Schon im Vorfeld seines Auftritts hatten die Thesen von Alexander Markowetz in der Branche für viel Wirbel gesorgt, sein Interview mit buchreport wurde in Social Media kontrovers diskutiert. Beim readbox-Kundentag hat der Junior-Professor für Informatik an der Universität Bonn seine Positionen ausgeführt – unbequeme Erkenntnisse für alle Smartphone-Nutzer. Und die gesamte Buchbranche.
Hintergrund: Markowetz ist auf den Transfer von Big Data-Technologien in die Medizin und Psychologie spezialisiert. Im Rahmen des „Menthal Balance“-Projektes untersuchen Markowetz und ein Forscherteam Daten von Smartphone-Nutzern. Diese werden mit der zu diesem Zweck programmierten „Menthal“-App gesammelt (200.000 Mal heruntergeladen, davon 50.000 aktive Nutzer der App, die Detailanalyse der Wissenschaftler erfolgt bei 5000 App-Nutzern).
Die zentralen Erkenntnisse der Forscher:
- Pro Tag interagieren wir im Schnitt 60 mal mit unserem Smartphone, also etwa alle 16 Minuten; bei etwa 12% der Nutzer sind es 96 Griffe zum Smartphone pro Tag.
- Jeden Tag verbringen wir durchschnittlich drei Stunden mit Apps und Inhalten auf unserem Telefon – das ist mehr als 37% unserer Freizeit (wenn 8 Stunden Schlaf und 8 Stunden Arbeit zugrunde gelegt werden); bei den 17- 25-Jährigen sind es sogar fast vier Stunden.
- Telefonieren spielt so gut wie keine Rolle (10 Minuten im Schnitt täglich, 1,3 Angerufene pro Woche im Schnitt), stattdessen dominieren WhatsApp und Facebook. Der Studie zufolge kontrollieren Facebook-Firmen rund ein Drittel der Aufmerksamkeit der Nutzer.
Als Ursache für diese intensive Smartphone-Nutzung erkennen die Forscher „dopaminale Prozesse“. Bei den Nutzern werde das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet, weil beim Blick in die Mails, auf SPIEGEL ONLINE oder auf die Fotos der Dating-App Tinder fortwährend Überraschungen erhofft werden – bei Tinder gehe es beispielsweise gar nicht darum, tatsächlich jemanden zu daten, sondern um das Swipen von Foto zu Foto. Dies sei kein rationales Verhalten – bei 60 täglichen Interaktionen mit dem Smartphone würden kaum Entscheidungen getroffen, vielmerh walte ein „irrationaler Automatismus“.
Als Folgen erkennt Markowetz neben der „Fragmentierung des Arbeitstages“ auch einen „Einbruch der intellektuellen Leistungsfähigkeit“. Die Flow-Theorie des Glücksforschers Mihály Csíkszentmihályi besage, dass man etwa 15 Minuten benötige, um in den Zustand des konzentrierten Arbeitens hineinzukommen – diese Anbahnung werde durch die Smartphone-Nutzung oft unterminiert.
Welche Konsequenzen ziehen die Forscher? Markowetz zufolge muss eine „Etikette“ entwickelt werden, die es für ältere Kommunikationsmedien auch gebe (Beispiel: „Nicht nach 22 Uhr anrufen“). Außerdem werde es künftig für die Nutzer darauf ankommen, „digitale Diäten“ zu entwickeln. Diese seien bislang noch in einem „embryonalen“ Zustand (z.B. keine Smartphone-Nutzung auf der Couch oder im Schlafzimmer). Ein solches Ansinnen komme nicht nur von Kritikern der Digitalisierung, sondern selbst von „digitalen Eliten“ wie dem US-Investor Brad Feld oder der Digitalverlegerin Arianna Huffington („Huffington Post“). Solche „digitalen Diäten“ würden künftig zu einem Statussymbol, nach dem Motto „Analog ist das neue Bio“.
