Marcello Vena (All Brain) über das Long Tail-Problem
Die Kurve wird flacher und flacher
Tolle Theorie: Im Digitalzeitalter kann es das Geschäft mit Nischentiteln mit den Bestsellern aufnehmen. Doch in der Praxis bleiben beim Long-Tail-Ansatz Zweifel, wie Marcello Vena im Interview erklärt. Der italienische Berater ist Referent beim buchreport-Webinar Anfang Februar zum Thema: „Long Tail oder Lost Tail? – So machen Sie Ihren Ladenhütern Dampf“.
Venas These: Die Fixierung auf die Top-Seller wird immer stärker, der Long Tail droht zum „Lost Tail“ zu werden. Diese Entwicklung wird durch die wachsende Konzentration im Onlinebuchhandel und die zunehmende Anzahl digitaler Bücher verschärft. Neben Vena wird Norsin Tancik, Sales & Marketing Managerin bei Bilandia, zeigen, wie Verlage ihre Backlist besser verwerten können – um den Long Tail zu befruchten.
Warum ist der Long Tail ein Mythos in der Buchbranche?
Aus mehrere Gründen. Die Theorie entstand vor 10 Jahren, als es noch keinen nennenswerten Ebook-Markt gab und auch der Internetbuchhandel noch nicht so weit entwickelt war wie heute. Und die Theorie ist ganz allgemein gehalten, sie ist nie wissenschaftlich auf Bücher hin geprüft worden. Vor einem Jahr dann zeigte Anita Elberse von der Harvard Business School für den Bereich der digitalen Musik, dass die Theorie ein Mythos ist: Ihre Daten beweisen, dass der Markt für digitale Musik immer stärker ein Bestseller-Markt ist, 1,1% aller Lieder machen 86% aller Umsätze.
Eine weitere Schwachstelle der Theorie: Sie berücksichtigt die Kosten der Kreativität und des Publishings nicht. Winzige Nachfrage-Verstärkungen zahlen sich für die Onlinehändler aus, weil diese nur die variablen Kosten des Verkaufs tragen. Dies ist aber nicht genug, um für Autoren und Verlage rentabel zu werden, wenn sie alle Kosten tragen müssen.
Decken sich die Erkenntnisse von Anita Elberse mit Ihren Analysen?
Ja, wir haben im Sommer zeigen können, dass auch im Buchgeschäft die Bestseller im Zuge der Digitalisierung einen immer größeren Anteil des gesamten Markts einnehmen. Diese Entwicklung korreliert mit der wachsenden Konzentration des Onlinehandels von Ebooks. Der Long Tail existiert zwar, aber die Kurve wird flacher und flacher, sie ist nicht wirklich relevant für gewisse Akteure wie Autoren und Verlage.
Schadet diese Entwicklung der Long-Tail-Schwächung der Buchbranche?
Zumindest werden kleine und mittelständige Verlage noch schlechtere Chancen als große Verlagsgruppe haben, weil Bestseller in Zukunft eine immer wichtigere Rolle für die Rentabilität eines Verlags spielen. Ohne Bestseller wird’s immer schwieriger, Wettbewerbsfähig zu bleiben. Die aktuelle Konsolidierung der Industrie geht in diese Richtung. Die jetzige Vielfalt an Verlagen wird künftig – aus mehreren Gründen – abnehmen.
Gefährdet die zunehmende Monopolisierung des Online-Buchhandels die Titelvielfalt?
Nein, zumindest aktuell noch nicht. Die Monopolisierung hat zunächst einen direkten Einfluss auf die Verteilung der Umsätze, ob aber auch die Titelvielfalt beeinträchtigt wird, bleibt abzuwarten. Nicht alle Titel stehen unter dem Druck der Rentabilität, zum Beispiel werden – unter anderem- viele Selfpublisher, die keinen nennenswerten Gewinn erzielen wollen, weiter schreiben, was alleine schon für eine Vielfalt sorgen wird. Natürlich gilt dies besonders für das Genre Fiction. Bei Non-Fiction -Titeln handelt es sich weiterhin um einen überwiegend traditionellen Print-Market.
Wie können Verlage ihre Backlist-Titel besser sichtbar machen?
Zunächst sind Long-Tail- und Backlist-Titel nicht zu verwechseln. Der Long Tail beinhaltet alle Titel – sowohl Frontlist als auch Backlist –, die relativ wenig, kaum oder gar nicht verkauft werden. Die Sichtbarkeit ist daher für alle Titel wichtig, und zwar nicht für den Leser. Der findet immer etwas zum Lesen. Sichtbarkeit ist hauptsächlich eine Herausforderung für Autoren und Verlage.
Wie kann das Problem gelöst werden?
Grundsätzlich müssen die Kontaktpunkte mit Backlist-Titeln dort gesetzt werden, wo die Leser sind, und zwar nicht nur beim Buchhändler bzw. bei den Bibliotheken. Jeden Tag verbringen die Menschen drei bis vier Stunden im Internet, bis zu zwei Stunden surfen sie mit mobilen Geräten. Content ist zwar King, aber nur, wenn man ein Publikum hat oder es sich verschafft.
Es gibt keine one-size-fits-all Strategie beim Thema Sichtbarkeit, es gibt Unterschiede für jedes Genre, jede Marke, verschiedene Inhalte und Autoren, für jedes Land und jeden Buchmarkt mit den lokalen Eigenschaften. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass ein Sichtbarmachen in einem sehr wettbewerbsintensiven Umfeld geschieht, das heißt: Je besser ein Titel sichtbar ist, desto schlechter ein anderer Titel. Wir leben in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wenn alle Verlage auf dieselbe Strategie und Ausführung setzen würden, wäre es so, als ob die Verlage fast ohne Strategie operiert hätten, aber mit deutlich mehr Aufwand. Es ist eine Variante des Gefangenendilemmas in der Spieltheorie.
