Sie gehörten 1999 zu den Testern der ersten Generation von E-Book-Lesegeräten und erklärten damals: „Der Versuch, Texte in reine Datenströme aufzulösen, geht nicht auf.“ Wiederholen Sie heute diese Aussage?
Nein, aber wer sich heute an die Debatten von damals erinnert, wird feststellen, dass sich tatsächlich etwas Grundlegendes geändert hat, das damals noch nicht einmal zu ahnen war. Es geht heute doch längst nicht mehr darum, ob man Bücher auf irgendwelchen Geräten lesen will: Das E-Book ist der entscheidende Schritt im radikalen Umbau des gesamten Distributionswegs von Papier-Literatur. Wobei es selbst nur ein eher kurzlebiges Übergangsprodukt sein wird, das die Türe zur Lektüre auf allen möglichen elektronischen devices aufstößt. Wer meint, dabei handele es sich nur um ein weiteres Ausgabeformat, übersieht, dass das E-Book – und mit ihm die digitale Bereitstellung der Bücher in den Verlagen, die Volltextsuche im Netz etc. – in einen Gesamtprozess gehört, der das gesamte System aus stationärem Buchhandel, Literaturkritik, literarischen Institutionen, Autorenlebensläufen grundsätzlich in Frage stellt.
Inwiefern?
Buchhändler und Schriftsteller etwa waren ja Partner in einem kulturellen System. Ja, man kann sagen, der Roman selbst, als Form, trat seinen Siegeszug mit dem Buchdruck nur deshalb an, weil er ein ideales Packmaß darstellte. Also steht zu vermuten, dass die literarischen Formen, die wir kennen, sich grundsätzlich wandeln oder gar verschwinden werden, wenn die Kultur sich auflöst, in der sie entstanden sind. Im Gegenzug darf man gespannt sein, welche neue Formen die neuen Möglichkeiten hervorbringen. Es ist naiv anzunehmen, E-Books seien lediglich Buchabspielgeräte.
2000 wurde diese Diskussion auch schon geführt, doch von den literarischen Experimenten der Hypertext-Literatur ist nichts geblieben.
Die medialen Bedingungen sind heute andere. Als ich 1999 die Autoren-Community „Null“ ins Leben gerufen habe, ließen die Redakteure der Feuilletons sich die Texte noch von ihren Sekretärinnen ausdrucken, weil das Internet ihnen so fremd war. Inzwischen hat es sich umgekehrt: Das Netz ist der Basisraum unserer täglichen Information und das gedruckte Buch längst zu etwas Anachronistischem geworden in unserer Welt – ich liebe es dafür. Das hat Konsequenzen für Produzenten wie für Rezipienten, wobei interessanterweise momentan die Leser im Netz viel weiter sind als die Autoren. Nur wenige Schriftsteller reagieren schon auf das, was mit ihnen im Netz passiert.
Und doch wird Ihr neuer Roman bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen – während Stephen King ein Buch exklusiv für den Kindle veröffentlicht. Warum?
Es ist ja nicht so, dass ich die technologischen Veränderungen begrüße, im Gegenteil: Ich trauere sehr um das, was wir gerade verlieren, die Vielfalt unserer Literaturlandschaft, diese oft sehr gebildeten Buchhändler mit ihren wunderbaren Läden, die differenzierte Literaturkritik in allen Medien, das literarischen Publikum, dessen Neugier noch aus einer breiten Kenntnis kam, und schließlich die literarischen Verlage, in denen doch neben aller Ökonomie alle den Wunsch hatten – und immer noch haben –, möglichst gute Bücher zu machen. Das sind natürlich Partner für einen Schriftsteller, die jetzt so langsam verloren gehen. Fragt sich also: Welche neuen Chancen bietet das Netz den Autoren? Zunächst einmal hat natürlich jemand wie Stephen King, der eine global agierende Marke ist, dieselben Möglichkeiten wie Musiker, nämlich sich selbst zu präsentieren und zu vermarkten. 95 Prozent aller Schriftsteller wird das aber nicht gelingen, zumal die Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes ganz andere skills erfordert als die klassischen Vertriebsformen, in denen der Verlag Agent des Autos ist.
