Björn Hoffmann war über acht Jahre bei Brockhaus für „Online“ zuständig, zuletzt als Abteilungsleiter. Inzwischen arbeitet er für ein großes, journalistisches Onlineportal.
In einem Gastbeitrag für buchreport.de erklärt er anlässlich des Wikipedia-Jubiläums, wie die Internet-Enzyklopädie zum „Brockhaus von heute“ werden konnte – und welche Fehler der Verlag gemacht hat.Man wird es mir vielleicht nicht so leicht glauben, aber ich bin einer der dienstältesten Wikipedianer, auch wenn das Projekt zehn Jahre auch gut ohne mich zurechtgekommen ist und auch weiterhin sicherlich gut zurechtkommen wird. Schon seit den Zeiten von Nupedia, dem Vorläuferprojekt der Wikipedia, wollte ich auch in Deutschland eine Open-Content-Enzyklopädie gründen. Ich schloss mich Torsten Wöllerts „Offener Enzyklopädie“ an, die wir dann auch auf dem 17. Chaos Communication Congress 2000 vorstellten. Das war noch zu einer Zeit, in der der CCC-Kongress nicht bereits Wochen vorher komplett ausgebucht war. Schon damals hieß es gerüchteweise, die „Amerikaner“ wollten das Enzyklopädie-Projekt mit einem Wiki realisieren, das sei doch ein guter Ansatz. Ich war skeptisch.
Idee zu einer Wikipedia gab es hierzulande schon vor 2000
Es heißt, wir Deutschen würden immer noch darüber diskutieren, ob man zum Mond fliegen könne oder nicht, wenn es die Amerikaner nicht einfach getan und uns bewiesen hätten. Da ist was Wahres dran, wie ich nun weiß. Während wir im Jahr 2000 lange über Berechtigungskonzepte, Klassifikationssysteme und Datenformate diskutierten, taten „es“ die Kollegen aus Amerika einfach. Sie setzten ein Wiki auf und befüllten es mit Artikeln. Der Erfolg dieses Vorgehens gibt ihnen trotz der vielen ungelösten Anfangsfragen, die sich bis heute zum Teil verfestigt haben, Recht und ich habe mir mittlerweile viel von diesem Vorgehen, das so auch in der Linuxbewegung verankert ist, abgeguckt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, wie Erich Kästner gereimt hat.
Schon 1998 hatte ich Brockhaus mein Manifest über eine „doppelte digitale Struktur“ zugesendet, in dem ich die Vorzüge der Print- und der Onlinewelt zusammenführen wollte. Das Manifest kam an und nach einem Praktikum bei Brockhaus und Duden erhielt ich das Angebot, dort den Onlinebereich zu übernehmen, der damals nur aus genau einer Person, nämlich mir, bestand. Ich war glücklich, denn nun hatte ich ein ausgereiftes, SGML-basiertes und medienneutrales Redaktionssystem, gut durchdachte Klassifikationssysteme und viele erfahrene Enzyklopädisten als Kollegen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten als Redakteure wie auf eine Professur geradezu „berufen“ fühlten.
Höhepunkt: Onlineumsetzung der Enzyklopädie
Auch wenn es eine rudimentäre Onlineumsetzung der Brockhaus-Enzyklopädie bereits seit 1999 unter dem heute eingestellten www.xipolis.net gab, so sollte einer meiner beruflichen Höhepunkte bei Brockhaus jedoch die Onlineumsetzung der Enzyklopädie im Jahr 2005 sein. Es war eine Ehre, die größte jemals erstellte Brockhaus-Enzyklopädie ins Onlinezeitalter mit hundert tausenden Bildern und einem interaktiven Atlas zu bringen. Und es war eine Ehre, bei der vielleicht letzten großen deutschen Printenzyklopädie auf lange Zeit dabei gewesen zu sein. Die Onlineumsetzung ist nach wie vor den Käufern der Printenzyklopädie vorbehalten, aber immerhin: es gibt sie noch.
