Die Digitalisierung wird das Verhalten der Kunden bei der Mediensuche, beim Medienerwerb und bei der Mediennutzung grundlegend verändern. Der Schlüssel zur Zukunft des stationären Buchhandels liegt im Verständnis des Wandels dieser Kunden-Einstellungen. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die Kunden ihre Lektüre zunehmend mobil konsumieren wollen und dass das zeitlich begrenzte Mieten oder Leihen zulasten des Einkaufs an Bedeutung gewinnt. Mit diesen Entwicklungen im Blick begebe ich mich auf eine fiktive Zeitreise ins Jahr 2020, um zu sehen, wie meine Stammbuchhandlung sich auf die fortschreitende Digitalisierung eingestellt hat.
Es ist sehr mild an diesem Freitag, eine Woche vor dem Fest. Viele Menschen sind unterwegs, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Auch meine Buchhandlung ist diesen Vormittag gut besucht. Ich begrüße einige Bekannte, gehe zur Espresso-Maschine und entscheide mich für einen Milchkaffee. Mein Tablet hat sich in das freie WLAN eingeloggt und bietet jetzt Zugriff auf die digitalen Ausgaben mehrerer Tageszeitungen und Wochenmagazine.
Ich kaufe ein Croissant, finde einen Sitzplatz am Fenster und stoße im Feuilleton der „Zeit“ auf eine ganzseitige Anzeige meiner Buchhandlung. Mir ist natürlich klar, dass diese Werbung nur denjenigen angezeigt wird, die die „Zeit“ über das WLAN der Buchhandlung anschauen – eine deutschlandweite Anzeige könnte meine Buchhandlung nie bezahlen, der Laden hat kaum 150 Quadratmeter Verkaufsfläche. Aber ich freue mich trotzdem über diese Anzeige, denn in ihr finde ich die Bücher, die meine Buchhandlung diese Woche empfiehlt und am Lager hat.
Ich klicke auf den neuen Roman von Sybille Lewitscharoff und finde nun alle Informationen, die mich bei der Entscheidung über den Kauf des Buches unterstützen: eine Inhaltsangabe, das erste Kapitel des Buches, Rezensionen, Kundenkommentare und vieles mehr, auch ein Porträt der Autorin und den Mitschnitt ihrer Lesung in meiner Buchhandlung als YouTube-Video. Mit dem Klick auf das Buch von Sybille Lewitscharoff bin ich auf der Homepage meiner Buchhandlung gelandet, wo ich neben Büchern auch Musik, Filme und Games recherchieren kann.
Dank einer hinterlegten Metadatenbank finde ich zu allen Medien zahllose Zusatzinformationen wie Hörproben, Filmausschnitte und Testversionen von Games. Ich kann all diese Informationen in meine sozialen Netzwerke teilen oder in Diskussionsforen an Gesprächen über die Titel teilnehmen, die mich interessieren.
Ich muss schmunzeln, denn die Anzeige enthält auch einen Link auf den Eulen-Blog meiner Buchhändlerin, die übrigens Klara heißt. Nun interessiere ich mich überhaupt nicht für Eulen, aber Klara hat vor Kurzem damit begonnen, ihre private Passion zu einem Spezialgebiet ihrer Buchhandlung auszubauen. Zu einem sehr kleinen Spezialgebiet, denn viele Bücher über Eulen gibt es nicht. Doch auf ihrem Blog findet man nicht nur Hinweise auf lieferbare und vergriffene Bücher über Eulen, sondern auch aktuelle Meldungen, interaktive Links zu zoologischen Gärten und Vereinen, Fotos, Videos und Tierstimmen der verschiedenen Eulenarten. Klara hat mir erzählt, dass der Blog nur wenige Monate nach seiner Veröffentlichung bereits von Menschen aus 76 Ländern besucht worden ist, dass mehr als 150 Interessierte ihn abonniert haben, dass sie dort inzwischen Bücher in acht Sprachen über Eulen anbietet und in alle Welt versendet und dass in der kommenden Woche die englische Version gelauncht wird. Weitere Sprachen sollen folgen.
Die Anzeige in der „Zeit“ führt auch zu den Veranstaltungen der Buchhandlung. Klara bietet ein sehr umfang- und abwechslungreiches Programm an. Bei der Planung wird sie von einem Beirat unterstützt, den sie aus ihrer Kundschaft rekrutiert hat. Dieser Beirat, zu dem auch ein Musiker, eine Autorin und ein Theaterpädagoge gehören, hat ihr geholfen, im Lauf der Jahre in ihrem Kiez ein weitgespanntes Netzwerk aufzubauen, zu dem auch Künstler gehören, die in der nahen und weiteren Umgebung leben. Viele dieser meist jungen Kreativen haben schon bei ihr gelesen, kleine Konzerte gegeben, Vorträge gehalten, Lieblingsbücher vorgestellt, Gespräche mit anderen Künstlern geführt.