Welche Perspektiven ergeben sich für die Buchbranche? Zunächst keine guten: Die „Aufmerksamkeits-Ökonomie“ werde von Firmen wie Facebook kontrolliert, für Verlage werde es immer schwieriger, in die 16 Stunden hineinzukommen, die der Mensch nicht schlafe. Da die Aufmerksamkeit permanent unterbrochen werde, werde die Lektüre von Großromanen wie „Anna Karenina“ schwieriger.
Gleichwohl sieht Markowetz für die Buchbranche nicht nur schwarz. Die Märkte teilten sich zunehmend. Verlage könnten sich auf den Sektor konzentrieren, auf dem Nutzer sich eine „digitale Diät“ verordneten. Dies seien möglicherweise nur 10 bis 15% des heutigen Buchmarktes, aber ein mitunter lukrativer Markt.
„Verlage sind jetzt in der Position von Start-ups, selbst wenn sie eine 350-jährige Geschichte hinter sich haben“, so Markowetz. Wie von Eric Ries in seinem Buch „The Lean Startup“ erläutert, gehe es für Verlage jetzt darum, neue Hypothesen zum Markt zu entwickeln, die dann verifiziert werden müssen (z.B. mit A/B-Tests). Dabei sollten die Verlage stärker auf die Analyse von Big Data setzen, etwa zum Kundenverhalten. Auf diese Weise sei es auch Netflix gelungen, mit „House of Cards“ eine der erfolgreichsten Serien aller Zeiten zu konzipieren.
Bei mir war es früher so: Wenn ich lesen wollte, bin ich ins Café gegangen. Dort konnte ich im Laufe eines Abends 200 Seiten weglesen und alle 5-10 Minuten mal hochschauen, ob die nette Tischnachbarin noch mit ihrer Cola zugange war, oder ob die coole Kellnerin wirklich einen Brilli im Nasenloch trug.
Vermutlich habe ich irgendeine Form von Rausch bekommen, ob es Dopamin war, weiß ich nicht.
Meistens habe ich sogar noch ein oder zwei Gläser Wein getrunken.
Ab und an wurde ich gebeten, zur Seite zu rücken, wurde gefragt, ob ich eine Rose kaufen möchte, oder ob es noch etwas sein dürfe.
Jedes mal war ich für Sekunden rausgerissen aus meinem Lesekosmos.
Gelesen habe ich trotzdem, und vieles von dem, was ich mir behalten habe, hat sich verknüpft mit den Umgebungen, Menschen, Stimmen, die ich neben dem Lesen zusätzlich wahrgenommen habe.
Wie man als Verlag / Autor mit solchen neuen Ablenkungen umgeht? Mmh, wie wäre es mit fesselnder Lektüre? Überraschendem Layout? Cliffhanger am Kapitelende?
Wieso „Analog ist das neue Bio“ blöd ist, könnten wir an anderer Stelle auch mal diskutieren.
„Jeden Tag verbringen wir durchschnittlich drei Stunden mit Apps und Inhalten auf unserem Telefon – das ist mehr als 37% unserer Freizeit.“
Hält Markowetz Smartphones allen Ernstes für private Spielgeräte? Mein Smartphone ist mein mobiles Büro (auf dem sich im übrigen auch etliche Bücher finden, darunter auch sehr umfangreiche Schinken wie Fontantes Stechlin, den ich gern immer wieder lese, ob digital oder in gedruckter Form).
P.S. Ariana Huffington „digitale Elite“? Höhö.
Es kam eben bei der Studie raus, dass die Leute ihre Smartphones NICHT für Berufliches usw verwenden, sondern für Chat/Facebook und Spielen. Klar kann man FB und Whatsapp auch beruflich nutzen, aber ob das mehrheitlich der Fall ist? Man sollte diese Studie ernst nehmen, weil sie nicht aus dem Lager der Kulturpessimisten kommt. Markowetz ist Informatiker. Und da im Team sind auch viele Psychologen.
Informatiker sind die größten Pessimisten, was Social Media angeht. Von jeher und aus gutem Grund, weil sie natürlich um die unkomplizierte Erhebung von Daten ebenso wissen wie um die einfache Manipulierbarkeit von Diensten.