Brockhaus wollte größte freie Online-Enzyklopädie in Deutschland aufbauen
Das Management von Brockhaus hatte richtigerweise nach dem Platzen der Dotcomblase, mit der auch das in einem Tochterunternehmen realisierte xipolis.net untergegangen war, auf eine weitere Printenzyklopädie gesetzt. Diese wurde im Jahr 2005/2006 zwar kein Riesenerfolg wie die Enzyklopädien davor, aber immerhin verkaufte sie sich so gut, dass man 2006 beschlossen hatte, die digitale Herausforderung voll anzunehmen. Brockhaus wollte endlich die größte redaktionell erstellte und frei im Netz verfügbare Onlineenzyklopädie erstellen, die es je im deutschsprachigen Raum gegeben hat.
Mit einem innovativen Rechtekonzept zwischen Redaktion und Community, die mitarbeiten sollte, einer semantisch strukturierten Faktendatenbank und großen Multimediabeständen wollte man starten. Denn die Wikipedia war mittlerweile zum Hype geworden, ihre Zugriffszahlen schossen in die Höhe und die Presse liebte ein weiteres Mal die Geschichte von David gegen Goliath, von Linux gegen Microsoft und nun von Wikipedia gegen Brockhaus. Die Absätze der Printenzyklopädien begannen rasant zu sinken. Daran war natürlich nicht nur die Wikipedia „Schuld“, sondern vor allem auch eine veränderte Strategie der Menschen, ihren Wissensdurst zu stillen. Am Ende des Tages ist die Suchmaschine der Brockhaus von heute.
Zu viel Zeit eingeplant?
Vielleicht war es ein Fehler, den man dem Management von Brockhaus vorwerfen kann, dass man zu viel Zeit zur Erstellung für „Brockhaus online“ einplante, aber man wollte auch nicht die Absätze der gerade eben erst erschienenen Großenzyklopädie gefährden und jahrelanges Arbeiten an einem Produkt war man schließlich ja auch gewöhnt. Das Erscheinen von „Brockhaus online“ war für das Frühjahr 2008 geplant und es wurden bestimmt 100 Mannjahre Schreib- und Entwicklungszeit noch einmal in die Texte und die Technik gesteckt. Von der Wikipedia hatte man dabei einiges gelernt, so zum Beispiel, dass man sich auch mehr mit Trivia und Unterhaltung zu beschäftigen habe. Selbstverständlich hat auch die Wikipedia viel von Brockhaus „gelernt“, von Artikelauswahl, Sprache, Duktus und Strukturierung.
Glücklicherweise konnte ich den Verlag noch 2006 davon überzeugen, den kleinen Bruder der „Brockhaus-Enzyklopädie“, nämlich „Meyers Taschenlexikon“ in einem Mediawiki, der Software der Wikipedia, schnell als „Meyers Lexikon online“ ins Web zu bringen. Denn das hatte ich von den „Amerikanern“ gelernt: Publish or perish. Innerhalb von nur 3 Wochen war das Lexikon online und wurde ganz ohne jede PR oder Marketing zu einem großen Erfolg alleine durch die Kraft der Suchmaschinen.
Bertelsmann blockierte Online-Enzyklopädie
Währenddessen griffen alle mit vereinten Kräften in die Tasten, um die digitale Herausforderung des Internets anzunehmen und „Brockhaus online“ rechtzeitig zum April 2008 fertigzustellen. Einen Schalter umlegen und das Portal wäre mit 300.000 von der Brockhaus-Redaktion geprüften Texten und mit mehr als 4 Millionen Bildern online gegangen. Aber es kam leider nicht so weit. Der Bertelsmann-Konzern, der sowohl den Druck und den Vertrieb der Enzyklopädie über die Haustürgeschäfte (den „Direktvertrieb“) für den Brockhausverlag machte, sah sein Geschäft gefährdet und wollte „Brockhaus online“ unbedingt verhinden.