Amazon bietet genau solche Dienstleistungen an, von der Vermarktung über die Digitalisierung bis zum Vertrieb. Wozu noch Verlage?
Man muss den Paradigmenwechsel sehen, der da geschieht. Amazon ist nichts anderes als ein Distributor, und sich in den Bauch eines solchen zu begeben, macht mir schon Bauchschmerzen. Auch wenn Amazon jetzt eine Art literarischer Öffentlichkeit im Netz nachzubauen beginnt, ist die Firma ja nicht an literarischen Inhalten interessiert. Sie entwickelt vielmehr so eine Art literarischen Center-Parc im Internet, einen dieser künstlichen Urlaubsorte mit überdachter Tropen-Atmosphäre, in diesem Fall für Leser, d.h. genauer: für Bücherkäufer. Auch, wenn sich dort bald Schriftsteller wie Leser austauschen und vielleicht besser werden informieren können als im stationären Buchhandel und in den Zeitungen, bleibt doch der Fakt, dass – so, wie Einkaufsmalls überall die öffentlichen Plätze ersetzt haben – Amazon dabei ist, das zu ersetzen, was bisher „literarische Öffentlichkeit“ hieß.
Ist die Angst vor Amazon, Google & Co. eine Angst vor dem Neuen?
Wenn man liest, dass Facebook versucht hat, in der neuesten Änderungen seiner AGBs festzuschreiben, dass alle eingestellten Inhalte der Firma gehören und nicht ohne weiteres von den Produzenten wieder entfernt werden können, finde ich ein gewisses Misstrauen gegenüber der all zu leichtfertigen Bemusterung solcher Portale schon berechtigt. Was die Literatur angeht, haben wir leider die Situation, dass alle öffentlichen Initiativen zur Digitalisierung viel zu halbherzig betrieben wurden, so dass an Google nun niemand mehr vorbei kommt und schon deshalb Googles Umgang mit dem Urheberrecht misstrauisch machen kann. Das Urheberrecht ist einer der zentralen gesellschaftlichen Vereinbarungen, mit der die berechtigten Interessen des Künstlers oder Forschers nach Honorierung und die Notwendigkeit der Gesellschaft, allen freien Zugang zum Wissen zu gewähren, einen Ausgleich finden. Diesen Ausgleich einem Quasi-Monopolisten zu überlassen, scheint mir heikel; es gäbe schon Gründe für die Enteignung von Google.
Ist das System denn noch zu retten? Der Börsenverein und die VG Wort machen juristisch Front gegen Google…
Ich glaube nicht, dass das Urheberrecht, wie wir es kennen, noch wird durchgesetzt werden können, sobald man Bücher digital verbreitet. Dieser Systemwechsel, den zur Zeit alle Verlage vollziehen, öffnet zwangsläufig die Büchse der Pandora. Das vielbejubelte Ende des Digital Right Management von Apple zeigt, wohin die Entwicklung geht, und die Literatur wird es noch erheblich schwerer als die Musik haben, einen Rechtschutz der Netzöffentlichkeit zu vermitteln. Schließlich ist bei der Schrift das Verhältnis zur Kopie ja schon seit Erfindung des Buchdrucks prekär und die Vorstellung eines Originals eigentlich gar nicht vorhanden. Das machte ja den Erfolg des Buchdrucks als Medium aus. Ein plausibles neues Modell aber, um die Urheber zu schützen, gibt es nicht – das, was unter dem Stichwort Abonnement oder Flat Rate diskutiert wird, scheint mir doch geradezu zwangsläufig die Entwertung der Inhalte noch zu verstärken.
Der Einfluss, wer im Literaturbetrieb etwas erreicht, hat sich durch das Internet von den klassischen Medien zunehmend zu den Lesern verlagert, die Bücher auf Amazon bewerten.
