Texte für Studierende: Lernende und Lehrende erwarten heute, Texte in digitaler Form zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ab 2016 müssen die Universitäten für die Inhalte in ihren Intranets bezahlen.
Die digitalen Semesterapparate waren lange ein juristischer Zankapfel. Jetzt könnten sie für die Wissenschaftsverlage zum interessanten Markt werden. Dessen wirtschaftliches Potenzial zeichnet sich aber bisher nur schemenhaft ab. Eine buchreport.praxis-Analyse (aus: buchreport.magazin 5/2014).
Bisher stellten die digitalen Semesterapparate in Intranetzen deutscher Hochschulen die Wissenschaftsverleger nur vor die Entscheidung, wie sehr sie sich darüber ärgern wollten. Der 2003 ins Urheberrechtsgesetz aufgenommene § 52a erlaubt Unis, urheberrechtlich geschützte Texte als Begleitmaterial für Lehrveranstaltungen in ihre Intranets zu stellen; in den Verlagen machte das Wort von der „kalten Enteignung“ die Runde. Doch nach jahrelangen Verhandlungen der VG Wort und des Börsenvereins mit der Kultusministerkonferenz (KMK) und nach zwei Musterprozessen über mehrere Instanzen ist jetzt Bewegung in der Sache – und die Wissenschaftsverlage stehen vor einer grundsätzlichen Entscheidung.
Jahrelang sahen die Verlage von der „angemessenen Vergütung“, die der Paragraf vorschreibt, keinen Cent. Jetzt aber sind nach zwei Grundsatzurteilen des Bundesgerichtshofs (BGH) und einem weiteren des Oberlandesgerichts Stuttgart (siehe Abschnitt „Wichtige Urteile“ am Ende des Artikels) die Rahmenbedingungen geklärt und für die Verlage erstmals Einnahmen in Sicht. Es zeichnen sich sogar zwei Wege ab, auf denen sie an dieser Verwendung ihrer Texte Geld verdienen können:
- Variante 1: Sie können die Lizenzierung ihrer Texte für die Verwendung in Semesterapparaten der VG Wort überlassen
- Variante 2: Sie bereiten selbst Angebote für die Nutzung ihrer Texte in digitalen Semesterapparaten vor.
Wenig Aufwand für VG-Wort-Lizenz
Den Weg zu Variante 1 eröffnete der BGH mit seiner Feststellung, dass die Nutzung von Texten in Semesterapparaten nutzungsbezogen abgerechnet werden muss. Damit setzte sich der Börsenverein als Interessenvertreter der Verlage gegen den Wunsch der KMK durch, der Vergütungspflicht aus § 52a Abs. 4 UrhG durch eine jährliche Pauschalzahlung nachzukommen und den Universitäten damit den Aufwand von Einzelfallmeldungen zu ersparen.
Für die Jahre 2004 bis 2015 einigten sich VG Wort und KSK zwar pragmatisch auf eine einmalige Pauschalzahlung von 15 Mio Euro. Die praktische Umsetzung der nutzungsbezogenen Abrechnung, die ab 2016 in die Tat umgesetzt werden soll, ist aber längst in Arbeit. VG Wort und KMK haben die Option bereits mit einem gemeinsamen Pilotprojekt vorbereitet: Seit dem Wintersemester 2014/15 testen sie an der Universität Osnabrück ein Portal, über das Dozenten die Nutzung von Texten aus Büchern bei der VG Wort anmelden können.
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Als Ziel gaben die Projektpartner beim Start der Entwicklungsarbeiten aus, den Dozenten der Universität ein möglichst komfortables Instrument an die Hand zu geben. Als naheliegende Lösung kristallisierte sich deshalb im Entwicklungsprozess heraus, den Meldevorgang in die Lernmanagementsysteme (LMS) zu integrieren, die an den Hochschulen für die Verwaltung des Lehrbetriebs eingesetzt werden. Dann könnten Dozenten ihr Interesse an einem Text zum Beispiel bereits anmelden, wenn sie im LMS einen Raum für ihre Lehrveranstaltung belegen.
Die Erfahrungen aus dem ersten Semester der Pilotphase seien sehr positiv, berichtete VG-Wort-Vorstand Rainer Just bei der Vorstellung der ersten Auswertungsergebnisse im Rahmen einer Veranstaltung des Verleger-Ausschusses in Frankfurt. Das Meldesystem werde von den Dozenten „weithin akzeptiert“, der befürchtete Widerstand gegen den zusätzlichen Verwaltungsaufwand sei ausgeblieben (zu Auswertungsergebnissen im Detail siehe den Abschnitt „Pilotprojekt an der Uni Osnabrück“ am Ende des Artikels). Im Mai will die VG Wort einen Abschlussbericht vorlegen. Im Verlauf dieses Jahres soll der Test auf weitere Universitäten ausgedehnt und das Meldeportal in die gängigen LMS integriert werden.
