Dirk von Gehlen zum Crowdfunding für Eine neue Version ist verfügbar
Die Digitalisierung verflüssigt Kunst und Kultur
Die Digitalisierung animiert Dirk von Gehlen (Foto: Daniel Hofer) dazu, Kultur als Software zu denken, als Prozess und nicht als Produkt (hier mehr). Diesen Ansatz will von Gehlen mit seinem Buchprojekt „Eine neue Version ist verfügbar“ verdeutlichen – die Vorzüge von Crowdfunding analysieren und am eigenen Beispiel demonstrieren. Im Interview mit buchreport.de skizziert der Journalist und Buch-Autor sein Projekt, bei dem Sponsoren dem Autor gegen Bezahlung über die Schulter schauen dürfen.
Dirk von Gehlen leitet bei der „Süddeutschen Zeitung“ die Abteilung „Social Media / Innovations“. Bei Suhrkamp ist 2011 sein Buch „Mashup. Lob der Kopie“ erschienen, in dem der Journalist für einen wertfreien Umgang mit der Digitalkopie sowie den Erhalt und Ausbau der Remix-Kultur plädiert (hier mehr). Aktuell (29. Oktober 2012) hat von Gehlen bereits mehr als 5000 Euro eingeworben (hier mehr); die Kampagne läuft bis Ende Dezember. Hier die Website zum Projekt „Eine neue Version ist verfügbar“, hier die Startnext-Seite und hier der Twitter-Account zum Projekt.
Die Digitalisierung verflüssigt Kunst und Kultur, ist die These Ihres neuen Buches. Können Sie das näher erläutern?
Durch das Internet verändern sich nicht nur die Vertriebswege, sondern auch die Inhalte. Deutlich wird dies am Beispiel von Wikipedia: Der Text dort ist nicht mehr nur ein Produkt, sondern ein Prozess. Bei Wikipedia entstehen die Einträge in verschiedenen Versionen, die Texte werden nie abgeschlossen. Das gilt, glaube ich, auch für Bücher – sogar, soweit ich das beurteilen kann, in einer besonderen Art und Weise.
Ich stelle mir die Buchproduktion eher wie eine Art Künstlervilla vor, in der Menschen Zutritt bekommen und sich, so sie möchten, am Prozess des Schreibens beteiligen können. Meine These: Das Buch ist kein fertiges Kulturprodukt, sondern kann auch ein Prozess sein. Diese These möchte ich in meinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar“ genauer analysieren und am eigenen Beispiel erproben.
Wie das?
Indem ich die Leser vom ersten Moment der Entstehung an einbinde und gemeinsam mit ihnen das Buch schreibe. Die Leser können mir dabei zuschauen, wie das Buch entsteht, weil ich alle Versionen des Buches offenlegen werde.
„Wenn ich scheitere, dann in aller Öffentlichkeit“
Wenn Sie scheitern…
… kann das sehr peinlich für mich werden. Wenn ich scheitere, dann in aller Öffentlichkeit. Aber ich möchte lieber sagen: Ich habe es ausprobiert und kann daraus Schlüsse ziehen. Diese Schlüsse führen mich dann vielleicht zu etwas Neuem.
Zudem können sich die Leser durch diese Offenheit und Transparenz an dem Produkt beteiligen und werden dadurch, so glaube ich, auch eine sehr viel höhere Interaktionsbereitschaft mitbringen. Dass das im Buchmarkt funktionieren kann, zeigt zum Beispiel der Erfolg von Fan-Fiction.
Wie können sich Autoren auf diese Entwicklung einstellen?
Wenn wir die Verflüssigung ernst nehmen, müssen wir den Prozess des Schreibens offenlegen. Das ist für viele Menschen schwierig, weil wir immer noch die klassische Vorstellung von kreativen Schöpfungsprozessen haben: Ein gottähnlicher Schöpfers sitzt in seinem Kämmerlein, denkt intensiv nach und am Ende entsteht etwas künstlerisch Wertvolles. Der eigentliche Entstehungsprozess ist abgeschlossen und geheim.
Ein in den digitalen Welten vernetzter Künstler muss sich diesem Prozess stellen. Das muss nicht schön sein. Ich glaube aber, dass eine Chance darin besteht, die neuen technischen Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bietet, für eine veränderte, hoffentlich verbesserte Form, für eine kreativere Form der Kunstproduktion zu nutzen. Wir diskutieren immer nur negativ und abwehrend über die Digitalisierung, wie es in der Diskussion über das Urheberrecht deutlich wird. Fast nie kommt die Frage auf, wie wir die Digitalisierung produktiv für die Kunstproduktion nutzen können.
