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Der Massenmarkt wird nur mit Mehrwert erschlossen

Wenige Wochen, nachdem der Elektronik-Gigant Sony im Schulterschluss mit Libri.de und Thalia mit der Vermarktung des Sony Reader dem E-Book zu einer Renaissance verholfen hat, prägen Déjà-vus die digitale Szene: Ähnlich wie rund um das Jahr 2000, als Geräte wie das Rocket E-Book gleichermaßen zum Hoffnungsträger und Angstobjekt einer ganzen Branche wurden, kreisen die Diskussionen von Verlagen und Buchhändlern aktuell vorwiegend um folgende Fragen: 
  • Welches Potenzial haben digitale Bücher – Hype oder künftige Cashcow?
  • Wie teuer ist die zweite E-volution insbesondere für Verlage?
  • Wie können die Rechte- und Lizenzenprobleme am schnellsten gelöst werden?
  • Mit welcher Strategie kann eine Entwertung der Print-Inhalte bzw. ein digitaler Dumpingkurs vermieden werden?
  • Wie kann die drohende Piraterie verhindert werden?
  • Kann der stationäre Buchhandel am Geschäft partizipieren?  Und wenn ja, wie?
  • Welches technische Format hat die besten Chancen, bei der zweiten Welle der E-Books Oberwasser zu behalten?
Eine Branche im Umbruch
Die Liste der Fragen ließe sich bis in die feinsten Verästelungen der Branche fortführen, und die Tatsache, dass es aktuell beinahe mehr Fragen als Antworten gibt, ist ein Indiz für das gegenwärtige Bild einer Branche mitten im Umbruch.
Doch so akut solche Fragen am Vorabend einer möglichen flächendeckenden E-volution der Buchbranche erscheinen, die Perspektive, mit welchen Produkten die Verlage und Buchhändler nach einer erfolgreichen Markteinführung von Sony Reader, Kindle & Co. mittel- und langfristig ihr Geld verdienen, steht zur Zeit weit im Hintergrund. „Die Situation wird dann bedrohlich für die Verlage, wenn sie sich zu lange vorwiegend Gedanken über Formate, Rechte und Lizenzen machen. Sie müssen dazu übergehen, den Kundenfokus und somit die Frage nach neuen inhaltlichen Formaten für elektronische Bücher in den Mittelpunkt zu rücken“, betont Marco Olavarria, geschäftsführender Gesellschafter bei Kirchner + Robrecht. 
Marktpotenzial: 19 Mio Geräte
Die Berliner Unternehmensberatung, die vorwiegend für Verlage arbeitet, beziffert das Gesamtpotenzial der elektronischen Lesegeräte allein bei den nichtprofessionellen Kunden auf rund 19 Mio Stück. 
  • Auf der Basis eines Vergleichs mit anderen Branchen wie dem Musik- und DVD-Markt haben die Berliner hochgerechnet, dass allein bis Mitte 2010 mindestens 80000 Geräte verkauft werden.
  • Erst 2013/14 erhalte der Markt einen großen Schub, bis dahin sei die Durchdringung der Zielgruppen Innovatoren und frühzeitige Anwender erfolgt und rund 1 Mio E-Reader seien im Einsatz; bis 2015 steige die Zahl auf 3 Mio Reader.
Amazon-Chef Jeff Bezos wird nicht müde, E-Books als Zusatzgeschäft auszuweisen: „Wenn die Leute einen ,Kindle‘ kaufen, setzen sie den Kauf physischer Bücher im selben Umfang fort wie zuvor. Zusätzlich kaufen sie im Schnitt noch einmal 1,6 bis 1,7 Kindle-Bücher pro physisch gekauftem Buch“. Dagegen glauben die Auguren von Kirchner + Robrecht nicht an eine endlose Erweiterung des Marktes.
Kannibalisierung ist unausweichlich
Stattdessen werde ab einem gewissen Punkt zwingend eine Kannibalisierung auf Kosten der gedruckten Bücher eintreten. Diese erfordere einerseits eine neue Form der Kalkulation, die elektronische und gedruckte Bücher umfasse und einen Gesamtdeckungsbeitrag für beide Formate berücksichtige. Andererseits müssten die Verlage dringend am inhaltlichen Profil der E-Books arbeiten und mit Blick auf die eigenen Zielgruppen eine Gesamtstrategie fürs digitale Zeitalter entwickeln.
Davon sind zumindest die Publikumsverlage in Deutschland offenbar noch weit entfernt: Ob Kindle, Libreka oder Sony, der Blick in die aktuellen Kataloge der E-Anbieter zeigt, dass der Großteil der aufgelisteten Titel nicht mehr als 1:1-Übertragungen der gedruckten Bücher ins digitale Format sind; im besten Fall, denn zahlreiche Käufer der E-Reader beschweren sich in Foren beispielsweise über fehlende Cover und Inhaltsverzeichnisse, OCR-Fehler, mangelhaften Textfluss oder Lücken im Text.

