Die Würfel sind gefallen, Suhrkamp zieht nach Berlin – und die Feuilletons reagieren darauf, als ob eine Bombe ins Konferenzzimmer eingeschlagen oder Dieter Bohlen den Literaturnobelpreis gewonnen hätte. Die „Welt“ vermutet, dass Gesellschafter Joachim Unseld dem Berlin-Beschluss nicht zugestimmt hat. Und dass die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz (Foto, neben Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit 2006 bei der Eröffnung der neuen Suhrkamp-Repräsentanz in Berlin) die Erlöse aus dem Verkauf der Häuser in der Frankfurter Lindenstraße und der Klettenbergstraße verwendet werde, um den Minderheitsgesellschaftern ihre Anteile abzukaufen und damit den Widerstand Joachim Unselds gegen die Übersiedlung nach Berlin aus dem Weg zu räumen.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ denkt darüber nach, inwiefern der Zuzug die Berliner Brüderstraße verändern wird. Dadurch stünden „die barocken Bürgerhäuser nicht mehr wie in einen städtischen Wurmfortsatz gefallene Reste da, sondern verweisen auf das Leben, das es in ihnen gegeben hat.“ Pathetisches Fazit: „Was für ein Ort, anzufangen.“
Außerdem nennt „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher den Umzug „revolutionär“. „Denn kurioserweise reden viele der Kommentatoren so, als befänden wir uns noch in jenen siebziger Jahren, die Suhrkamp und die Bundesrepublik groß gemacht haben (…). Der Suhrkamp-Verlag verlässt Frankfurt in einem Augenblick, da man an den Türmen der Commerzbank mit anderen Gefühlen vorbeifährt als zu jener Zeit, da Siegfried Unseld die Stadt intellektuell dominierte. Die revolutionäre Veränderung der Grammatik unserer Gesellschaft setzt im Augenblick Texte zusammen, die dadaistisch wirken. Suhrkamp glaubt, daraus Literatur machen zu können.
Die „Frankfurter Rundschau“ fragt den Sozialphilosophen Axel Honneth, ob der Umzug nach Berlin das Ende der Suhrkamp-Kultur einläutet. „In Berlin besteht die Tendenz, um die Regierungsgewalt herumzuschleichen. Es besteht die Gefahr, dass man mehr von der Mitte her denkt. (…) In Berlin drohen auch Inhalte unterzugehen. Dort ist es viel schwieriger, mit Verlags-Veranstaltungen Aufmerksamkeit zu finden.“
Außerdem zitieren die Frankfurter den Vorsitzenden des Betriebsrats, den TB-Lektor Wolfgang Schneider, der den Abbau von Arbeitsplätzen befürchtet und sich kampfbereit zeigt: „Wir werden deshalb alle juristischen Schritte gegen den Umzug nutzen – bis hin zur Unterlassungsklage.“
„Ein Verlag verlässt die Stadt – aber muss sich Frankfurt deshalb kneifen lassen?“, fragt der Schriftsteller Martin Mosebach in der „Süddeutsche Zeitung“.
Die Stimmungslage in der Stadt reiche von Fassungslosigkeit bis Zorn, berichtet die „taz“ – insbesondere gegen die Politik. Die Frankfurter Politik habe, wie auch schon beim gerade noch abgewendeten Umzug der Buchmesse nach München vor einigen Jahren, in einer Mischung aus Lethargie und Selbstzufriedenheit zu spät den tatsächlichen Ernst der Lage erkannt.
welt.de, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (S. 31), faz.net (Schirrmacher), fr-online.de (1), fr-online.de (2), „Süddeutsche Zeitung“ (S. 11), taz.de
BÜCHER & AUTOREN
Günter Grass: hat In Göttingen hat sein Tagebuch aus dem Jahr 1990 vorgestellt und sich über „Welt“-Reporter Benjamin von Stuckrad-Barre lustig gemacht (der es ihm heimzahlt: „rotweinbesprenkelte Karikatur eines politischen Schriftstellers“).
welt.de
Barbara Honigmann: wird am Donnerstag 60 Jahre alt.
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (S. 36)
Walter Jens: Der Tübinger Rhetorik-Professor hat in der Affäre um seine Mitgliedschaft in der NSDAP offenbar nicht die Wahrheit gesagt.
focus.de
Ursula Krechel: gewinnt d.lit.-Literaturpreis der Stadtsparkasse Düsseldorf. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (S. 31)
MEDIEN & MÄRKTE
Fernsehen: Flucht nach vorne – Arte kämpft mit W ebserien und Videoblogs um seine Zuschauer.
„Süddeutsche Zeitung“ (S. 15)
Analyse: In Krisenfällen handeln Familienunternehmer meist zu spät.
„Handelsblatt“ (S. 18)
Presse: Wie der Partner „Guardian“ will Jakob Augstein mit seiner Wochenzeitung „Der Freitag“ Leser aktiv beteiligen.
ftd.de
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