Für die Verlage, deren Texte in digitalen Semesterapparaten verwendet werden, entsteht durch das Meldeverfahren zunächst einmal kein zusätzlicher Aufwand. Die nötige bibliografische Datenbasis für das Portal liefert das Verzeichnis lieferbarer Bücher (VlB). Wenn also die VG Wort ab 2016 Lizenzgebühren für die Nutzung von Texten in Semesterapparaten einnimmt, müssen die Verlage, die mit einer Beteiligung rechnen können, nicht mehr tun, als ihre VlB-Daten zu pflegen.
Diese Variante hat für die Verlage aber auch einen Nachteil: Sie haben keinen Einfluss auf die Preisgestaltung, und der von der VG Wort aufgerufene Seitenpreis ist bescheiden. Auch das verdanken die Verlage dem BGH: Der legte in seinem Urteil fest, dass eine „angemessene Vergütung“ im Sinne des § 52a Abs. 4 UrhG bei 0,8 Cent pro Seite und Teilnehmer liegt (siehe Abschnitt „Definitionen des BGH“ am Ende des Artikels). Gefordert hatte die VG Wort in dem Gerichtsverfahren einen Seitenpreis von 10 Cent.
Aufwand für höheren Preis
Wenn Verlage einen höheren Seitenpreis als 0,8 Cent erzielen wollen, kommt Variante 2 ins Spiel. Denn der BGH befand auch, dass die Anwendung der Urheberrechtsschranke § 52a UrhG nicht „geboten“ ist, wenn ein Verlag die Nutzung „zu angemessenen Bedingungen“ anbietet (siehe Abschnitt „Definitionen des BGH“ am Ende des Artikels). Heißt konkret: Die digitalen Lizenzierungsangebote von Verlagen haben unter bestimmten Voraussetzungen Vorrang vor einer 52a-Lizenz der VG Wort.
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Allerdings hat das OLG Stuttgart im Februar Anforderungen an ein solches „vorrangiges Angebot“ festgelegt (siehe Abschnitt am Ende des Artikels), und die haben es in sich, z.B.:
- Das Angebot für die Universitäten muss passgenau sein, d.h. die Universitäten müssen genau jene Seiten kaufen können, die der Dozent haben will.
- Der anbietende Verlag muss Inhaber der erforderlichen Ausschließlichkeitsrechte sein, konkret des digitalen Vervielfältigungsrechts (§ 16 UrhG) und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a UrhG). Daran hapert es oft bei Büchern, für die der Verlag Agenturfotos oder Illustrationen verwendet hat.
- Das OLG fordert zwar eine „angemessene Lizenzgebühr“, gibt aber nur vage Anhaltspunkte, bis zu welcher konkreten Höhe eine Gebühr „angemessen“ ist.
Mit anderen Worten: Um diese Option zu ziehen, müssen viele Verlage erheblichen Aufwand treiben, um die technischen und rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Diese Arbeit können sie sich zwar von dem Dienstleister Booktex (www.booktex.com) abnehmen lassen: Das Tochterunternehmen der Verlagskooperation utb wurde im vergangenen Jahr eigens gegründet, um die Lizenzierung von Texten für Semesterapparate zu organisieren. 22 kleinere und mittlere Wissenschaftsverlage haben Booktex bereits beauftragt. Die Preisgestaltung überlässt das Unternehmen den Verlagen, gibt aber Empfehlungen. Im Rahmen eines „vorrangigen Angebots“ könnten die Verlage Seitenpreise von 1 bis 4 Cent für „einfache“ Texte bzw. 2 bis 9 Cent für angereicherte Angebote erzielen, empfiehlt der Dienstleister.
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Wie groß der neue Markt für die Wissenschaftsverlage überhaupt sein wird, ist aber noch unklar. Da die Universitäten in den vergangenen Jahren nicht dokumentiert haben, welche Texte in Semesterapparaten verwendet werden, stehen die Verlage vor der sprichwörtlichen Black Box. Auch die recht hoffnungsvollen Zahlen des Osnabrücker Pilotprojekts sind einstweilen mit Vorsicht zu genießen: Erst ab kommendem Jahr müssen die Hochschulen pro abgerufener Seite auch bezahlen; dann dürfte sich die Frage nach der Akzeptanz des Meldesystems neu stellen.
