Am 31. Juli vor 76 Jahren wurde Cees Nooteboom geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an den 1980 erschienenen Roman „Rituale“, der dem Autor zum Durchbruch verhalf. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.
Rituelen
Hauptgattung: Epik/Prosa, Untergattung: Roman, (ndl.; Rituale, 1984, H. Herrfurth)
Erst mit seinem dritten Roman, der 1980 erschien, nach Philip en de anderen, 1955 (Philip und die anderen, 2005), und De ridder is gestorven, 1963 (Der Ritter ist gestorben, 2006), gelang dem Autor der Durchbruch als Erzähler. Bis dahin hatte er sich vor allem als Lyriker und Verfasser von Reisereportagen einen Namen gemacht.
Im ersten Teil (»Intermezzo«) des kurzen dreiteiligen Romans, der 1963 spielt, erinnert sich die Hauptfigur, Inni Wintrop, freilich in der objektiven dritten Person, an seinen Selbstmordversuch, nachdem ihn seine Frau Zita verlassen hat. Im zweiten Teil (»Arnold Taads«) wird von der Begegnung des 20-jährigen Inni mit Arnold Taads, einem Freund seiner steinreichen Tante Thérèse, im Jahr 1953 berichtet. Dieser ältere, in mönchischer Abgeschiedenheit lebende Herr, dessen Skileidenschaft, gekoppelt mit seiner negativen Einstellung zum Leben, ihn jeden Winter in einer einsamen Alpenskihütte verbringen lässt, wird trotz seines abweisenden Wesens zu einem Ersatzvater für Inni. Er führt dem planlos dahinlebenden jungen Mann ein von Stunde zu Stunde eisern geregeltes Dasein vor, das Inni zugleich abstößt und beeindruckt.
Das Ritual eines Daseins, das die amorphe Masse der Zeit durch Planung scheinbar überlistet, erinnert ihn an ein anderes Ritual seiner Kindheit, jenes der katholischen Messe. Die verführerische Anziehungskraft dieser Rituale resultiert aus ihrem Vermögen, dem Chaos die Stirn zu bieten, das auch dem am Leben nicht wirklich teilhabenden, beobachtenden Inni Angst einjagt. Zugleich erkennt er den engen Zusammenhang zwischen den Ritualen und dem Tod: Arnold Taads wird so sterben, wie er es vorhergesagt hat. Er erfriert nach einem Unfall in seinem Alpental, ein kaum verhüllter Suizid des von der Existenzphilosophie faszinierten Mannes, der Inni gestanden hatte, sich selbst nur mit Abneigung zu begegnen und sich als Mensch abzulehnen.
Taads‘ Einfluss auf das Leben seines Schützlings ist freilich nicht nur intellektueller Natur. Er überredet Thérèse, die mit ihrem ständig betrunkenen Mann in einer protzigen Brabanter Villa residiert, Inni finanziell zu unterstützen. Ein Erbe von ihr wird ihm ein von beruflichen Zwängen freies Leben ermöglichen, während die intensive sexuelle Begegnung mit ihrem Dienstmädchen Petra ihm auch einen Lebenssinn vermittelt, gleichsam Religion und Ritual, den ›Ehrendienst der Frauen‹, der von nun an sein Leben füllen wird.
Im 1973 spielenden dritten Teil, »Philip Taads«, begegnet der 40-Jährige in einem auf japanische Kunst spezialisierten Antiquitätengeschäft Philip, dem Sohn seines Mentors, von dessen Existenz er bis dahin nichts wusste. Dieser, ein Anhänger der Zen-Philosophie, mönchisch gesonnen wie sein Vater, den er nicht gekannt hat, versucht sich in der weißen Leere seines Zimmers durch Meditation von sich selbst ›zu befreien‹. Er ist ein Kenner japanischer Raku-Schalen und ein Spezialist der Teezeremonie. Nach dem Erwerb einer außergewöhnlich schönen und teuren Schale, auf die er sein ganzes Leben gespart hatte, lädt er Inni und den Antiquitätenhändler Riezenkamp zu einer Teezeremonie ein. Kurz darauf ertränkt er sich. In seinem Zimmer findet man die zerschmetterte Schale.
Als Grundthema des in seiner zeitlichen Komplexität eigenwillig strukturierten Romans dürften die Versuche der Hauptfiguren angesehen werden, dem scheinbar sinnlosen und amorphen Leben eine rettende Form zu verleihen. Dies gelingt nur vordergründig im Ritual, dessen vertrackter Hintersinn es ist, bei vollkommener Perfektion den Tod herbeizuführen. Die verschiedenen über das Buch verteilten Motti und Zitate aus Arbeiten von Cioran, Fontane, Stendhal und Okakuro Kakuzo (Das Buch vom Tee) weisen zusätzlich auf diese Tendenz hin. Zwar gelingt es Inni nicht, durch seine keineswegs nur mystische, sondern durchaus handfeste Frauenverehrung Leben und Zeit wirklich in den Griff zu bekommen, aber immerhin führen seine Rituale zurück zum Leben. Seinem misslungenen Selbstmord am Anfang des Romans entspricht die zerschmetterte Raku-Schale am Ende.
1989 wurde der Roman in den Niederlanden unter der Regie von H. Curiel verfilmt.
Lit.: H. Harbers: Rituelen, in: Lexicon van literaire werken. • U. Schmitzer: Der Tod Laokoons im 20. Jh. Zur Vergil-Rezeption in C. N.s ›Rituale‹, in: Arcadia 1–2, 1992, 190–196. • H. van Belle: Zichzelf kon hij niet zien, 1997.
Rein A. Zondergeld
Zur Person: Cees Nooteboom
geb. 31.7.1933 Den Haag (Niederlande)
d.i. Cornelis Johannes Jacobus Maria Nooteboom
Klosterschüler; trampte 1953 durch Europa; 1955 Debütroman Philip en de anderen (Philip und die anderen); 1956 Debütgedichtband De doden zoeken een huis (Die Toten suchen ein Haus); dann als Reisejournalist tätig (u. a. Ungarnaufstand 1956, Paris Mai 1968); 1961–1968 Redakteur der Zeitung De Volkskrant; 1980 erster Roman seit 17 Jahren Rituelen (Rituale); sein Werk, Prosa wie Poesie, zeigt manieristische Züge, die Hauptmotive sind Identitäts- und Sinnsuche in einem endlichen Leben.
Übers.: Gesammelte Werke, 8 Bde, Hg. S. Schaber 2003–2006. Lit.: D. Cartens: Der Augenmensch C. N., 1995. • H. van Belle: C. N., in: Kritisch lexicon van de Nederlandstalige literatuur na 1945. • H. Bekkering: C. N. Ik had wel duizend levens en ik nam er maar één!, 1997.
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