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Dieser gemeingefährliche Humor

SPIEGEL Online nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Diesmal: Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, neu eingestiegen auf Platz eins. Ausgelieferte Gesamtauflage: über 250.000 Exemplare.

Keller: Wir haben eine neue Nummer eins – und die dürfte niemanden überraschen. Wenn irgendwann in der Zukunft jemand fragen sollte, welches Buch für diese Zeit, dieses Jahr, steht wie kein anderes – es wäre nach derzeitigem Wissenstand wohl Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Insofern erübrigt sich die Frage „Und das soll ich lesen?“ ein bisschen. Kann man dieses Buch überhaupt nicht-lesen?

Hammelehle: Du ahnst ja gar nicht, was ich alles nicht gelesen habe, gerade, weil es so omnipräsent war. „Shades of Grey“, „Er ist wieder da“, „Harry Potter“, den Koran. Aber stimmt schon, jetzt „Unterwerfung“ nicht zu lesen, wäre ein Statement, das in seiner Verweigerungshaltung geradezu houellebecqsche Dimensionen hätte. Bei dir würde ich übrigens davon ausgehen, dass du Houellebecq prinzipiell nicht liest.

Keller: Große Fehleinschätzung. Ich habe sogar Houellebecqs „Gegen die Welt, gegen das Leben“ sehr gern und sehr oft gelesen, obwohl da fast zu Beginn eine Behauptung steht, die ich gerne mal ausdiskutieren würde. Nämlich: „Wer das Leben liebt, liest nicht“.

Hammelehle: Völliger Quatsch. Ich würde das Gegenteil behaupten: Wer das Leben liebt, liest. Weil: Wer das Leben liebt, liebt – natürlich nicht alles, aber Bücher.

Keller: Weiter geht es dann übrigens so: „Und er geht erst recht nicht ins Kino. Was auch immer darüber gesagt wird, der Zugang zum künstlerischen Universum ist mehr oder weniger für jene reserviert, die ein wenig die Schnauze voll haben“. Ist „Unterwerfung“ Teil dieses künstlerischen Universums für die, die die Schnauze voll haben?

Hammelehle: Findest du nicht auch, dass die Redewendung „die Schnauze vollhaben“ in der deutschen Umgangssprache nur noch im Stadionlied vorkommt? Die Franzosen dagegen, glaube ich, benutzen das entsprechende Gegenstück dauernd – was ja auch etwas aussagt über die unterschiedlichen Mentalitäten. Aber zu Houellebecq: „Unterwerfung“ ist Politik-, Staats-, Religions- und Beziehungsverdrossenheit auf höchstem Niveau. Ist dir das Buch nicht viel zu misogyn?

Keller: Möglich, dass es so sein wird. Am wenigsten am ganzen Roman interessieren mich François‘ Frauenprobleme. Aber mich interessiert das Gedankenspiel und der Humor. Oder was hat dir daran gefallen? Zur Verteidigung der Schnauze-Redewendung sei übrigens gesagt: ich habe in meinem Zitat unterschlagen, dass dieser Ausdruck im Buch kursiv gedruckt ist.

Hammelehle: Ja, wahrscheinlich gefällt mir auch gerade das an Houellebecq: dieser Anspielungsreichtum, dieser völlig unkalkulierbare, gemeingefährliche Humor, der selbst vor einem Spruch wie „Schnauze voll“ nicht halt macht. Man hat das Gefühl, dass er beim Schreiben alles doppelt und dreifach codiert. Das finde ich in der deutschsprachigen Literatur so nur bei Christian Kracht. Dem hätte ich ein Buch wie „Unterwerfung“ auch zugetraut, besonders die Idee mit dem islamischen Präsidenten. Wobei ich sagen würde: Den Witz, den Houllebecq in der ersten Hälfte von „Unterwerfung“ macht, den hat er in „Elementarteilchen“ schon mal gemacht. Interessanter ist der zweite Teil.

Keller: Ich bin gespannt. Und finde: Nun wurde genug von Journalisten über dieses Buch geredet. Auf der Verlagshomepage finden sich selbst unter der Rubrik „Inhalt“ ausschließlich Pressezitate. Zusätzlich zu denen unter der Rubrik „Pressestimmen“.

Hammelehle: Wobei wir über die Frage, wie Houllebecq den Islam und die muslimischen Migranten in Frankreich darstellt, bislang gar nicht gesprochen haben.

Keller: Praktischerweise kann man ja nun bei allen Fragen in diese Richtung auf die Erklärung verweisen, die Houellebecq zu Beginn seiner Lesung in Köln vorgetragen hat.

Hammelehle: Du meinst, der Autor hat das letzte Wort über sein Werk? Dem würde ich mich nie anschließen – mit Ausnahme Michel Houellebecqs: Weil seine Kölner Erklärung in ihrer Gesamtheit ja doch so vieldeutig war, dass wieder jede Interpretation möglich ist.

Maren Keller ist Redakteurin beim KulturSpiegel und hätte ohne Michel Houellebecq nie etwas von H.P. Lovecraft gelesen.
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur bei SPIEGEL ONLINE. H.P. Lovecraft hat er – bei aller Wertschätzung dieser Kolumne – bislang den Amtlich-Lesern überlassen.

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