Wobei das Besondere an diesen Kommentaren ja ist, dass damit die Hierarchisierung zwischen Text und Kommentar, die der Buchdruck vor über einem halben Jahrtausend vorgenommen hat, wieder verschwindet. Sobald ein Roman digital im Netz erscheint, steht er, wie zuletzt in der Handschriftenkultur des Mittelalters, auf einer medialen Ebene mit den Kommentaren seiner Leser. Und die sozusagen mediale Macht dieser Kommentare wiegt zwangsläufig schwerer als jedes Argument, das von außen kommt – wir erleben das gerade am beispiellosen Bedeutungsverlust der klassischen Literaturkritik.
Ist das so schlimm?
Ja, weil die Kultur, die damit verschwindet, ihre Hierarchisierungen nicht primär aus Aufmerksamkeit ableitetet, sondern aus Qualität. Inhaltlich bedeutet das: Die Kommentare auf Amazon sind fast immer reine Geschmacksurteile, die sich durch keine Kenntnis des Autors, des Themas, des literarischen Hintergrundes, ja nicht einmal des Textes, auf den sie sich richten, ausweisen müssen. Wobei sich die Hoffnung, die Vielzahl der Stimmen mendele – Stichwort Schwarm-Intelligenz – die Dummheit schon heraus, leider nicht erfüllt. Aber auch in der Konkurrenz der Plattformen werden Mechanismen der Qualitätssicherung außer Kraft gesetzt. Die Idee, die großen Marken würden im Netz als Gatekeeper reüssieren, stirbt gerade – ein beliebiger Blog kann bei Google durchaus eine besseres Ranking als etwa die New York Times erhalten, was leider sowohl für den Kenntnisstand der Leser wie auch für die Finanzierung der New York Times verheerende Folgen hat.
Jeder Autor und jeder Literaturkritiker ist von der Entwicklung des Internet betroffen. Warum gibt es so wenige, die darüber nachdenken?
Ich habe den Eindruck, es gibt einen Subtext in vielen Debatten der alten, ich sag‘ mal: Feuilleton-Öffentlichkeit, der erkennbar mit dem Verlust von Lebensmodellen zu tun hat, auch mit Angst, die ja zahlreiche Menschen in der Literatursphäre betrifft, aber es ist, als befürchte jeder, erst in dem Moment, in dem er von sich spräche, von den Veränderungen betroffen zu sein. Stattdessen finden Verschiebungen statt, zu denen für mich beispielsweise die geradezu bedingungslose Begeisterung für den ökonomischen Erfolg von Büchern gehört: als könne man daran partizipieren. Die Eisscholle schmilzt und jeder denkt, irgendwie werde er sich schon retten können.
Wird denn die Literatur im Netz überleben?
Ich bin sehr gespannt auf die neuen Formen literarischer Phantasie, die unter diesem Druck entstehen werden. Denn: Es ändert sich ja nichts daran, dass Sprache das wunderbarste Medium zur Beschreibung der Welt und unserer Hoffnungen und Ängste ist.
Die Fragen stellte Daniel Lenz
Zur Person: Thomas Hettche
1964 in Treis am Rand des Vogelsbergs geboren, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Nach Stationen in Frankfurt am Main, Krakau, Venedig, Rom und Los Angeles lebt er seit 2005 mit seiner Familie in Berlin und in Erschmatt in der Schweiz. 1999 gründete Hettche die literarische Community „NULL“. zuletzt erschienen der USA-Roman „Woraus wir gemacht sind“ (2006) sowie 2007 „Fahrtenbuch 1993-2007“, eine Auswahl von Essays, Feuilletons und Reportagen (beide Kiepenheuer & Witsch).
Foto: Herlinde Koelbl
aus: buchreport.magazin 3/2009
DasUrheberrecht lässt sich NICHT durchsetzen, schon jetzt findet man auf Piratebay und co so ziemlich die gesamte Weltliteratur als PDF zum Download.
Also Kulturflatrate einführen, eine andere Lösung gibt es nicht.