinem Buch „Meta! Das Ende des Durchschnitts“ (Matthes & Seitz). Ein Auszug:
Medien und mediale Öffentlichkeit funktionieren traditionell nach diesem Prinzip: Inhalt wird unabhängig von seinem Publikum beim Absender geformt und nicht bei oder gar mit den Empfängern. Der Absender schickt allen Empfängern den gleichen Inhalt – unabhängig von Vorwissen, Alter, Ort, Geschlecht, Zeit oder eben Reiserichtung. Wie bei einem Lautsprecher, der einen für alle Menschen gleichen Ton sendet, entsteht so eine Vorstellung von Öffentlichkeit, die sich vor allem aus den technischen Beschränkungen der Sender ergibt. Der Lautsprecher klassischer Prägung kann nur eine für alle gleiche Botschaft senden, die für alle Empfänger durchschnittlich richtig ist. Deshalb wiederholt er die Information der Zugteilung im Anschluss in englischer Sprache – auch für diejenigen, die gar kein Englisch sprechen. Diese Form der Informationsvermittlung ergibt sich aus dem gelernten Distributionsmodell der vordigitalen Zeit der Massenproduktion: ein Sender, der viele Empfänger bedient, die er nicht kennt – und die sich nicht zu erkennen geben (können) –, kann in diesem Modell gar nicht anders, als lediglich eine (Durchschnitts-) Botschaft zu senden, die für alle gleich ist. Ein Lautsprecher ist eben kein Kopfhörer, über den der Benutzer selber bestimmen kann, was er hört. Das Ende des Durchschnitts beschreibt den Übergang von der Lautsprecher- zur Kopfhörer-Kultur (siehe Kopfhoerervslautsprecher.tumblr.com, letzter Zugriff am 30.5.2016).
Was passiert, wenn die Empfänger sich (wissentlich oder unwissentlich) mit ihrem ganz eigenen Kontext zu erkennen geben? Wie verändert sich ein Sender, der seine Empfänger kennenlernen und basierend auf deren Rezeptionskontext segmentiert oder gar individualisiert ansprechen kann? Was bedeutet dies für Form und Verbreitungsart von Inhalten? Wie verändert sich die Vorstellung von Öffentlichkeit, wenn nicht mehr alle unter dem gleichen Lautsprecher stehen müssen, um zu erfahren, was für sie wichtig ist? Wie verschieben sich Gedanken- und Geschäftsmodelle wenn der Kontext künftig ebenso bedeutsam für eine Botschaft sein kann wie deren Text (Inhalt)? Was heißt das für all diejenigen, deren Geschäfte bisher darauf basier(t)en, Text und nicht Kontext zu erstellen? Welche Herausforderungen ergeben sich für diese Akteure der Öffentlichkeit, wenn das Sammeln von Nutzerdaten dazu führt, dass manche Inhalte gar nicht mehr beim Sender sondern vielmehr beim Empfänger erstellt werden? Wie verändern sich Kunst, Kultur und Kommunikation, wenn wir beim Begriff Meta-Daten nicht mehr nur auf den hinteren Wort-Teil schauen? Der vordere Wort-Teil hat diesem Buch seinen Titel gegeben – sozusagen als freundlicher Hinweis auf seine Blickrichtung auf die Digitalisierung: Text plus Kontext!
Digitale Distributionsmodelle sind keine Einbahnstraßen mehr, sondern Netze; keine Rampe, sondern Räume. Es geht nicht mehr nur darum, Inhalte abzuliefern, es geht um Verbindungen, um Dialog10 – und dieser Dialog muss nicht zwingend ein verbalisiertes Gespräch sein: Nutzer geben „wissentlich oder unwissentlich11 Informationen über sich preis, die nicht nur werbende Sender12 nutzen, um Inhalte anzupassen und zuzuschneiden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch der Zug sein eigenes Wissen nutzen und die Fahrgäste abhängig von ihrem auf Metadaten (in diesem Fall: Aufenthaltsort im Zug) basierenden Kontext informieren wird. In Hamburg kann die S-Bahn – übrigens auch mit dem Namen Linie 1 – genau das schon: »Dieser Zugteil fährt Richtung Flughafen, wenn Sie in Richtung Poppenbüttel reisen wollen, steigen Sie bitte hier um.« Wenn man einen solchen Satz mit anderem Reiseziel auch in der Münchner S-Bahn hört, wird die Macht des Kontextes in einen weiteren Lebensbereich vorgedrungen sein, der Durchschnitt wird ein wenig mehr an Bedeutung verloren haben.
Wie reagieren Inhaltsproduzenten, die gewohnt sind, auf den Text und nicht auf den Kontext zu schauen, auf diese Entwickelung? Welche Strategien können Journalistinnen, Musiker, Literaten, Filmemacherinnen und Autoren nutzen? Deren Werke werden heute auf den gleichen Geräten konsumiert, die individualisierte Informationen bereithalten, sie sind aber selbst bisher (zumeist) völlig kontextlos. Ein Buch ist ein Buch – egal ob man es morgens oder nachts liest, ein Zeitungsartikel bleibt der gleiche Zeitungsartikel – egal ob ihn ein Arzt oder ein Patient liest. Eine Verkehrsmeldung bleibt eine Verkehrsmeldung – egal ob sie von einem Autofahrer auf der genannten Strecke oder von einem unbeteiligten Zuhörer vor dem Schlafengehen gehört wird.
Dirk von Gehlen: Meta! Das Ende des Durchschnitts, 180 Seiten, Softcover (auch als Hardcover, E-Book, Podcast, Präsentation erhältlich), 15 Euro, ISBN: 978-3-95757-246-2
Schöner Artikel!
Es ist ja immer so eine Sache mit dem Sound.
Da aber immer alles mobiler wird und kaum einer mehr zu hause sitzt und seine „Anlage“ anmacht geschweige denn besitzt, denke ich es ist nur logisch das die Kopfhörer, gerade auch jetzt Bluetooth auf der Überholspur sind.
Ein interessantes Thema, welches sicherlich bei vielen einen Denkanstoß auslöst. Wie lässt sich dies erweitern, wie lässt sich die Technik anpassen? Es ist ja bereits an personalisierter Werbung zu sehen. Einerseits kritisch betrachtet, da persönliche Daten gesammelt und genutzt werden, andererseits kann es auch praktischer sein, das zu sehen, was man persönlich sehen will, anstatt etwas, womit man nichts anfangen kann. Warum nicht auch akustisch Inhalte erhalten, die einen persönlich interessieren?
Besitzt eine der Boxen eine sogenannte Bassreflexöffnung?
Super interessanter und sehr informativer Artikel.
Man könnte beispielsweise auch mit einer App eine Selektion vornehmen, welche Information für einen selbst interessant sind.
Diese App könnte man dann mit einem Bluetooth Kopfhörer koppeln.
Eine solche App könnte sich auch Daten vom Smartphone ziehen, wie beispielsweise den Aufenthaltsort um so die Informationen herauszugeben den für den jeweiligen User von Interesse sind.
Es bleibt ein interessantes wie sich das ganze Thema weiter entwickeln wird.