SPIEGEL ONLINE nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle.
Diesmal: Diesmal „Vonne Endlichkait“, Günter Grass‘ letztes Buch, er hat es kurz vor seinem Tod im April 2015 abgeschlossen. Diskutiert wird die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?
Hammelehle: Muss man überhaupt ein Buch von Günter Grass gelesen haben?
Keller: Manchmal habe ich tatsächlich das beunruhigende Gefühl, etwas versäumt zu haben, weil ich „Die Blechtrommel“ noch nicht gelesen habe, obwohl Grass‘ erster Roman in so ziemlich jedem Literaturkanon auftaucht. Auch wenn man ein Leben ohne nennenswerte Einschränkungen führen kann, ohne je eine Zeile von Grass gelesen zu haben. Wenn, dann sollte man also vielleicht seinen ersten Roman lesen. Aber muss man sein letztes Buch lesen?
Hammelehle: Kürzlich habe ich mir eine alte Folge des „Literarischen Quartetts“ angeschaut. Da wurde mit heiligem Ernst über „Unkenrufe“ diskutiert, eine Erzählung von Grass aus dem Jahr 1992. Das war sieben Jahre vor seinem Nobelpreis, aber schon damals war er die Überfigur der deutschen Literatur, deren Werken man sich kaum auszuweichen traute. Heute aber ist „Unkenrufe“ vergessen. Es könnte sein, dass es „Vonne Endlichkait“ in ein paar Jahren genauso geht. Womöglich wird das Buch von vielen Lesern auch weniger seines literarischen Charakters wegen, sondern als praktisches Lebenshilfe- und Lebensabschnittsbegleitungswerk gekauft.
Keller: Und als Abschiedsgeste.
Hammelehle: Zum einen Grass gegenüber, der in der Generation der etwa Siebzigjährigen ein regelrechter Star war, auch bei einem Publikum, das sich sonst kaum für Romane interessiert hat. Zum anderen aber auch angesichts des eigenen, nahenden Lebensendes. Die titelgebende Endlichkeit betrifft ja nicht nur Grass. Mich hat der leise, unaufdringliche Ton, mit dem er im zentralen der vielen kurzen Texte des Buchs über den Besuch beim Sargtischler schreibt, angenehm überrascht. Hier liegt er sozusagen stellvertretend für all seine Leser schon einmal im maßgefertigten Sarg Probe – macht daraus aber keine große Sache. Der eitle, verzopft formulierende Grass voriger Werke war ja unerträglich.
Keller: Am Ende eines Lebens geht es doch so oft um Versöhnung. Dann ist der schönste Nebeneffekt dieses Buches, dass es ein versöhnlicheres Ende von Grass‘ Wirken darstellt, als es zum Beispiel das durch und durch unangenehme Israel-Gedicht gewesen wäre?
Hammelehle: Dabei hatte Grass mit einem älteren Gedicht, dem anlässlich seines Todes viel zitierten „Wegzehrung“, angedeutet, auch nach seinem Tod noch mal ordentlich auf die Blechtrommel hauen zu wollen. Darin hatte er geschrieben, er wolle zusammen mit einem Sack Nüsse begraben werden: „Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er.“ Man musste also befürchten, dass auch „Vonne Endlichkait“ noch ein paar haarsträubende Provokationen enthält. Zum Glück aber hat ihn die Altersweisheit in der letzten Kurve seines Lebens doch noch gestreift.
Keller: Am Ende bleibt ja immer eine Frage: Und das soll ich lesen? Ich bitte übrigens um eine adäquat milde Antwort.
Hammelehle: Welche Antwort könnte milder sein als Jein? Angesichts der letzten Momente empfehle ich ansonsten Rilke: „Der Tod ist groß, wir sind die seinen lachenden Munds.“
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur beim SPIEGEL. Joan Didions Todes- und Abschiedsbuch „Das Jahr magischen Denkens“ hat er zweimal gelesen, klopfenden Herzens.
Maren Keller ist Kulturredakteurin beim SPIEGEL. Ihr bedeutet Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ viel.
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