Warum die Schweizer Musterdemokratie geradewegs auf eine Verödung ihrer Buchhandelslandschaft hinsteuert – im Zwischenbuchhandel, im stationären Buchhandel und im Online-Buchhandel.
Mitte Januar ist es so weit: Für eine Schweizer Buchhandlung ist es günstiger, die Titel bei der Konkurrenz (Amazon) zu ordern als direkt bei den Verlagen oder beim Barsortiment. Ein Fachbuchtitel, von dem wir mehrere Dutzend im Jahr verkaufen, kostet bei der direkten Bestellung via Amazon CHF 63,50 pro Exemplar und wird portofrei in die Schweiz geliefert. Bestellen wir den Titel mit dem Verlagsrabatt von 25% via Verlagsauslieferung, zahlen wir ca. 10 CHF mehr.
Für den Kunden heißt das: Er kann beim grenzüberschreitenden Einkauf die Bücher günstiger erwerben, als sein lokaler Händler dies bei einer Direktbestellung beim Lieferanten kann. Ob der helvetische Patriotismus ausreicht, um den Franken weiterhin in die heimische Kassen zu spülen, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Es zeichnet sich aber ab, dass das Buchhandelswesen in der Schweiz in seiner jetzigen Form ernsthaft bedroht ist. Das Westschweizer Barsortiment OLF hat bereits Lohnkürzungen und höhere Arbeitszeiten für die komplette Belegschaft durchgesetzt.
Insbesondere im Online-Bereich ist der Schweizer Buchhandel kaum mehr konkurrenzfähig. Wer schon im Netz bestellt, kann dies auch gleich bei der nachbarschaftlichen Anbieter tun – oftmals zum halben Preis. Doch der starke Schweizer Franken bringt nun nur eine Haltung zum Vorschein, die seit Jahren den Schweizer Buchhändlern das Leben schwer macht: Der politische Wille zum Erhalt einer vielfältigen Sortimentslandschaft existiert in der Schweiz nicht.
In Deutschland wurden drei Maßnahmen zur Unterstützung des Sortimentsbuchhandels ergriffen: der verringerte Mehrwertsteuersatz, die vergünstigte Büchersendung und die Preisbindung. In der Schweiz gibt es keine Büchersendungen. Die Preisbindung wurde 2012 abgeschafft. Der Mehrwertsteuersatz für Bücher ist zwar im Vergleich zu anderen Produkten reduziert. Doch profitiert die ausländische Konkurrenz bei Sendungen bis 200 CHF von einem Mehrwertsteuersatz von 0%.
Amazon.de und andere deutsche Internetbuchhändler sparen bei einer Sendung an den Kunden in die Schweiz doppelt: Bei Sendungen unter 200 CHF entfällt die Schweizer Mehrwertsteuer in Höhe von 2,5%. Zudem profitiert der Versandhändler mit deutschem Standort von dem Privileg der Büchersendung, die auch bei einer Sendung von Deutschland in der Schweiz zu ermäßigten Tarif möglich ist. So beträgt das Porto für eine Büchersendung von Deutschland in die Schweiz bis 500 Gramm 3,20 Eurofranken, bis 1000 Gramm noch 6 Eurofranken (ohne nachverhandelte Rabatte). Für eine Buchsendung innerhalb der Schweiz zahlt der Schweizer Kollege im günstigsten Tarif bereits 7 Frankeneuro.
Von staatlichen Fördermaßnahmen oder infrastruktureller Unterstützung profitiert der Schweizer Buchhandel nicht. Im Gegenteil: Das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen arbeitet seit Jahren exklusiv mit einem Buchhandelspartner zusammen: dem Discounter Ex Libris. Dieser betreibt auf den Webseiten der SRG einen Shop, in dem nicht nur die Produktionen der SRG angeboten werden, sondern alle Bücher, Hörbücher und DVDs, die in einer Sendung Erwähnung fanden. Mehrere tausend Links – so stellte das BAKOM (Bundesamt für Kommunikation) fest – verweisen von den Webseiten der SRG auf den Discounter. Seit Jahren opponiert der SBVV dagegen – ohne Erfolg. Auch hier widerspricht die Bevorzugung eines Anbieters dem Grundsatz eines breiten Angebotes.
