Schenkt man der Logik der Bestseller-Autorin Tess Gerritsen Glauben, sind ihr durch illegale Downloads 4.000 Verkäufe entgangen. Diese Zahl entspricht der Download-Statistik ihres Buchs auf einer Website, über die kostenlos und illegal E-Books zum Download verfügbar sind. Analytisch weniger bedarften Gemütern fällt der Schluss somit nicht schwer: einfach die Zahl der Downloads mit entgangenen Verkäufen gleichsetzen und schon kommt man zu erschreckenden Zahlen, die eine Schlagzeile wert sind. Ob dies eine realistische Annahme ist – Nebensache. Natürlich kann man dies auch auf die Spitze treiben: Bibliotheken wären dann allein in den USA für Umsatzausfälle in der Größenordnung von $1 Billionen (ja, richtig: keine falsche Übersetzung aus dem Englischen, sondern tatsächlich $1.000 Milliarden) verantwortlich. Während letztere Erhebung zum Glück für jeden sichtbar nur ein scherzhaftes Zahlenspiel ist, versucht erstere ernst gemeint zu sein.
Kostenlose Downloads = Umsatzeinbuße?
Bestünde jedoch tatsächlich ein derart klarer Kausalzusammenhang zwischen kostenlosen Exemplaren und Umsatzeinbußen, müsste man bei Experimenten von Harlequin, HarperCollins, Random House und Scholastic die Hände über den Kopf zusammenschlagen: mit der kostenlosen Abgabe von E-Books sollen die Verkaufszahlen angeregt werden.
Simpel betrachtet führt ein niedrigerer Preis zu einer steigenden Nachfrage: mehr Leute lassen sich zum Preis von 0€ zum Download eines Buchs motivieren, als dies beispielsweise zu einem Preis von €20 der Fall wäre. Auf diese Weise kommen viele potenzielle Leser in den Kontakt mit dem Buch und der Autorin, die zuvor noch nie von ihr gehört haben und kein Buch von ihr gekauft hätten. Einige dieser neuen Leser werden sich sogar zum Kauf der gedruckten Ausgabe bewegen lassen, wenn sie Gefallen an Buch und Autorin gefunden haben und die elektronische Variante nicht ihren bevorzugten Lesegewohnheiten entspricht (Marketingeffekt). Wiederum andere Leser, die es sonst gekauft hätten, werden nun kein Geld mehr für das gedruckte Buch ausgeben – entweder haben sie beim Anlesen das Interesse verloren oder aber die so kostenlos erworbene elektronische Ausgabe ist für ihre Lesegewohnheiten ausreichend (Kannibalisierungseffekt).
Losgelöst von ideologischen Debatten drängt sich folglich die Frage auf, wie sich der Umsatz tatsächlich entwickelt, wenn das E-Book kostenlos erhältlich ist – ob also der Marketing- oder der Kannibalisierungseffekt überwiegt. Bei dieser Betrachtung wird schnell klar, dass Gerritsen die letzten fünf Jahre entweder geschlafen haben muss oder die von experimentierfreudigeren Autoren gewonnenen Erkenntnisse bewusst verschweigt.
Doctorow: Rekordauflagen wegen kostenloser Online-Verfügbarkeit
So veröffentlicht Cory Doctorow seit 2003 all seine Bücher konsequent unter Creative-Commons-Lizenz und macht sie so kostenlos allen Interessierten digital zugängig. Sein erstes so verfügbares Buch „Down And Out In The Magic Kingdom“ ist seitdem über 750.000 Mal heruntergeladen worden. Trotzdem – oder gerade deshalb, wie Doctorow betont – hat der Tor Verlag bereits die 7. Auflage verkauft. So ist Doctorow auch davon überzeugt, dass das eigentliche Problem eines Autors nicht Piraterie, sondern sein niedriger Bekanntheitsgrad ist: die meisten potenziellen Leser kaufen ein Buch nicht deswegen nicht, weil sie eine kostenlose Kopie davon erhalten haben, sondern weil sie noch nie davon gehört haben – ein Schluss, zu dem Verleger und Tech-Vordenker Tim O’Reilly bereits 2002 gekommen ist.
Auch wenn die von Doctorow genannten Zahlen beeindruckend sind und einen signifikanten Marketingeffekt durch kostenlose Verfügbarkeit nahelegen, lassen sie natürlich noch keinen eindeutigen Schluss zu. Hierfür müssten die Verkaufszahlen unter Verfügbarkeit der kostenlosen digitalen Variante den Verkaufszahlen ohne diese Verfügbarkeit gegenübergestellt werden.
Marketingeffekt für alle Bücher eines Autors
Genau dies hat Neil Gaiman getan. Das Resultat: während sein Buch „American Gods“ kostenlos digital verfügbar war, verzeichnete HarperCollins nicht nur einen signifkanten Anstieg in den Verkaufszahlen dieses Buchs, sondern aller Bücher des Autors. Nach Ende der Aktion fielen die Verkaufszahlen wiederum auf das Ausgangsniveau zurück.
Auf dem DLD08 sorgte Paulo Coelho für Schlagzeilen, als er offen zugab eine Website zu betreiben, die Links zu piratisierten Ausgaben seiner Bücher publiziert (sehr sehenswertes Video seiner Rede). Während die meisten Autoren wie Gerritsen dies aus reinem Bauchgefühl heraus als ökonomischen Selbstmord betrachten, liegen Coelhos Vorgehen konkrete Erkenntnisse zugrunde: nachdem ein Leser die russische Ausgabe eines seiner Bücher illegal im Internet veröffentlicht hatte, stiegen die Verkaufszahlen in Russland zur Überraschung des Verlags innerhalb von drei Jahren von 3.000 auf 1 Millionen Exemplare.