Ich kann solche Studien nicht ernst nehmen (wie generell die Studiengeläubigkeit und die leichte Manipulation von Studien mal ein viel interessanteres Thema wäre).
Was heißt schon mehrheitlich und wer entscheidet, was beruflich ist und was nicht? Die Grenzen verschwimmen doch zunehmend. Smartphones sind Multifunktionsgeräte. also auch Uhr/Wecker, Straßenatlas, Ticketautomat, Notizheft und für manche auch Pulsmesser und Bankassistent.
Das Thema „digitale Diäten“ ist doch seit 2012 durch, als etliche Journalisten Artikel und Bücher darüber veröffentlicht haben. (Bücher, die sich gar nicht mal schlecht verkauften.)
Man darf doch nicht übersehen, dass die Menschen gerade erst einen Umgang mit neuen Angeboten und Geräten finden. Es wird soviel gelesen und geschrieben wie kaum jemals zuvor und neue Erzählformate und Formate zum Wissenstransfer entwickeln sich bei bleibendem Enthusiasmus fürs Medium Buch.
Hier schon wieder gleich reglementieren zu wollen, halte ich für irrwitzig. Das Abendland wird gewiss nicht untergehen. Mich erinnern Markowetz Mahnungen allzusehr an die panischen Rufe zur Erfindung der Eisenbahn, dass das Hirn bei über 40 km/h platze … Aber mit Angstmacherei lässt sich eben auch trefflich Geld verdienen.^^
Ok, traue keinem Informatiker beim Thema SoMe, Thema digitale Diät ist durch, Arianna Huffington ist keine Elite… Mag alles sein. Aber es geht doch primär um die Studie. Die fußt auf tausenden von Nutzerdaten. Und die zeigen, dass Smartphones offenbar keine Multifunktionsgeräte sind, sondern es werden ganz wenige (Facebook-) Apps genutzt – was keine neue Erkenntnis ist. Und klar muss man den Umgang mit den Geräten lernen, aber die sind eben inzwischen nicht mehr neu. Und lernen kann für den einen Diät heißen (finde den Begriff auch nicht so toll), für den anderen vielleicht der Vorsatz, Smartphones für mehr als nur FB zu nutzen. Und andere Studien haben auch gezeigt, dass das Lektürepensum (Bücher, nicht SpOn oder so) deutlich schrumpft, wenn jemand ein Tablet oder Smartphone kauft. Das ist doch nicht mehr von der Hand zu weisen.
„Tausende von Nutzerdaten“ finde ich nun nicht sonderlich beeindruckend. Buchleser sind schon lange eher eine (durchaus nicht ganz kleine) Nische und gelten gemeinhin als sonderlich – umso mehr, wenn wir hier von Leuten reden, die Anna Karenina gelesen (oder es repräsentativ im Regal stehen) haben. Wenn man sich die Bestsellerlisten ansieht, werden die Spitzenplätze doch eher von Titeln belegt, die sogenannte Nicht-Leser kaufen, ob für sich, weil alles es haben (z.B. Feuchtgebiete) oder als Geschenk.
Übrigens kann man auch auf dem Smartphone oder auf dem Tablet trefflich lesen. Hier wird doch gern und viel, über Self-Publisher geredet. Nun – die bedienen mit unverfänglich erhältlichen Vampirschmonzetten und Softpornos einen Massenmarkt. Ob den Anna-Karenina-Lesern das gefällt oder nicht. (Die sicher auch gern mal was Deftiges lesen.)
Ich finde die Thesen, die aus dieser Studie abgeleitet werden, wirklich abenteuerlich. Aber bitte, das viele Lesen von Romanen hat vermutlich mein kleines Frauenhirn nachhaltig geschädigt. Wurde zumindest noch im 18. Jahrhundert gern behauptet.