Vor einem Jahr hat sich zufällig ergeben, dass meine Buchhandlung auch zum Verlag wurde. Eine nicht unbekannte Romanautorin hatte aus einer noch unveröffentlichten Erzählung gelesen und Klara anschließend erzählt, dass dieses kleine literarische Werk wohl auch nie gedruckt werden würde. Es sei ihre einzige Erzählung und sie hätte auch nicht vor, weitere zu schreiben. Da hatte Klara ihr vorgeschlagen, den Text als E-Book zu publizieren. Heute sind im Verlag ihrer Buchhandlung schon 14 E-Books lieferbar. Es ist ein kunterbuntes Programm, die meisten Texte stammen von Autorinnen und Autoren aus der Umgebung, also von Kunden. Der Verlag, sagt Klara, bringe ökonomisch nicht besonders viel ein. Aber das mache nichts, er sei ein ausbaufähiges Standbein und ergänze die Netzwerkstrukturen ihrer Buchhandlung.
Die Buchhandlung heißt übrigens Concept: Content und dieser Name ist Programm. Man kann dort nicht nur gedruckte Bücher und E-Books, sondern auch Kinofilme, Fernseh-Serien, Hörbücher, Musik und ausgewählte Spiele kaufen oder mieten. Online 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche. Concept: Content recherchiert auch gegen eine entsprechende Gebühr, die sich aus dem Preis für die Inhalte und dem Rechercheaufwand zusammensetzt, in vorhandenen Datenbanken nach individuell gewünschten Inhalten.
Ich bin vor Kurzem nach Paris und gleich anschließend weiter nach London gereist und habe mir dazu von Klara eine Datei zusammenstellen lassen, die auf meine persönlichen Interessen abgestimmt war: Museen, asiatische Restaurants in Hotelnähe, Jazzkonzerte und natürlich alles zum Thema Katze, was sich für Paris und London finden ließ, also Katzencafés, Katzenmuseen und anderes mehr. Obwohl man bei Concept: Content alle Medien online bestellen und sich liefern lassen kann, ist die Buchhandlung gut besucht, nicht nur zur Weihnachtszeit. Das wundert mich nicht, denn der Laden ist als Treffpunkt und Kommunikationsort konzipiert. Es gibt fest installierte Sitzgelegenheiten, aber auch einige leichte, tragbare Stühle und Hocker. Die Buchhandlung existiert auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten als Kommunikationsort. An manchen Abenden treffen sich dort feste Gruppen, um über gelesene Bücher zu sprechen. Einmal im Monat bietet Concept: Content Schulungen für diejenigen Kunden an, die Beratungsbedarf beim Lesen digitaler Bücher haben.
Da Klara der Überzeugung ist, dass sie und alle anderen Läden von einer lebendigen Einkaufslandschaft im Kiez leben, hat sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen vernetzt und mit ihnen gemeinsame Aktivitäten entwickelt. So ist beispielsweise ein kleiner Stadtplan der näheren Umgebung mit Firmenporträts, Standortangabe und Kontaktdaten der Geschäfte entstanden, auf den die Startseite der Websites aller Läden verlinkt, der aber auch bei allen gedruckt ausliegt. Klara gestaltet außerdem in Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn spezielle Schaufenster in ihrer Buchhandlung: das Thema Lesen hat sie mit Brillen vom Optiker gegenüber dekoriert, zum Thema Zeit hat ihr der Juwelier interessante Uhren zur Verfügung gestellt, ihr Gesundheits-Fenster hat sie mit der aktuellen Ausgabe der immer noch gedruckt lieferbaren „Apotheken Umschau“ ausstaffiert. Außerdem veranstaltet sie mit den anderen Geschäften zweimal im Jahr ein Straßenfest, an dem sich viele Kunden mit künstlerischen Beiträgen beteiligen. Die kulturellen Highlights dieser Feste werden auf Video aufgenommen und ins Netz gestellt. Einige haben es schon auf beträchtliche Klickzahlen gebracht.