Text: David Wengenroth
§ 52a UrhG
- Die Vorschrift etabliert eine sog. Urheberrechtsschranke, d.h. sie schränkt das Urheberrecht im Interesse der Allgemeinheit ein
- Der Paragraf wurde 2003 zunächst befristet in das Urheberrechtsgesetz aufgenommen und wiederholt verlängert. Seit November 2014 gilt er unbefristet
- Kurzbeschreibung: § 52a UrhG erlaubt unter bestimmten Voraussetzungen, Texte im Intranet von Hochschulen auch ohne Genehmigung des Rechteinhabers öffentlich zugänglich zu machen
- Tatbestandliche Voraussetzungen (§ 52 a, Abs. 1 UrhG):
(1) Öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung im Intranet einer Hochschule
(2) Veranschaulichung im Unterricht
(3) Kleine Teile eines Werkes, Werke geringen Umfangs oder einzelne Beiträge
(4) Gebotensein (zum jeweiligen Zweck)
(5) Keine Verfolgung kommerzieller Zwecke
- Vergütung: Dem Rechteinhaber ist eine „angemessene Vergütung“ zu zahlen, die nur über eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden kann (§ 52a Abs. 4 UrhG)
Quelle: VG Wort, buchreport
Definitionen des BGH
- Kleine Teile eines Werkes sind bis zu 12% eines Werkes, höchstens aber 100 Seiten
- Werke geringen Umfangs sind Werke mit bis zu 25 Seiten Umfang
- Nicht geboten ist die öffentliche Zugänglichmachung gemäß § 52a UrhG, wenn der Rechteinhaber die Werke oder Werkteile in digitaler Form und zu angemessenen Bedingungen für die Nutzung im Intranet der Hochschule anbietet (siehe Kasten „Vorrangiges Angebot“)
- Angemessene Vergütung im Sinne des § 52a Abs. 4 UrhG ist eine Vergütung von 0,8 Cent pro Seite und Teilnehmer
- Veranschaulichung im Unterricht ist in einem weiten Sinne auszulegen und auch dann gegeben, wenn der Text dazu geeignet ist, den im Unterricht behandelten Lehrstoff zu vertiefen oder zu ergänzen
Quelle: VG Wort, buchreport
Pilotprojekt an der Uni Osnabrück
Die VG Wort hat an der Universität Osnabrück erstmals ein Meldeportal für die Lizenzierung von Texten gemäß § 52a UrhG eingerichtet und getestet. Die Ergebnisse des Pilotprojekts an der Hochschule sind ein erster Anhaltspunkt, wie viele Texte künftig für digitale Semesterapparate gemeldet und abgerechnet werden könnten.
Die Kennzahlen fürs Wintersemester 2014/15:
- An der Universität Osnabrück gibt es 12.700 Studierende in 180 Studiengängen, 217 Professoren und 255 wissenschaftliche Mitarbeiter.
- 170 Lehrende haben für 224 Kurse Semesterapparate angemeldet.
- Insgesamt gab es 1000 Meldungen für 17.000 lizenzierte Seiten in digitalen Semesterapparaten.
- Im Durchschnitt sind dies 77 Seiten pro gemeldeter Veranstaltung.
- Es wurden vor allem kulturwissenschaftliche Texte angefragt.
- Ca. 70% der genutzten Texte und Textteile waren älter als fünf Jahre.
- 79% der angefragten Texte waren in deutscher Sprache, 17% in englischer und 4% in anderen Sprachen.
- Bei ca. 40% der Buch-Meldungen wurde keine ISBN angegeben.
- Bei ca. 90% der angefragten Zeitschriften fehlte die ISSN.
Quelle: Universität Osnabrück, VG Wort, buchreport
Wichtige Urteile zu § 52a UrhG
- BGH 20.3.2013 – I ZR 84/11 „Gesamtvertrag Hochschul-Intranet“ Stichworte: Kleine Teile eines Werks, Nutzungsbezogene Abrechnung, Vorrang angemessenes Verlagsangebot
- BGH 28.11.2013 – I ZR 76/12 „Meilensteine der Psychologie“ Stichworte: Veranschaulichung im Unterricht, Ermöglichen von Abspeichern und Ausdruck
- OLG Stuttgart 11.2.2015 – 4 U 171/11 Stichworte: Voraussetzungen für ein vorrangiges Verlagsangebot
Quelle: buchreport
Anforderungen „vorrangiges Angebot“
Die Anwendung von § 52a UrhG ist ausgeschlossen, wenn ein Verlag die Werke oder Werkteile zu angemessenen Bedingungen zur digitalen Nutzung anbietet. Voraussetzungen für ein vorrangiges Angebot sind nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart:
- Vorliegen des Textes in digitaler Form
- Passgenaues Angebot
- Schnelle Verfügbarkeit
- Bestehendes Lizenzangebot
- Möglichkeit von Abspeichern, Download und Ausdruck
- Angemessene Vergütung des Autors
- Angemessene Lizenzgebühr
- Anbieter muss Inhaber des Ausschließlichkeitsrechts sein
Quelle: VG Wort, buchreport
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