Kostenlose Downloads = Umsatzeinbuße? Umsatzwachstum
Es liegt also der Schluss nahe, dass die kostenlose Verfügbarkeit des E-Books sich positiv auf die Umsätze auswirkt. Auch wenn die genannten Beispiele natürlich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben, ist mir kein Beispiel bekannt, bei dem Gegenteiliges zu beobachten gewesen wäre.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass dieser Effekt nur solange Bestand haben wird, wie das E-Book vom Großteil der Leser nicht als gleichwertige Substitution des gedruckten Buchs empfunden wird und das Einlesen in das E-Book somit zum Kauf des „richtigen“ Buchs animiert. Diese Lesegewohnheiten werden sich jedoch mit ausgereifteren E-Readern in den kommenden Monaten und Jahren verschieben. Cory Doctorows Antwort: „Schlaue Autoren sollten daher das Eisen schmieden, solange es heiß ist – also kostenlose E-Books anbieten, um ihre gedruckten Bücher zu verkaufen. Dies verdient Autoren heute Geld. Um sicherzustellen, dass Autoren auch morgen Geld verdienen, müssen wir uns jedoch auf neue Modelle vorbereiten die entstehen, wenn die gebräuchlichste Form des Buchs ein kostenlos kopierbares Objekt ist. Dies geschieht am besten dadurch, indem man Millionen von Experimenten mit digitalen Texten unternimmt, um herauszufinden, welche das größte Erfolgspotenzial haben“.
Danke sehr an den Webmaster.
Gruss Elisa
@Ehrhardt Heinold: Vielen Dank. Leider scheint Ihr Kommentar abgeschnitten zu sein.
Der Markt wird aber schon innerhalb sehr kurzer Zeit klären, welche Preise Leser zu zahlen bereit sind – unabhängig von Glauben und Wünschen der Verleger. Sicher sind hier aber ganz andere Ansätze nötig, als den Content nur 1:1 ins digitale Format zu transferieren und zu glauben, damit künftig noch etwas verdienen zu können. Je früher und vielfältiger hier Experimente unternommen werden desto größer die Überlebenschancen.
@Ina Fuchshuber: Auch Ihnen vielen Dank. Bzgl. der Preise wäre es sicherlich schön, dass diese den Autoren ihr Auskommen sichern. Die Preise werden jedoch durch die Zahlungsbereitschaft der Leser am Markt gesetzt und nicht durch Wunschvorstellungen, wo diese im Idealfall liegen müssten. Da beim Übergang von Analog zu Digital ein grundlegender Wandel der ökonomischen Rahmenbedingungen stattfindet, weil ein digitales File kostenlos und ohne Qualitätseinbußen kopiert werden kann, fällt ein wichtiger Bestimmungsfaktor des Preises (Knappheit) weg. Für ein elektronisches File einen vergleichbaren Preis zu verlangen wie für das gedruckte Buch, wird sich schlicht nicht durchsetzen.
Tatsächlich sichert aber auch das gegenwärtige Modell schon heute und auch in der Vergangenheit nicht das Auskommen von über 90% aller publizierten Autoren, die im letzten Jahr aus ihren Buchverkäufen weniger als 6.000/Jahr verdient haben.
Ich sehe jedoch nicht schwarz für Autoren – im Gegenteil. Es gibt viele Ansätze, wie man Zahlungsmodelle konstruieren die Probleme der Leser lösen und nicht mehr nur reine Inhalte ins Zentrum stellen.
http://www.buchreport.de/blog.htm?p=79
http://www.buchreport.de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/2009/03/23/spezialisten-fuer-aggregation-und-auswahl.htm
Einige, wie Paulo Coelho haben schon längst erkannt, dass kostenlose E-Book ein sehr gutes Marketing-Instrument werden können. Bevor er die russische Ausgabe von „Der Alchimist“ kostenlos ins Netz stellte hatte er im Jahr nur 1000 Exemplare verkauft. Ein Jahr nach dem er das gemacht hat waren es 100 000 und ein Jahr danach schon 1 Mio.
http://www.literaturcafe.de/paulo-coelho-buecher-kostenlos-zum-download/
Sehr wichtiger und richtiger Artikel! Das Autoren durch verschenkte eBooks bekannter werden, trifft sicherlich zu. v.a. wenn diese dann auf Bestseller-Liste auftauchen, wo sie allerdings meiner Meinung nach nichts verloren haben – wie ich hier vor ein paar Wochen schonmal beschrieben hatte: http://www.if-blog.eu/2010/01/marketing-mit-bestseller-listen/
Am Wichtigsten finde ich aber den letzten Absatz in Ihrem Artikel: Wenn das eBook als irgendwann als vollständiger Ersatz zum pBook gesehen wird, brauchen wir Preise, die zum Kauf anregen, von denen wir aber immer noch leben können.
Ein klasse Artikel, lieber Herr Braun! In Deutschland glaubt Ihnen das jedoch nur eine Handvoll Verleger, der Rest versucht, die E- und P-Book-Preise auf einem Niveau zu halten…
Ein Kernthema Ihres Artikel ist eine Frage, die auch mich schon l