SPIEGEL Online nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Diesmal: Ralf Rothmanns Roman „Im Frühling sterben“ steigt neu auf Platz 16 in die SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Diskutiert wird die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?
Keller: Ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht: Ich habe versucht, Ralf Rothmanns neuen Roman „Im Frühling sterben“ nebenbei zu lesen. Draußen. In Gesellschaft. Bei gutem Wetter. Und unbeschwerter Laune. Das war ungefähr so unvereinbar wie Laktoseintoleranz und Milch oder weiße Sonntagskleider und Kohle. Ist Rothmann ein Schriftsteller für die ernsten, einsamen Stunden?
Hammelehle: Du willst mit diesem Vergleich doch nicht etwa auf Ralf Rothmanns Romantitel „Milch und Kohle“ anspielen?
Keller: War vielleicht ein bisschen plump.
Hammelehle: Was „Im Frühling sterben“ angeht – der entscheidende Höhepunkt der Handlung wird bereits auf dem Buchumschlag verraten: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs erhält ein halbwüchsiger Soldat den Befehl, seinen fahnenflüchtigen Freund zu erschießen. Man weiß also, worauf es hinausläuft. Ich habe das Buch trotzdem mit atemloser Faszination gelesen, hineingezogen in diese Welt der Dorfkneipen, der Schnapstrinker, der Landser und ihrer jungen Freundinnen. Der Ernst des Lebens ist eben vor allem auch Leben bei Rothmann. Weil er so lebendig erzählt.
Keller: Wenn man den Klappentext nicht liest, könnte man es spätestens auf Seite 13 erahnen. Dort wird dieser Vers aus dem alten Testament zitiert: „Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“
Hammelehle: Rothmann, der oft – so in „Milch und Kohle“ über seine Mutter – autobiografisch erzählt, verknüpft die Geschichte der standrechtlichen Erschießung mit seiner eigenen Familiengeschichte. Walter, die Hauptfigur des Romans, ist sein eigener Vater. Dass der dann sein ganzes Leben lang an dem trägt, was er getan hat, wird in der Rahmenhandlung klar. Wobei ich finde, es hätte dieser Rahmenhandlung gar nicht bedurft. Von mächtiger Wucht sind die Szenen, die in den letzten Kriegswochen spielen.
Keller: Die Rahmenhandlung ist aber doch insofern wichtig, weil eine Fragestellung des Buchs ist, ob Eltern ihren Kindern Traumata weitervererben.
Hammelehle: Stimmt. Wobei mich da vor allem die Szene beeindruckt hat, in der Walter aus dem Krieg wieder zu seiner Familie kommt. Diese knapp skizzierte Lieblosigkeit der Mutter. Dass dem Ich-Erzähler der Rahmenhandlung dann aber auf dem Weg zum Grab der eigenen Eltern ausgerechnet Schuberts „Winterreise“ durch den Kopf geht: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“ Man sollte nicht alle Verbrechen des 20. Jahrhunderts mit der deutschen Romantik verknüpfen. Und nun sag bitte nicht, dass Schubert Österreicher war. Der entscheidende Österreicher in diesem Roman ist ein anderer, Adolf Hitler, auch wenn der in den letzten Kriegstagen nur noch indirekt Macht hat, weil er das Denken beherrscht. Das Naziregime, das Rothmann beschreibt, ist ja nicht von bösartiger Leidenschaft wie die frühen Nazis, sondern von überreizter, ausgebrannt wirkender Grausamkeit. Ein hübsches Detail ist, dass Walter von der Waffen-SS-Division Frundsberg zwangsverpflichtet wird – man könnte an Günter Grass denken, der tatsächlich bei dieser Division war.
Keller: Und das soll ich lesen – wenn ich das nächste Mal bei trübem Wetter und voller Konzentration irgendwo alleine bin?
Hammelehle: „Im Frühling sterben“ ist ein grandioser Roman, der stärker sein dürfte, als jede Leseumgebung – und viel mehr ist als bloß ein Antikriegsroman, als der er immer wieder bezeichnet wurde. Das beste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe.
Maren Keller ist Redakteurin beim KULTUR SPIEGEL. Sie mag Ralf Rothmann schon deshalb, weil er sagt, er habe erst nach seinem Wegzug bemerkt, was für ein poetischer Ort das Ruhrgebiet sei. Sie kommt aus Bochum.
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur beim SPIEGEL. Er war einmal in Bochum und hat dort den Schriftsteller Wolfgang Welt besucht.
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