Die „Süddeutsche Zeitung“ will Print und Online verbinden und lädt 100 Leser ein, gemeinsam mit der Redaktion eine Rezension zu schreiben. Dafür stellt Hanser E-Books des Titels „Makers“ von Chris Anderson zur Verfügung. Im virtuellen „Süddeutsche Zeitung Lesesalon“ wird über das Buch diskutiert, die fertige Kritik wird im Feuilleton der Zeitung gedruckt. Über das Projekt spricht Dirk von Gehlen im Interview.
Obwohl Storytelling von Beginn an sozial war und mit Erzählungen am Lagerfeuer begonnen hat, hat sich Social Reading zumindest hierzulande kaum durchgesetzt, man denke an die Aufgabe von Readmill. Warum?
Der Grund liegt vermutlich an der besonderen Eigenschaft der Papierdistribution: Sie ist eher auf die Einzellektüre als auf das Gemeinschaftserlebnis angelegt. Das ist auch gut und richtig so und ich selbst genieße es oft, mich auf diese Weise in Texte vertiefen zu können. Die digitale Distribution versetzt uns aber nun zusätzlich in die Lage, Bücher auch so aufzunehmen wie wir zum Beispiel Kinofilme anschauen oder Konzerte erleben: in der Gruppe. Das ist eine vergleichsweise junge Entwicklung und steht deshalb erst am Anfang. Die Geschichte der Kultur zeigt uns aber vom Lagerfeuer bis zu Lesesalons, dass die soziale Dimension stets bedeutsam war für die Art und Weise wie Kultur erstellt und aufgenommen wurde. So wird es auch mit dem sein, was man heute Social Reading nennt.
Welche Perspektiven hat Social Reading im Journalismus?
Ich persönlich glaube, dass in dem nicht kopierbaren Erleben von Kultur einer der Schlüssel für (Geschäfts-)Modelle der Zukunft liegt. Bei meinem Buchprojekt „Eine neue Version ist verfügbar“ habe ich damit jedenfalls so gute Erfahrungen gemacht, dass wir einen vergleichbaren Ansatz nun im Süddeutsche Zeitung Lesesalon ausprobieren.
Im Journalismus herrscht weiterhin bei vielen Kollegen ein Hierarchiedenken Journalist vs Leser. Wie groß sind die Widerstände bei der SZ bei diesem Projekt?
Meiner Erfahrung nach entstehen Widerstände stets dort, wo Neues als Gegenentwurf zum Bestehenden verstanden wird. Der SZ-Lesesalon ist von Anfang an als Ergänzung zu klassichen Modellen gedacht worden. Deshalb gab es hausintern tatsächlich auch keine Widerstände. Auch beim Hanser Verlag, der ja 100 Lesern nun eine unbezahlte Lektüre ermöglicht, gab es keinen Widerstand. Es herrscht in beiden Häusern vielmehr eine tolle Kultur des Ausprobierens. Kompliziert wurde es allerdings, als wir eine geeignete Software suchten. Mit DBook.org haben wir nun ein System gefunden. Die Macher kommen aber erstaunlicherweise nicht aus der Buchbranche, das finde ich schon bezeichnend.
Wie kann es gelingen, die Intelligenz des Schwarms (also der 100 Leser) am Ende wieder in einen Text für die Print-Ausgabe zusammenzuführen?
Genau das wollen wir rausfinden. Die Erfahrungen bisheriger Projekte zeigen: Es kann eine tolle soziale Dynamik in solchen virtuellen Leseräumen entstehen, die zu spannenden Ergebnissen führt. Ich hoffe drauf, dass das auch diesmal gelingt. Sie können es am Ende im Feuilleton der SZ nachlesen.
Für welche Themen, Genres oder Ressorts bietet sich der Ansatz außerdem an, neben der Rezension?
Alles? Im Ernst: ich weiß es (noch) nicht, ich kann mir aber sehr viel vorstellen.
Der Autor und Journalist Dirk von Gehlen leitet den Bereich Social Media/Innovation Süddeutschen Zeitung und beschäftigt sich dort mit der Verbindung von Print und Online.
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