Hinzu kommt: Im Zuge des Falls der Preisbindung 2012 gibt es zunehmend auch im öffentlichen Sektor Veränderungen bei der Beschaffung der benötigten Buchtitel. Einige Bibliotheken, Behörden und Gemeinden sind bereits dazu übergegangen, ihre Budgets teilweise über die Grenze zu schaufeln und optimiert einzukaufen.
Einen weiteren Beleg für die Missachtung des Buchhandels als demokratische Instanz findet sich in den neuen Förderstatuten des Schweizerischen Nationalfonds. Seit 1. Juli 2014 werden in der Schweiz nur noch wissenschaftliche Publikationen unterstützt, die digital und Open Access erscheinen. Begründet wird dies mit den „heutigen Publikationspraktiken in der Wissenschaft“. Übersehen wird dabei nicht nur, dass es zahlreiche Wissenschaften gibt, bei denen die Printpublikation weiterhin zum Standard des Publizierens gehört. Mit dieser Maßnahme koppelt der SNF auch die wissenschaftliche Praxis von einer möglichen Teilnahme der Bürger ab. Doch insbesondere im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich gibt es zahlreiche Publikationen in Publikumsverlagen, die auch jenseits des akademischen Kerns ihr Publikum finden und die einer aktiven Verbreitung durch den Handel bedürfen.
2013 veröffentlichte das Bundesamt für Kultur den Bericht über Literaturförderung in der Schweiz. Von den mehr als 17 Millionen, die Bund, Kantone und Städte im Jahr 2011 für Literaturförderung aufwendete, entfielen 53.000 CHF, also 0,3% auf die Förderung der Buchhandlungen (in Form von Buchkäufen für Bibliotheken und Schulen, die in Buchhandlungen getätigt wurden). In dem Bericht heißt es: „Der lokale Buchhandel (…) ist als einziger Teil der ganzen Buchkette von öffentlichen Subventionen fast gänzlich ausgeschlossen.“
In der Schweiz ist die Unterstützung einer pluralistischen Buchlandschaft abseits von Werkbeiträgen, Prämierungen, Preisverleihungen und Kulturprozenten kaum denkbar. Die Vorschläge, die in Richtung einer strukturellen Förderung des Kulturgutes Buches und der Sortimentslandschaft zielten, sind in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich einem wirtschaftsliberalen Wettbewerbsgedanken zum Opfer gefallen. Das Sortieren und Auswählen von Büchern, die Berücksichtigung und Herstellung von Kontexten zwischen unterschiedlichen Titeln, die Zusammenstellung eines stimmigen Sortiments – all diese Maßnahmen, die das Kulturgut Buch braucht, um gesellschaftliche Präsenz und Relevanz zu erreichen, finden in der Schweiz kaum Anerkennung. Und weil dies im Nachbarland anders ist, verlagert sich der Handel aus der Schweiz zunehmend über die Grenze.
Und so steuert die Musterdemokratie geradewegs auf eine Verödung ihrer Buchhandelslandschaft hin – im Zwischenbuchhandel, im stationären Buchhandel und im Online-Buchhandel. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Buchproduktion in der Schweiz, die für ihre Titel immer weniger Verkaufsstellen und digitale Sichtbarkeit erreicht. Ein aktuelles Beispiel: Die Buchhandlung Labyrinth in Basel – Inbegriff einer wohlsortierten geisteswissenschaftlichen Buchhandlung – steht vor dem Aus, wenn nicht ein fünfstelliger Betrag bis Ende Februar zusammengetragen wird.
Joachim Leser, Jahrgang 1966, leitete jeweils fünf Jahre die Pressestelle beim Ammann Verlag und bei Kein & Aber. Seit 2009 ist er bei Schulthess Juristische Medien in Zürich als Portalmanager und Online-Buchhändler tätig. Joachim Leser schreibt seit Oktober 2009 im buchreport-Blog.
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