Es hätte so schön sein können für die Digitalfans der Branche: Die Herstellungsprozesse sind bei den Verlagen größtenteils Routine, die Abrechnungsmodalitäten geklärt, die Preisbindung zementiert. Doch genau in der Phase, in der das E-Book so richtig durchstarten könnte, herrscht Flaute, zumindest laut GfK-Analysen. Was ist los mit dem E-Buch? Mit dieser zentralen Fragestellung hat sich die E-Book-Konferenz der Akademie der Deutschen Medien den Problemen auf dem noch jungen Spielfeld der Branche gewidmet.
Das E-Book sei ein Standardprodukt geworden, doch derzeit stagniere der Markt, fürs 4. Quartal 2016 sei sogar mit rückläufigen Umsätzen zu rechnen, steckte Werner Guggemos, Ciando-Chef und Moderator der rund 50 Teilnehmer umfassenden Konferenz, zu Beginn das Spannungsfeld ab, in dem anschließend Dirk von Gehlen („Süddeutsche Zeitung“ und Volker Oppmann (log.os) nach Ursachen des abgeflauten Wachstums gesucht haben.
Von Gehlen, bei der „SZ“ der Mann für Innovationen (zuletzt u.a. die „Langstrecke“, eine Kompilation langer Artikel, aus der Taufe gehoben), holte in seiner Keynote vergleichsweise weit aus. Seine Vorbemerkung: Alles, was aus der individuellen Sicht nach dem 30. Geburtstag erfunden wird, gelte als Angriff auf die natürliche Ordnung der Dinge, dies werde z.B. bei der Diskussion über Wohl und Wehe von Smartphones sichtbar. Von Gehlen warb vor diesem Hintergrund für einen „Kulturpragmatismus“, der darüber hinaus gehe, primär zu fragen, ob eine Entwicklung gefährlich sei oder nicht, der stattdessen die größeren Entwicklungslinien betrachte.
Aus dieser Perspektive erklärte von Gehlen, dass Digitalisierung bedeute, die Produkte zuzuschneiden auf die Interessen der Menschen. Von Gehlens Paradevergleich: die Erfindung der Kleidergröße. Während im Modegewerbe eine basale Individualisierung normal sei, bedeute Digitalisierung bei den Medien/Verlagen oft, allen das gleiche Angebot zu machen. So vermeldeten Verkehrsnachrichten im Massenradio eben nicht bzw. nur selten die Staus in der Nähe des Hörers – während Google Maps genau dies leiste. Auch Buchverlage setzten darauf, allen das gleiche Angebot zu machen, indem sie ihre Print-Produkte schlichtweg im digitalen Format auskoppelten und das digitale Potenzial nicht ausschöpften – was von Gehlen an eine Szene am Strand von Bosnien erinnert, wo zwei Männer versuchen, auf unorthodoxe Weise Frisbee zu spielen.
Bei der Digitalisierung müssten ihre Stärken ausgenutzt werden, sie müsse das Ende des Durchschnitts sein, Kopfhörer statt Lautsprecher. Dies werde in der „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (Jeremy Rifkin) möglich, da bei der Produktion inzwischen keine Zusatzkosten mehr entstehen, wenn jedes Stück anders ist oder kleine Stückzahlen hergestellt werden.
Wie sich von Gehlen Individualisierung beim Buch konkret vorstellt, führte er in der Akademie nicht aus, wird aber anhand seines neuen Buchprojekts deutlich. „Meta! Das Ende des Durchschnitts“, die Langstrecke zum Gehlenschen Akademie-Sprint, erscheint Ende Januar 2017 bei Matthes & Seitz, gleich in neun verschiedenen Ausführungen, vom opulent ausgestatteten Hardcover (32 Euro), E-Book bis hin zum flankierenden Podcast (12 Euro) und zur Präsentation der wesentlichen Thesen (5 Euro), alles einzeln oder in Paketen erhältlich.
„Amazon hat keine Gegner auf dem Markt, nur Opfer“
Auch Volker Oppmann (log.os – mehr zur Philosophie der Initiative im „Bio-Channel“ auf buchreport.de) hob die Diskussion teilweise ins Grundsätzliche. Die Kluft zwischen Print und Digital sei bislang nicht überbrückt worden. Der Digitalbuchmarkt, so Oppmanns zentrale These, verfüge über viele Features, aber kein richtiges Produkt. Soll heißen: Es gebe viele Lösungen für die Bereiche Bücher entdecken, kaufen, lesen, empfehlen und diskutieren, zwischen denen der Nutzer hin und her wechsele, es gebe aber kein Angebot, das die Features nahtlos zusammenfüge und die user experience dabei wesentlich verbessere – wenn überhaupt, sei nur Amazon in die Nähe einer Gesamtlösung gekommen (Oppmann: „Amazon hat keine Gegner auf dem Markt, nur Opfer“). Die Buchbranche habe die letzten 20 Jahre verpennt, neben Papier würden jetzt Dateien verkauft, nicht mehr und nicht weniger.
Das soll sich ändern, warb Oppmann am Ende in eigener Sache. log.os, eine Gesamtlösung für die bislang isolierten Features, die auf eine Art fair book trade setzt, werde im Januar 2017 mit 125.000 Bücher starten, mit einer Webplattform und Apps für iOS und Android.
Nach den Keynotes widmete sich die Konferenz primär einzelnen Innovationen und Trends:
- Bei Geschäftsmodellen (z.B. Abomodelle am Beispiel von Legimi aus Polen illustriert),
- in Form von Prozess-Verbesserungen (Holtzbrinck-Manager Tobias Streitferdt zeigte eindrucksvoll und anschaulich, wie man gemeinsam auf dem „Schrottplatz der Metadaten“ aufgeräumt hat; hier ein Interview zum Thema),
- bei einzelnen Services wie Reader Analytics (am Beispiel von Andrew Rhombergs Jellybooks)
- und Trends wie Books-in-Browsers (Fabian Kern, dazu auch ein buchreport-Webinar im Januar) oder Virtual Reality (Arne Ludwig, Vorstand Erster Deutscher Virtual Reality Verband).
Fazit: Auch wenn der Markt vermeintlich stagniert – er bleibt stark in Bewegung, das wurde in der Akademie deutlich. Mit der Perspektive und Hoffnung vieler, dass sich die Grundlagenarbeit, Innovationen und Prozessverbesserungen bald wieder in Wachstum niederschlagen.
Amazon hat als einziger Akteur nennenswerte Big Data und vor allem die Fähigkeit, daraus Schlüsse zu ziehen, z. B. für die Preisgestaltung. Die dürfte der Hauptgrund sein, warum das belletristische E-Book in D-Land nicht funktioniert. Eine Erkenntnis, die auch allen anderen Akteuren seit ca. drei Jahren hätte dämmern können, denn die Wachstumszahlen sind schon länger viel zu schlapp (im unteren einstelligen Bereich) für eine Killerapplication. (Anders ist die Lage bei wissenschaftlichen E-Books, die mit Uni-Flatrates etliche Jahre sehr gut funktioniert haben und für die großen Wissenschaftsverlage zum Hauptgeschäftsmodell geworden sind; blöd, dass es aus Pirateriegründen absehbar vor dem Zusammenbruch steht.)
Ob individualisierte Belletristik-E-Books Verbesserung bringen werden, bleibt abzuwarten, auch, ob man diese Medienkonvergenz-Produkte dann noch Bücher nennen möchte. Schön, dass es für solche Experimente noch Investoren gibt. Falls sie scheitern, ist das vermutlich eine gute Nachricht für Buchhändler.