Der am vergangenen Wochenende von der „New York Times“ veröffentlichte Artikel über den Arbeitsalltag in der Amazon-Zentrale in Seattle schlägt hohe Wellen. Darin legen zahlreiche ehemalige Mitarbeiter die Mechanismen innerhalb der Amazon-Arbeitswelt offen.
Für den Beitrag führten die beiden Journalisten Jodi Kantor und David Streitfeld über 100 Gespräche mit derzeitigen und ehemaligen Angestellten (u.a. aus dem Personalbereich, der Produktentwicklung, Marketing und Vertrieb), von denen viele lieber anonym bleiben wollen.
Nachdem Gründer und Chef Jeff Bezos, dem Artikel zufolge der fünftreichste Mensch der Welt, Stellung bezogen hat, greifen immer mehr Medien das Thema auf. Hierzulande berichten aktuell u.a. die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Welt“.
Die im „New York Times“-Artikel geäußerte Kritik am System Amazon:
- Arbeitszeit und Verfügbarkeit: Eine Wocharbeitszeit von 80 bis 85 Stunden ist ebenso üblich wie E-Mails mitten in der Nacht und im Urlaub.
- Konkurrenzdruck und Mobbing: Die Mitarbeiter sind dazu aufgefordert, die Ideen ihrer Kollegen in Konferenzen zu zerpflücken. Und es bleibt nicht bei offen ausgesprochener Kritik: Über das Anytime Feedback Tool werden Kollegen wahlweise hochgelobt oder denunziert. Jährlich schasst das Unternehmen diejenigen, die im Feedback-Ranking unten stehen.
- Schlechte Atmosphäre: Die ständige Kontrolle durch Vorgesetzte, das umfangreiche Regelwerk, der Konkurrenzkampf und der Leistungsdruck schaffen eine angstvolle Stimmung, sodass viele Mitarbeiter im Büro weinen.
- Unsicherer Arbeitsplatz: Kaum jemand kann sich seiner Stelle bei Amazon sicher sein. Fluktuation und Auslese gehören zum System. Sobald man nicht mehr die verlangte Leistung erbringt, drohen Abstieg und Rauswurf.
- Umgang mit privaten Krisen und Krankheiten: Wer von einer Krankheit betroffen ist, unter einem Trauerfall leidet oder sich um einen pflegebedürftigen Angehörigen kümmern will, gerät schnell in die Schusslinie.
- Mangelnde Gleichberechtigung: Viele Frauen fühlen sich durch das Regelwerk, die Arbeitsweisen und das Umfeld benachteiligt. Weibliche Führungskräfte sind rar.
Die von den Interviewpartnern beschrieben Arbeitsbedingungen stellen Kantor und Streitfeld in einen direkten Zusammenhang mit der Führungspersönlichkeit Jeff Bezos. Risikofreude und Konfliktbereitschaft entsprächen seinem Charakter: „Von all seinen Ansichten ist die vielleicht markanteste der Glaube, dass Harmonie am Arbeitsplatz oft überbewertet wird – dass sie ehrliche Kritik unterdrücken und höfliches Lob für mangelhafte Ideen anregen kann“, fassen die beiden Journalisten Bezos‘ Philosophie zusammen.
Angesichts der heftigen Vorwürfe und der breiten Front der Kritiker hat sich der Amazon-Chef inzwischen zu Wort gemeldet. Er erklärt: „Der Artikel beschreibt nicht das Amazon, das ich kenne, oder die mitfühlenden Amazonians, mit denen ich jeden Tag zusammenarbeite.“ Der von Kantor und Streitfeld beschriebene „seelenlose, dystopische Arbeitsplatz“ sei ihm fremd. Zugleich fordert Bezos seine Angestellten dazu auf, negative Erfahrungen, wie sie im Artikel dargestellt werden, gegebenenfalls zu melden.
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