Mir wird auch gerade klar, warum mich das hier so aufregt (und das tut es!). Für solche Studien und das Lamento über das, was alles angeblich so schlimm ist, habt Ihr immer ein offenes Ohr. Aber mal den Blick zu heben und sich anzusehen, was es an grandiosen kreativen und inspirierenden Projekten insbesondere im kulturellen Raum gibt, die erst durch die Nutzung von Smartphones und Internet entwickeln – das findet nicht statt. Dann geht es nur um Geschäftsmodelle und Startups – und alles andere wird als Kinderei und Firlefanz abgetan. Diese verklemmte Haltung zum digitalen Raum bringt mich wirklich auf die Palme.
So. Und jetzt habt Ihr wieder Eure Ruhe. Ich muss schließlich noch twittern. ^^
200.000 heruntergeladene Apps, 50.000 aktive Nutzer der App (mit der die Daten erhoben werden), davon Stichprobe > 5000, das klingt tatsächlich beeindruckend. Und sorry, der Vorwurf, dass wir nur offene Ohren fürs kulturpessimistische Lamento haben, verfehlt das Ziel. Keiner hat in der Branche so intensiv zB über Wattpad berichtet wie wir – und da sind tatsächlich beeindruckenderweise die ganzen jungen Leser. Oder über neue Formen des Lesens („subcompact publishing“). Kindereien – keineswegs. Manche werfen uns vor, zu digitalaffin zu sein (thematisch), andere das Gegenteil. Irgendwo dazwischen sind wir, aber sicherlich ohne hidden agenda.
A propos „verklemmte Haltung zum digitalen Raum“ und Twitter: Wir haben beide in etwa gleich viele Follower dort, ganz so rückwärtsgewandt scheinen wir also nicht zu sein.
Ein Schwanzvergleich bei völlig unterschiedlich angelegten Twitteraccounts (News vs. Personal Storytelling) zieht aber nicht wirklich ;-).
Wenn Ihr hier Smartphone-Nutzung und insbesondere die Nutzung von FB-Apps anprangert, müsst Ihr nun mal mit Gegenwind leben. Immerhin nutzt Ihr Facebook auch – oder ist das als Freizeitbeschäftigung zu verstehen? Egal ob Twitter, Facebook, Instagram, WhatsApp oder andere Social Apps: wer diese lediglich auf Freizeitbeschäftigung reduziert, übersieht die nicht unwesentliche Bedeutung dieser Networks für Unternehmen. Übrigens auch immer mehr Verlage und Buchhandlungen. Dass FB als führendes soziales Netzwerk darüber hinaus die am häufigsten genutzte App ist, überrascht nun nicht allzusehr, oder?
Mag sein, dass meine Bemerkungen hier recht spitz rüberkommen. Ja, so ist das. Mir fehlt schlicht eine Differenzierung. Die Menthal App hat damals im digitalen Raum zu Recht zu viel Amüsement gesorgt. Hier sollte man auch mal hinterfragen, wer sich freiwillig eine solche App herunterlädt, inwieweit die Daten, die dort einfließen, reell sind und welche Rückschlüsse man aus den Nutzern einer App auf „alle Leser“ ziehen kann. Da erwarte ich, mit Verlaub, in der Tat mehr journalistische Einordnung und kritische Berichterstattung als lediglich ein Nacherzählen der Thesen eines einzelnen Herrn.
Wir kommen da nicht weiter. Mit Gegenwind haben wir im übrigen kein Problem, es ist doch toll, wenn über unsere Artikel diskutiert wird (wobei hier natürlich ein anderer Fokus zentral ist). Und ja, es ist aus unserer Sicht legitim und sinnvoll, nicht bei jedem Artikel selbst Meinung anzulegen, sondern schlicht und einfach Thesen zu referieren – das wäre sonst nämlich tatsächlich alte journalistische Schule, aus einer Zeit, als Journalisten meinten, per se mehr zu wissen und klüger zu sein als alle anderen.
Wir haben gerade eine App namens Big Dada rausgebracht. Man kann ihr jede Frage bezüglich der Zukunft des Buchhandels stellen. Das Tolle daran: Man kann sie nicht runterladen und nicht installieren, und sie antwortet garantiert nie, lenkt also auch nicht ab! – Nichts zu danken!