Nach der Rückkehr von meiner imaginierten Reise ins Jahr 2020 stelle ich fest, dass meine Buchhandlung in sieben Jahren technologisch auf der Höhe ihrer Zeit steht, obwohl oder besser: gerade weil es sich um ein kleines Unternehmen handelt. Sie bespielt die üblichen Kanäle der digitalen Welt, hat jedoch ein paar Aktivitäten entwickelt, die ihr ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen, nicht nur in der näheren Umgebung. Aber Klara steht auch mit beiden Beinen fest in der analogen Welt und hat ihr Geschäft zu einem lokalen Kultur- und Kommunikationszentrum entwickelt. Ihre Kunden wollen nämlich nicht nur im Netz unterwegs sein, sie suchen das persönliche Gespräch und haben in der Buchhandlung einen Ort gefunden, der gleich mehrere ihrer Bedürfnisse abdeckt.
Meine Buchhändlerin hat aus der Vergangenheit gelernt und will die Zukunft mit einem individuellen und standortbezogenen Konzept gestalten, das moderne Technologien und Kommunikationsformen integriert. 2020 werden dazu Werkzeuge und Strategien zur Verfügung stehen, die heute noch gar nicht existieren oder uns in diesem Zusammenhang noch nicht in den Sinn kommen. Doch darauf kommt es gar nicht an. Nur dies ist wichtig: Für Klara sind die digitale und die analoge Welt zwei Seiten einer Medaille.
Aus:
Detlef Bluhm (Hrsg.):
Bücherdämmerung
Über die Zukunft der Buchkultur
2014. 160 S., HC mit Lesebändchen
EUR 19,95 [D]
ISBN 978-3-650-40003-1
Blog: buecherdaemmerung.wordpress.com
Facebook: www.facebook.com/Buecherdaemmerung
Detlef Bluhm ist seit 1992 Geschäftsführer des Börsenvereins Berlin-Brandenburg und zudem Vorsitzender des Berliner Bücherfests sowie des Literaturhauses Berlin. Außerdem ist er Herausgeber und Autor von zahlreichen Romanen und Sachbüchern.
Oh Gott, Selbstausbeutung reicht nicht aus, die arme Klara muss zudem die Apotheken Umschau ins Schaufenster legen und die Werke ihrer Kunden als E-Book veröffentlichen. Bevor es soweit kommt, würde ich mir einen anderen Beruf suchen.
Mich als „kleine“ Buchhändlerin interessiert: Wie schafft
Klara das? Hat sie kein privates Leben, Ehe, Kinder? Oder ist sie gar ein
Roboter, der niemals schlafen muss?
Und womit verdient Klara jetzt genau ihr Geld? Durch Verkauf
von Backwaren und Kaffee?
Lässt der Autor hier nicht eine alte Kultur, die Wiener
Kaffeehauskultur, wieder aufleben, anstatt eine neue zu fantasieren?
Ich meine, der Autor sollte das Wort „Buchhandlung“ im Titel
streichen und durch „Cafe“ ersetzen,
denn mit Buchhandel hat dieser Artikel sehr wenig zu tun.
Arme Klara.
Also ich behaupte, der Artikel hat sehr wohl etwas mit dem Buchhandel zu tun. Er handelt von Schnelligkeit, Kreativität, Phantasie und Mut. Alles Dinge, die ein Mensch benötigt, wenn sie/er sich selbstständig macht, und ein Geschäft betreibt. Also klassische Unternehmerfähigkeiten. Und zu einem Unternehmen gehört nun mal die Gabe, alles ständig neu zu erfinden.
Im stationären sind solche Fähigkeiten eher selten zu finden. Entweder sind die im geschützten und quersubventionierten Reservat der Eitelkeiten eingeschlafen (siehe vorstehenden Kommentar), sanft entschlafen, oder waren nie vorhanden. Es ist die Evolutionstheorie die zur Realität wird. Nicht die Großen und Trägen werden überleben, sondern die Schnellsten, und die, die sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen können.
Viel verdient hat deine Klara an dir aber nicht. Na, immerhin hast du den Croissant bezahlt. Macht auch nicht jeder.
Na immerhin habe einen individualisierten Datenbank-Reiseführer gekauft. Und der war nicht gerade billig 😉
Das ist doch Satire
Super, so bekommt der Buchhandel auch die Autoren mit ins Boot und verbessert zudem seine Position gegenüber den Verlagen! Innovation und Kundenorientierung ist eben allemal besser als Parolen und reine Buchdealermentalität. Mein persönlicher Traum übrigens seit langem ein Autorenbuchladenkaffee 🙂
Super, was soll man da mehr schreiben. Das ist der Fahrplan.