Dass solche reinen Adaptionen mittelfristig nicht reichen werden, um Kunden an das neue Format heranzuführen und besonders den vergleichsweise hohen Preis der E-Books zu rechtfertigen, liegt auf der Hand. „Der inhärente Mehrwert der E-Books besteht aktuell meist in der Portabilität und Übertragbarkeit auf verschiedene Geräte. Ob diese Vorzüge aber ausreichen werden, einen Massenmarkt zu erschließen, ist die die Frage“, meldet Verlagsberater Olavarria Zweifel an.

Zeitungsverlage sind weiter
„Die Verlage müssen neu denken: Es geht darum, das richtige Produkt zum richtigen Zeitpunkt auf dem richtigen Markt zu platzieren“, erklärt auch Matthias Heubach, Geschäftsführer beim IT-Dienstleister heubach media. Verglichen mit dem Newsdesk-Konzept von Zeitungen, die je nach Nachricht überlegten, welcher Kanal (Print, Internet, Mobilfunk) und welche journalistische Form zur Veröffentlichung von News gewählt werde, hinkten Buchverlage hinterher.
Nach Einschätzung des 35-Jährigen, der sich u.a. auf die Entwicklung von iPhone-Programmen für Verlage spezialisiert hat, werde es in Zukunft in der Buchbranche sowie anderen Einzelhandelsbranchen drei Typen von Produkten geben:
  • Image-Waren: Produkte, bei denen die Marke(nbildung) im Vordergrund steht, Beispiel: die iPhone-Applikation iHoca von Hoffmann und Campe.
  • Affekt-Produkte: Produkte, die ohne Planung im Vorfeld gekauft werden, z.B. ein Comic oder kurzer Roman am Flughafen zur unmittelbaren (Lese-) Bedürfnisbefriedigung.
  • Waren mit Mehrwert: Produkte, die gegenüber anderen Waren eine zusätzliche Qualität innehaben.
E-Books mit Mehrwert gesucht
Nicht nur für Heubach, sondern auch für den Unternehmensberater Olavarria kommt es für die Verlage besonders darauf an, solche E-Bücher mit Zusatznutzen zu konzipieren, um im digitalen Zeitaler erfolgreich agieren und den E-Books ein eigenes Profil verleihen zu können. Unterschieden werden mehrere Phasen:
  • Während laut Olavarria in der ersten „Trial and Error“-Phase gedruckte Bücher vorwiegend 1:1 ins neue digitale Format übertragen würden, die digitale Lektüre an das gewohnte Leseverhalten angepasst, aber nur ansatzweise ein Mehrwert der E-Books durch Paketierung (mit Printprodukten) erzielt würde, müssten mittel- und speziell längerfristig kreativere Geschäftsmodelle zugrunde gelegt werden.
  • Phase 2: Premiumpakete zu einem gegenüber Printprodukten höheren Preis (z.B. inklusive Interviews mit Autor oder Kritikern, Rezensionen, Making-of-Dokus oder Spielen), bei denen E-Books analog der Entwicklung von Videokassetten zu DVDs um Specials – möglicherweise sogar zu Sammlerstücken – erweitert werden.
  • In einer dritten Phase, in der ein breites inhaltliches Angebot bereits vorliegt und die Verlage mit einem integrierten Marken- und Autorenmanagement operierten, könnten Clubmodelle reaktiviert oder werbefinanzierte Lese-Communitys unterhalten werden.
  • Schließlich könnten gezielt Special-Interest-Märkte bedient werden, etwa indem Studenten  subventionierte Geräte mit vorinstallierten Inhalten (Lehrbücher, Skripte, E-Learning-Anwendungen, Videos der Lesungen) angeboten werden.
IT-Dienstleister Heubach stellt interaktiv konzipierte iPhone-Anwendungen in Aussicht: So könnte der Leser, der an einer Buchhandlung vorbeiläuft, von seinem iPhone-Programm (per GPS) die Rückmeldung erhalten, ob ein bestimmtes Buch dort im Sortiment vorrätig ist. Ebenfalls GPS-basiert: Der Leser erfährt auf Tastendruck, welche Lesungen am Abend in seiner Nähe stattfinden.
Bericht erstmals erschienen in: buchreport.spezial Herstellung & Management 2009, S. 32-35

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