Empfehlungen sind wertvoll, solange sie spezifisch für gewisse Titel bzw. Titelgruppen sind – und vor allem geheim bleiben. Zumal Empfehlungen nicht ewig lang gültig sind. Kompetitive Vorteile verschafft man sich auch über exklusive Studien und Kenntnisse. Das ist selbstverständlich in vielen High-tech Industrien, weniger vielleicht in der Buchbranche, wobei nicht selten laut und offen über alles diskutiert wird. In der Nachrichtenwissenschaft hat eine Information einen Wert, solange nicht alle davon wissen…
Muss der Online-Handel umdenken?
Das hängt von der Perspektive ab. Aus der Sicht der Shops funktionieren sie schon gut. Ihr Ziel besteht darin, mehr Gewinn aus dem Verkauf zu erzielen, sie beteiligen sich nicht an den Kosten der Kreativität bzw. des Publishings. Deshalb sind die Long Tail-Titel für sie schon sehr rentabel. Je mehr Titel, desto besser, jede Kopie zählt, auch wenn’s um eine einzige geht. Aus Hunderttausenden Long-Tail-Titeln schöpfen sie ohne großen Online-Marketing-Aufwand viel Wert, das kompensiert irgendwie den Aufwand für die Bestseller.
Wenn man Autoren und Verlage danach fragen würde, sähe das Bild anders aus, demnach muss der Onlinehandel umdenken. Denn mit der Digitalisierung wächst die Menge von Büchern exponentiell. Einerseits werden die Markteintrittshürden durch „Digital Only Publishing“ (sei es durch durch Verlage, Vanity-Press oder Selfpublishing) immer niedriger. Andererseits bleibt ein digitales Buch auf dem Mark für die Ewigkeit. Ein künftiges Problem wird also darin bestehen, die Nachfrage für ein riesiges und weiter wachsendes Angebot von Büchern zu schaffen. Die Leser und das Lesen können nicht exponentiell wachsen, aus mehreren Gründen: 1) die begrenzte Anzahl der Bevölkerung, 2) die Ökonomie der Aufmerksamkeit, 3) die begrenzte Lesezeit, 4) das nicht unendliche Leben.
Mit der Digitalisierung werden alle Bücher die Menschen überdauern, nicht nur die Klassiker. In der Zukunft könnten vielleicht Jahrzehnte vergehen, bevor ein Autor gelesen wird. Die meisten Bücher werden kaum bzw. gar nicht gelesen. Wie heute schon, aber noch viel extremer. Deshalb ist ein Umdenken notwendig, und es wird stattfinden, bestimmt.
Zu „… die Theorie ist ganz allgemein gehalten, sie ist nie wissenschaftlich auf Bücher hin geprüft worden.“
Ich konnte vor ca. 6 Jahren Greg Greeley, damals zuständiger VP bei Amazon, direkt dazu fragen. Er versicherte mir, dass Chris Andersen, der Autor der Long Tail These, **niemals** Sales Daten zu Büchern von Amazon bekommen habe, und nur recht überschaubare Daten aus dem Musikbereich als Grundlage für seinen Essay hatte. Schon damals war auch klar: Wichtigster Profiteur am Long Tail sind die Aggregatoren, also zB Amazon, über ihren kumulativen Anteil am Gesamtvolumen aus den im einzelnen nur geringfügigen zusätzlichen Verkäufen des Online Long Tail .
Die Sache ist so simpel wie schlüssig. Marcello Vena analysiert dies auch völlig klar und korrekt.
Die interessante Anschlussfrage ist indessen: Können nicht auch zumindest die ganz großen Verlagssgruppen, via Direkt-Ansprache der Endkunden, selbst zu Aggregatoren werden? Einige wie HarperCollins, oder auch Penguin Random House UK zeigen, wie das geht. Fazit hier einmal mehr: Es entwickelt sich eine Gesamtdynamik aus den aktuellen Umwälzungen, welche sehr nachdrücklich die stärksten und größten Akteure am Markt unterstützt – was zu Lasten aller Kleineren, Schwächeren geht.
Das ist die eigentliche Brutalität der aktuellen Entwicklungen.
Zu „… die Theorie ist ganz allgemein gehalten, sie ist nie wissenschaftlich auf Bücher hin geprüft worden.“
Ich konnte vor ca. 6 Jahren Greg Greeley, damals zuständiger VP bei Amazon, direkt dazu fragen. Er versicherte mir, dass Chris Andersen, der Autor der Long Tail These, **niemals** Sales Daten zu Büchern von Amazon bekommen habe, und nur recht überschaubare Daten aus dem Musikbereich als Grundlage für seinen Essay hatte. Schon damals war auch klar: Wichtigster Profiteur am Long Tail sind die Aggregatoren, also zB Amazon, über ihren kumulativen Anteil am Gesamtvolumen aus den im einzelnen nur geringfügigen zusätzlichen Verkäufen des Online Long Tail .
Die Sache ist so simpel wie schlüssig. Marcello Vena analysiert dies auch völlig klar und korrekt.
Die interessante Anschlussfrage ist indessen: Können nicht auch zumindest die ganz großen Verlagssgruppen, via Direkt-Ansprache der Endkunden, selbst zu Aggregatoren werden? Einige wie HarperCollins, oder auch Penguin Random House UK zeigen, wie das geht. Fazit hier einmal mehr: Es entwickelt sich eine Gesamtdynamik aus den aktuellen Umwälzungen, welche sehr nachdrücklich die stärksten und größten Akteure am Markt unterstützt – was zu Lasten aller Kleineren, Schwächeren geht.
Das ist die eigentliche Brutalität der aktuellen Entwicklungen.