„Teilhabe am Fußballspiel weckt Begeisterung“
Wie verändert die Digitalisierung unsere Vorstellung von Kunst und Kultur?
Wir sind immer davon ausgegangen, dass ein Buch weiterhin ein Buch bleibt. Das mag sogar stimmen, aber es kommt noch ein zweiter Punkt hinzu: der prozesshafte Charakter der Entstehung. Den haben wir bisher überhaupt nicht im Blick. Ein Beispiel: Bei einem Fußball-Spiel schauen wir immer nur auf das Ergebnis. Aber die Begeisterung für Fußball entsteht nicht aus dem Resultat, sondern aus der Teilhabe am Spiel. Im Spielprozess selbst entsteht die Bindung, die Begeisterung – und nebenbei bemerkt auch – die Bereitschaft zu bezahlen, die wir für Kunst und Kultur bisher kaum nutzen.
Haben Sie keine Angst, dass das Buch seinen Zauber verliert?
Die Gefahr besteht. Ich will mich aber der Gefahr aussetzen, weil ich glaube, dass wir nur dann neu denken können, wenn wir uns dem stellen, was wir als gefährlich betrachten und eigentlich vermeiden wollen. Ich glaube, dass das Buch als Endprodukt den gleichen Stellenwert haben wird wie ein Ergebnis von einem Fußballspiel. Es wird sicher nicht verschwinden. Aber es wird ergänzt, um einen zweiten Aspekt, den Prozess der Entstehung. Es gibt berühmte Fußballspiele, bei denen selbst begeisterte Fußballfans sich sehr genau an bestimmte Szenen erinnern können, aber nicht mehr an das Endergebnis.
Das zeigt, dass das Produkt zwar wichtig ist, dass aber das, was die Menschen vielleicht daran fasziniert und sie zu einer hohen Form von Interaktion treibt, gar nicht zwingend das ganze Buch ist, sondern vielleicht ein Moment in dessen Entstehung, bei dem sie dabei sein konnten.
Das Buch selbst wird nicht zerstört. Wikipedia bleibt eine Enzyklopädie, obwohl die Einträge in Versionen zerlegt wurde. Ich glaube, dass es vielleicht notwendig ist, gedanklich etwas zu zerstören, um dann seinen wirkliche Wert zu entdecken.
Ich will auch, dass das Buch seinen Wert behält. Aber ich kann diesen Wunsch nicht gleichzeitig als argumentative Grundlage nehmen. Ich muss diesen Prozess erleben, um dann zu erfahren, warum das Buch so wichtig ist.
„Verlage können in einem neuen digitalisierten Buchmarkt an Bedeutung gewinnen“
Erst haben Sie bewusst auf das Renommee von Suhrkamp gesetzt. Jetzt setzen Sie auf Crowdfunding. Warum der Sinneswandel?
Ich möchte, dass die Leser Versionen von meinem Buch verfolgen können, da erschien es konsequent, sie von der ersten Sekunde, bevor überhaupt ein Buchstabe geschrieben ist, miteinbeziehen. Da ich den Lesern ohnehin mein Exposé vorlege, war es naheliegend, sie direkt zu meinem Verlag zu machen. Ich möchte gern ungefiltert lernen, ob die Idee der Verflüssigung und kollaborativen Zusammenarbeit tatsächlich funktioniert.
Das heißt aber nicht, dass ich grundsätzlich an der Funktion von Verlagen zweifele. Im Gegenteil. Ich glaube, dass Verlage extrem wichtig sind und in einem neuen digitalisierten Buchmarkt sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn sie sich auf die Dinge konzentrieren, die sie wirklich gut können: nicht primär die Distribution und der Druck von Büchern, sondern die Auswahl, das Lektorat, die Organisation und vor allem die Aufmerksamkeitssteuerung. All diese Aufgaben muss ich jetzt selbst leisten.
Ich bin der Auffassung, dass ich viel mehr lernen kann, wenn ich alles auf eigene Faust mache, was – nebenbei bemerkt – auch mit extrem viel Arbeit verbunden ist. Alle Menschen, die behaupten, man könne auf Verlage leicht verzichten, sollten mal ein Buchprojekt auf eigene Faust starten, um zu sehen, was auf einen zukommt – von der rechtlichen Klärung, der Preisbindung bis hin zur Pressearbeit und Aufmerksamkeitssteuerung leisten die Verlage unglaublich viel. Ich bin sicher, dass diese Dienstleistungen von Autoren weiterhin nachgefragt werden.
