Die Münchner Direttissima-Konferenz 2016, bei der buchreport und pubiz.de Medienpartner sind, brachte Digital-Stars, neue Gesichter und Branchen-Nachwuchs zusammen.
Wie muss ein Fachkongress für Verlags-Professionals heute aussehen? Die Direttissima der gleichnamigen Münchner Web-Agentur versuchte eine Antwort darauf. Der Ansatz: Erfahrungen aus anderen Branchen – mutig – in die Verlagsbranche transferieren. Die Bilanz zum Debüt fällt nicht schlecht aus.
Geladen war in die Kongresshalle der alten Münchner Messe. Im Ambiente der Sechziger- und Wirtschaftswunder-Jahre ließen sich vielleicht Antworten finden, wie das „Wunder“ der New Economy stärker abstrahlen könnte auf die Old Economy der Verlage. Und etwa 300 U40s – darunter nach Angaben der Veranstalter etwa 280 zahlende Teilnehmer – leisteten zum Eintrittspreis von 129 Euro inklusive Imbissen, Getränken und Party der Einladung Folge. Eine realistische Zahl.
Die ausgezeichnete Vernetzung und die intensive Werbung von Robert Goldschmidt und Felix Wegener (Foto oben) von der Webagentur Direttissima sind nicht ohne Wirkung geblieben. Es wäre sicherlich wünschenswert gewesen, wenn aus der Branche ein paar Führungskräfte mehr den Weg zur Alten Messe München gefunden hätten. Was ist ihnen entgangen? Was hätten Sie an Informationen, Thesen und Prinzipien mitnehmen können?
1. Vertrauen in die digitale Reichweite gewinnen. Museums-Berater Christian Gries zeigte in seinem Vortrag – mutigerweise dem ersten in der Session –, wie Museen und Kunstsammlungen sich und ihre Exponate im digitalen Zeitalter weit öffnen für die verschiedensten Zielgruppen. Das war nicht immer so. Probleme mit den Bildrechten und die allgemeine Scheu vor dem „Ausverkauf” hehrer Werte sorgten, wie in allen Teilen der Kulturwirtschaft, jahrelang für Zurückhaltung. Nun stellen Museen Hunderttausende von Objekten frei zugänglich im Web aus – ein Vielfaches der wenigen Tausend Werke, die in den Sälen hängen. Die Reichweiten von Metropolitan Museum, Städel und anderen großen Kunsttempeln sind seitdem um Zehnerpotenzen gestiegen. Statistiken belegen, dass dieser Bedarf komplementär zu dem Bedarf der physischen Museumsbesucher ist – denn auch in den Sammlungen und Ausstellungen steigen die Nutzerzahlen explosionsartig. Das Kongress-Publikum stellte keine Fragen, zum Beispiel nicht die, ob die Erfahrungen öffentlich bestellter und bezahlter Museums-Organisationen mit Gratis-Content vergleichbar sind mit denen privatwirtschaftlicher Unternehmen, die mit einer Ware handeln, die der Verbraucher kaufen muss oder illegal herunterladen kann.
2. Das Scheitern von Projekten hinnehmen als normalen Teil der Exploration neuer und sich wandelnder Märkte. Dies war das Thema von „NeinQuarterly“ Eric Jarosinski (Foto oben: re., neben Richard Gutjahr). Als „Twitter-Philosoph” ist er in die Medien-Geschichte eingegangen. Er berichtete auch von persönlichem Scheitern. Er setzte seiner Karriere als Germanistik-Professor an einer amerikanischen Universität selbst ein Ende und führt seitdem als freier Denker eine riskante Existenz. Wie Jarosinski selbst sagt, muss er den Beweis eines produktiven, kreativen Scheiterns selbst noch erbringen. Ganz sicher aber ist sein Ansatz bedenkenswert, dass das Scheitern eines unternehmerischen Projekts von seiner Stigmatisierung befreit werden muss und eine Kultur der Nutzbarmachung von Misserfolg für eine Medienbranche im Wandel unerlässlich ist.
3. Autorität ersetzen durch Authentizität. In der rasch veränderlichen Welt digitaler Medien zählen heute weniger die Dienstjahre, die Jobtitel und die Größe des geführten Teams. Dafür kommen ins Spiel Faktoren wie die Vernetzung mit der Zielgruppe oder die intuitive Erfahrung mit dem Medium und seinen Verbreitungsmechanismen. So argumentierte Dirk von Gehlen von der „Süddeutschen Zeitung“. Spätestens seit seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar”, 2011 im Crowdfunding-Verfahren finanziert, wird er zu den Vordenkern einer Entfesselung des Buchs vom Medium des unveränderlichen Codex gezählt. Die angemaßte Allwissenheit der Hierarchen endet heute dort, wo rascher Wandel dieses Wissen täglich entkräftet. An die Stelle des Allwissens setzt von Gehlen eine fröhliche Ratlosigkeit, die auch erfahrene Profis zu einem offenen Anfänger-Geist führt. Erst auf dieser Basis können echte Kreativität und hierarchiefreier Team-Spirit entstehen. Als Sinnbild dieser Ratlosigkeit hat von Gehlen den „Shruggie” gefunden – ein Emoticon, das die menschliche Geste des Schulterzuckens nachstellt.
4. Neue Chancen rasch wahrnehmen. Etwa die Chancen, die neue Verbreitungswege für Kommunikation bieten. Der Journalist Richard Gutjahr (Foto oben) exerzierte dies anhand von Snapchat durch. Nach einigen Jahren der stillen Inkubation bricht dieser neue Messenger zur Zeit alle Rekorde, indem er alle Regeln der vorigen Social Media bricht. 2,5 Mio meist junge Deutsche nutzen ihn täglich. Vor allem visueller Content wie Videos und Fotos funktioniert ausgezeichnet auf Snapchat, argumentierte Gutjahr. Snapchat ist laut Gutjahr für Storytelling prädestiniert. Einige Medienmarken sind bereits präsent. Jetzt sei der Zeitpunkt außergewöhnlich günstig, einzusteigen, falls man eine Zielgruppe um die 20 Jahre erreichen möchte.
Jenseits des Fachprogramms war der Netzwerk-Faktor sehr zufriedenstellend, die Location gut erreichbar, das W-LAN stabil. Führungskräfte, die ihrem Nachwuchs diese Motivations-Veranstaltung gegönnt haben, hätten das Geld sicher weit schlechter ausgeben können.
Fotos: Raimund Verspohl
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