In einem offenen Brief übt der Autor und Literaturagent Thomas Montasser Kritik an der Auslieferungspolitik von Amazon, der angesichts der Corona-Krise Bücher aktuell nachrangig ausliefert. Für Montasser ein vorgeschobener Grund: Stattdessen nutze Amazon jetzt schamlos seine Marktmacht aus, um das E-Book durchzusetzen.
Hier der Brief im Wortlaut:
„Die Buchbranche erlebt umwälzende Zeiten. Wie Kleiderboutiquen, Schuhgeschäfte oder Blumenläden, bleiben auch die Buchhandlungen zu. Sehr zur Freude der Versandbuchhändler, allen voran natürlich Amazon. Die haben doch nur auf die Chance gewartet, zu zeigen, wie prompt und zuverlässig sie liefern können. Oder?
Das Erstaunen war groß, dass der weltgrößte Versandbuchhändler stattdessen genau das Gegenteil tut! Bücher, die bereits erschienen sind, werden mit bis zu vier Wochen Lieferzeit annonciert, Novitäten der kommenden Wochen sind zeitweise nicht vorbestellbar. Stattdessen landet, wer ein Buch sucht, unmittelbar im Kindle-Shop und muss sich über andere Ausgaben des betreffenden Werks erst einmal mit mehreren Klicks schlau machen.
Angeblich begründet Amazon dieses Vorgehen damit, dass man jetzt wichtigere Dinge prioritär ausliefern müsse, auf Bücher könne man einfach länger warten, als auf das Nötigste. Stimmt: den „TEENO Akku-Bohrschrauber“ brauche ich natürlich bis morgen, das „Frau Dufte – Schaumbad für Zwei“ und das „Nico Flitter Tischfeuerwerk“ erst recht!
Amazon, entlarve dich doch nicht selbst als Lügner! Du hast tausende Sortimentsbuchhandlungen weggebissen. Jetzt nutzt du deine Marktmacht schamlos aus, um das E-Book durchzusetzen. Die Läden sind dicht, die Alternativen beschränkt. Mach es den Leuten so schwer wie möglich, ein Printbuch zu erwerben, dann nehmen sie schon das E-Book. Ist ja auch fein: Dafür brauchst du nämlich keine Mitarbeiter, die bezahlt werden müssten, keine Zulieferer, die ihren Anteil bekommen, du hast keine Lagerkosten und keine Lieferkosten – großartig! Am besten, du drängst die Kunden so intensiv wie möglich ins E-Book-Streaming! Dann musst du auch nur noch nach gelesenen Buchstaben abrechnen und zahlst sowieso nur noch einen Bruchteil an die Verlage aus, die ihrerseits einen Bruchteil vom Bruchteil an die Autoren ausschütten.
Autoren? War da was? Ach ja! Natürlich sollen die ihre Bücher weiterschreiben. Es genügt leider auch nicht, wenn sie einfach das Alphabet abliefern, weil ja nur noch nach gelesenen Buchstaben abgerechnet wird. Das heißt: Sie sollen sich bitteschön schon die Arbeit machen, ein ganzes Buch zu schreiben, auch wenn sie nur noch für einen Teil davon bezahlt werden. Denn so ganz ohne Buch kann man Bücher leider nicht mal scheibchenweise verkaufen. Das ist ähnlich wie beim Schinken: Ohne das Schwein als Ganzes zu schlachten, kommt man nicht gut ran.
Bald sind wir also die Schweine, die von Amazon zum Schlachten getrieben werden, und zwar in der Hoffnung, dass sich die Leser für die lukrativsten Stücke entscheiden. Der Rest wird nicht bezahlt, sondern darf nur die Auslage schmücken.
Ich wünsche mir von der Branche, dass sie aufsteht und sich das nicht bieten lässt. Verlage, tut euch zusammen und macht eurem größten Vertriebspartner klar, dass er jetzt liefern muss – und zwar buchstäblich. Lasst euch nicht bei jeder neuen Verhandlungsrunde über Konditionen von Amazon auspressen, und dann legt der Großhändler die Beine hoch, wenn man ihn braucht. Fürs Klopapier und die Tiefkühlerbsen braucht kein Mensch Amazon, denn die Supermärkte und die Drogerien sind geöffnet. Für Bücher brauchen wir jetzt Versandhändler. Einmal könnte Amazon beweisen, dass es für etwas gut ist, und dann lasst ihr den Laden von der Angel und schaut einfach zu, wie er den Niedergang der Sortimenter aussitzt? Eure Bücher brauchen jetzt alle Unterstützung, eure Autoren erst recht – auch die von Amazon. Zum Glück gibt es die tausenden von echten Buchhändlern, die sich für ihr Produkt interessieren und engagieren. Sie schaffen es, aus dem Nichts funktionierende Lieferdienste aus dem Boden zu stampfen und die Menschen mit Lektüre zu versorgen. Sie sind die Helden der Stunde!
Denn Bücher sind nicht weniger wichtig als Duftkerzen und Bohrschrauber! Bücher sind jetzt das Beste, womit man sich beschäftigen kann! Sie geben uns Sinn und Hoffnung, sie unterhalten uns und klären uns auf. Wer jetzt ein Buch kauft, stützt die Autoren und die Verlage. Wer es bei seinem örtlichen Buchhändler bestellt und sich liefern lässt, stützt die kleinen Unternehmen, ohne die unsere Städte Wüsten wären. Und nur wer keine solche kleine, liefernde Buchhandlung in der Nähe hat, der sollte seine Bücher dort bestellen, wo man sie nicht versteckt und wo man sie prompt liefert. Amazon, denk doch mal darüber nach, ob du nicht auch ein solcher Buchhändler sein willst! Sonst gibt es natürlich auch thalia.de, hugendubel.de, buecher.de, weltbild.de und viele andere, die genauso gute Bücher liefern – nur dass sie besser liefern!
Mit den besten Grüßen und mit tausend Dank an die wundervollen Buchhändlerinnen und Buchhändler, die dem Virus, dem Wahnsinn und dem unfairen Wettbewerber die Stirn bieten. Bleiben Sie uns gewogen und bleiben Sie gesund!
Herzlich
Ihr
Thomas Montasser
(Literaturagent und Autor)“
Dem Verfasser des offenen Briefs sei an dieser Stelle herzlichst die „pétition des fabricants de chandelles“ von Frédéric Bastiat von 1845 empfohlen. Lässt sich auch ganz traditionell auf Totholz nachlesen. Sogar auf Deutsch. Freundlichst, ein elektronischer Vielleser und studierter Historiker.