Es gingen acht bange und depressive Monate vorüber, ohne dass das Produkt hätte online gehen dürfen. Im September durfte das Portal zumindest für vier kurze Monate unter falscher Flagge als „Meyers Lexikon online“ und entkernt um die Brockhaus Enzyklopädie endlich online gehen. Dann aber wurde „Brockhaus“ und „Meyers“ an Bertelsmann „als Marke“, das bedeutet vor allem: ohne Personal, verkauft und die Brockhaus-Redaktion komplett entlassen. Einziges Ziel der Bertelsmann AG, die mit ihrem Bertelsmann-Lexikon nie solche Erfolge wie Brockhaus feiern konnte, war es wohl, das große Online-Portal von Brockhaus zu verhindern, um weiter die Bücher der Enzyklopädie drucken und verkaufen zu können. Wenigstens noch ein paar Jahre. Am Ende waren die Umsätze mit Printenzyklopädien so weit gesunken, dass sich selbst das Bundeskartellamt nicht mehr für die Übernahme interessierte.
Management von Brockhaus hat das Internet nicht verschlafen
Im Nachhinein kann ich es niemandem verdenken, wenn er glaubt, „die bei Brockhaus“ hätten das Internet verschlafen und könnten es einfach nicht. Denn diesen Eindruck hatte der Verlag in der Tat nach draußen abgegeben, aber ich weiß, dass es nicht so war. Im Gegenteil haben wir hier sogar den umgekehrten Fall: Das Management von Brockhaus hat aus meiner Sicht das Internet nicht verschlafen, aber einen zu mächtigen „Gegner“ gehabt, der die Schwäche des Verlages in einem entscheidenden Moment ausgenutzt hat. Hinzu kam, dass die Eigentümer von Brockhaus vielleicht zu unentschlossen waren und/ oder andere, noch größere Probleme hatten. Die mittlerweile aufgelöste Redaktion von Brockhaus hatte diese Unentschlossenheit und das Vernichten von drei Jahren Arbeit allerdings als einen „Akt der kulturellen Barbarei“ empfunden. Vollkommen zu Recht.
Der Wikipedia kann das nicht passieren, sie kann nicht verkauft, höchstens missbraucht werden, da die Urheberrechte mittels Creativ-Commons-Lizenz das freie Kopieren und Weiterverwenden garantieren. Zugleich ist diese Copyleft-Ideologie aber auch eine große Hypothek für die Wikipedia. So wird sich niemals ein Verlag finden, der die Enzyklopädie jemals wirtschaftlich wird drucken können, weil das Werk nicht in dem Sinne urheberrechtlich geschützt wäre, dass es nicht einfach kopiert und unter Preis wieder verkauft werden könnte.Aber vielleicht ist es ja auch gar nicht das Ziel, dass wir jemals wieder Enzyklopädien in Printform haben sollen, obwohl es wirklich schade darum ist.
Die Falschen verdienen mit der Wikipedia
Die Brockhaus Enzyklopädie, deren Papier 400 Jahre lang halten soll, ist nach wie vor eine der größten Zierden in meinem bescheidenen Heim. Sie zeugt davon, dass das Wissen vergangener Zeiten in einem einzigen Moment verewigt wurde, sie ist der „Snapshot“ einer Generation, den wir nun so nie mehr haben werden. Zugleich ist das auch nach wie vor meine größte Kritik an der Wikipedia: Dass Projektmanager und Pressesprecher zumindest ein bescheidenes Gehalt und Google viel Geld und Gold an der Wikipedia verdienen, nur ausgerechnet nicht diejenigen, die die Inhalte zusammentragen, verdichten und prüfen.
Es gäbe abschließend noch viel sagen und ich habe auch viele gute Ideen, wie man die Wikipedia voranbringen könnte, aber das sei hier nicht der Platz und soll in einem Buch beschrieben werden, das gerade entsteht.
Mehr zum Wikipedia-Jubiläum lesen Sie morgen im Interview mit Björn Hoffmann
auf buchreport.de.
Kommentar hinterlassen zu "Die Suchmaschine ist der Brockhaus von heute"