Bleibt Ihnen überhaupt noch Zeit zum Schreiben?
Die Organisation lenkt extrem vom Schreiben ab. Allerdings ist sie in diesem speziellen Fall auch Bestandteil des Schreibens, also Teil meiner Vorrecherche. Ich habe beispielsweise festgestellt, dass die Beschäftigung mit der Covergestaltung gemeinsam mit Florian Dreyßig von SQUIECH Design mir auch dabei geholfen hat, den Inhalt des Buches zu schärfen und über den Gedanken der Verpackung den Inhalt anders zu denken.
Für den Prozess des Schreibens an sich ist es tatsächlich auch sinnvoll, sich mit diesen Aufgaben nicht mehr zu beschäftigen, sondern sich auf das Recherchieren und Schreiben zu konzentrieren.
„Liebe zum Buch transparent machen“
Würden Sie das auch Verlagen raten, um sich in Zeiten des Selfpublishing-Booms als Dienstleister zu positionieren: den Prozess des Verlegens offenzulegen?
Das fände ich extrem spannend. Ich glaube, dass diese Formen von Transparenz zu etwas führen kann, was ein möglicher Ausweg aus ihrem Dilemma sein könnte. Publikum und Künstler rücken sehr eng zusammen – und der Verlag wirkt wie jemand, der zwischen ihnen steht und das Geld einsammelt. Ich hab das Gefühl, dass die treibenden Kräfte in der Buchbranche Bücher mit einer extrem großen Liebe zu ihrem Produkt produzieren. Das unterscheidet sie von anderen Branchen. Diese Liebe zum Produkt sollten sie transparent machen. Ich weiß nicht, ob das gelingen wird, aber es erscheint mir sehr logisch.
Wie verändert die Digitalisierung die Buchbranche?
Ich möchte mit meinem Experiment nicht die These aufstellen, dass die klassischen Akteure im Buchmarkt – inklusive Literaturagenten, Verlagsmitarbeiter, Buchhändler – hinfällig werden. Im Gegenteil. Ich glaube, dass sie ihre Rollen neu definieren. Diese Definition wird eine Schärfung dessen mit sich bringen, was sie wirklich ausmacht.
Ich glaube, dass es um Kunst und Kultur – insbesondere um Bücher – sehr gut steht. Ich habe mit Erstaunen beobachtet, wie Amazon seine Endgeräte verkauft. Jeff Bezos möchte nicht mit seinen Geräten Geld verdienen, sondern mit den Inhalten. Er sieht offenbar einen Markt dafür, dass Menschen Kunst und Kultur auch im Digitalen bezahlt konsumieren. Das sollte uns positiv stimmen. Stattdessen scheint die Branche in einer pessimistischen Grundstimmung stecken zu bleiben: „Alles wird sterben und niemand wird mehr bereit sein, für Bücher und Kreativität zu bezahlen.“ Das glaube ich nicht.
Ich glaube, dass wir ein neues Zeitalter erleben, an dessen Ende, – und hier schließt sich der Kreis – nicht das Produkt verschwindet, sondern es nur seinen Aggregatzustand verändert. Wir waren es gewohnt, Eisblöcke zu verkaufen. Jetzt müssen wird drüber nachdenken, eine Flasche zu erfinden um das Wasser abzufüllen, weil das Eis taut. Wir stehen aber gerade vor diesen tauenden Eisblöcken und denken: „Oh Gott, das wird niemand mehr kaufen können, weil das ja alles flüssig ist.“ Wir brauchen also jemanden, der eine Flasche erfindet. Oder ein anderes Abrechnungsmodell. In diese Richtung zu denken, kann nur gelingen, wenn wir uns darüber bewusst werden, was der Kern unseres kreativen Schaffens ist.
Die Fragen stellte Lucy Mindnich
So sehen die beiden Cover-Varianten zum Buch aus: links das Standard-Cover, rechts eine mögliche Option eines personalisierten Covers. Von der rechten Version soll es 200 einmalige Farbvarianten geben, die Unterstützer des Projekts nur im Rahmen der Startnext-Aktion kaufen können.
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