Nicht nur die Buchbranche beschäftigt sich mit dem Wandel und dem entsprechenden Change Management. Der gesamte Einzelhandel steht durch die zunehmende Verschmelzung von On- und Offline-Welt unter Druck. Im Interview beschreibt David Bosshart (Foto), CEO des Gottlieb Duttweiler Instituts, eines europäischen Think-Tanks für Wirtschaft und Gesellschaft, die Herausforderungen der „Re-Generation“.
Am 8. und. September 2011 findet im GDI Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich die 61. Internationale Handelstagung statt mit dem Titel „Re-Generation – Wie Händler und Marken auferstehen“ (hier mehr Infos).
Unter „Re-Generation“ verstehen die Forscher in eigenen Worten:
- Verjüngung vergreister Geschäftsmodelle
- Wiederherstellung von lädiertem Konsumentenvertrauen
- Rückeroberung geschrumpfter Märkte
- Wiedergeburt kränkelnder Marken
- Rehabilitierung nach zu viel Lebensmittelskandalen und Marketing-Lügen
- Rekonstruktion für einen neuen Jahrgang von Konsumenten
- Reinkarnation des Handels als Dienstleister
Wie betrifft die „Re-generation“ den Handel?
Händler sind durch ihre Nähe zu den Endverbrauchern von Veränderungen prinzipiell sehr direkt tangiert. Nicht nur Produkte, auch Läden, ja selbst Geschäftsmodelle haben ein Verfallsdatum. Danach müssen sie von Grund auf aufgefrischt werden, um attraktiv zu bleiben.
Wandel gab es schon immer.
Die Digitalisierung des Wegs zum Kunden führt zu einer Verhaltensänderung und beschleunigt die Erosion althergebrachter Gewissheiten und Usanzen brutal. Neue Kommunikations-, Abverkaufs- und Zahlungssysteme bewirken derzeit einen massiven Sprung in der Entwicklung. Allerdings wird dieser Sprung noch von vielen Händlern gar nicht wahrgenommen, verharmlost oder gar negiert – im Stil von: „Mich betrifft das nicht, ich verkaufe Lebensmittel da müssen bloß Frische und Preis stimmen, dann kommen die Kunden von alleine.“
„the slower you move, the faster you die“
Die Händler unterschätzen die Entwicklung?
Und wie, „the slower you move, the faster you die.“ Der Handel befindet sich in einem Umbruch, wie er ihn zuletzt bei der Erfindung des Warenhauses erlebte. – Es ist bezeichnend, dass gerade dieses schon so häufig totgesagte Format jetzt wieder besonders gefordert ist. Wir tragen dieser Entwicklung an der Tagung mit einer Reihe von hochkarätigen Vertretern Rechnung: Andrew R. Jennings von Karstadt, Lovro Mandac von Galeria Kaufhof oder Marcel Dietrich von den Magazinen zum Globus.
Wer wird verschont?
Niemand, egal ob ich Esswaren oder Möbel verkaufe. Aber es bestehen Unterschiede in Bezug auf die Dringlichkeit und das Ausmaß einer Erneuerung: Nicht jeder muss sich gleich schnell anpassen, aber anpassen muss sich jeder. Besonders stark ist der Händler mit seinem Ladenkonzept gefordert, aber auch jeder, der im Hintergrund Infrastrukturleistungen erbringt. In gewissen Kategorien besteht gar mehr als nur ein Regenerierungsbedarf: Wer da nicht rechtzeitig handelt, verschwindet. Die Hauptfrage lautet in jedem Fall: Wie stark muss ich mein Geschäftsmodell ändern?
„Die Musikbranche wurde auf den Kopf gestellt, jetzt folgt der Buchhandel“
Nennen Sie Beispiele?
Die Musikbranche wurde bereits auf den Kopf gestellt, jetzt folgt der Buchhandel. Dass Unterhaltungselektronik zunehmend online verkauft wird, haben wir schon vor Jahren prognostiziert. Inzwischen hat sich Apples App Store als Category Killer erweisen. Auch der Vertrieb von Spielwaren wandert ins Internet ab, ja selbst Luxusgüter: In den USA werden monatlich vier Ferraris per Mobiltelephon gekauft. Das war vor kurzem noch undenkbar, doch die Hemmschwelle ist gesunken. Food-Händler spüren schon seit einer Weile, wie kleinere Convenience-Formate Kunden wegnehmen, mit dem rasant steigenden Abverkauf übers Internet wächst der Druck zusätzlich.
Was heißt der Wandel für die Buchbranche, die Sie erwähnen? Wie muss sie sich aufstellen?
Im Buchhandel zeichnen sich zwei zentrale Entwicklungen ab. Erstens haben sich Online-Händler wie Amazon am Markt etabliert und machen dem herkömmlichen Handel die Umsätze streitig. Zweitens existiert mit dem E-Book eine entmaterialisierte Form des Buches. Für die Leser steht nicht mehr der Besitz des Buches im Zentrum, sondern der Zugang zu dessen Nutzung. Das verändert die Bedeutung des Buchladens. Mit „Unstoring“ beschreiben wir beim GDI eine Entwicklung, welche die Funktion des Ladens als Verkaufspunkt hinterfragt. Jeder Buchhändler muss sich fragen, was seine eigentlichen Stärken sind: Beratung, Lage, persönliche Beziehungen, Selektion? Und wie lassen sich diese Stärken im Laden manifestieren? Tyler Brûlé, Herausgeber der Stilmagazins „Wallpaper“, hat kürzlich sehr treffend beschrieben, welche Vorstellung der Leser gemeinhin von einem „perfekten“ Buchladen hat. In wenigen Worten: einladend, warm, persönlich und nicht zu groß. Der Buchhandel muss seine bisherigen Geschäftsmodelle also radikal überdenken – besser heute als morgen. Denn, was die Erfahrungen aus der Musikbranche gezeigt haben: Wer im Bestehenden verharrt und zu lange zuwartet, hat das Nachsehen.
Re-Generation ist kein weiteres Buzzword
Re-Generation tönt auch nach „Nachhaltigkeit“ – ein neuer Marketing-Hype?
Na dann viel Spaß. „Green“ oder „social washing“ wird über kurz oder lang entlarvt. Wer Re-Generation nur als weiteres Buzzword sieht, wird es sehr, sehr schwer haben. Kunden fordern Glaubwürdigkeit. Dass geht vom Umgang mit Ressourcen über die Produktqualität bis zu Design oder Verpackung.
Welche Unternehmen sind Vorbilder?
Darüber werden wir an unserer Handelstagung einen Überblick geben: Wer packt’s, wer weniger? Wo stehen wir, was kommt noch auf uns zu? Die englischen Warenhäuser Selfridges, Liberty oder John Lewis (inkl. Waitrose) machen es sehr gut. In der Gastronomie ist Starbucks seit der Rückkehr von Howard Schultz auf einem guten Weg. McDonald’s sendet mit seinen neuen Beschriftungen und Konzepten ebenfalls die richtigen Signale. Hier sehen wir übrigens, dass selbst die perfektesten Systeme heute angepasst werden müssen. Die ohnehin schnelllebige Modebranche hat bereits starke Veränderungen. Und auch Telekommunikationsfirmen wissen schon lange, wie man sich permanent neu erfindet. Darüber wird uns der Swisscom-Chef Carsten Schloter an der Konferenz erzählen.
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