Ich bitte alle Menschen, ein Blatt Papier zur Hand zu nehmen und mit der Hand die Wörter ‚Schulen nicht ans Netz‘ darauf zu schreiben und während des Schreibens die schreibende Hand zu beobachten und gleichzeitig zu denken: Ich beobachte soeben eine klassische Kulturtechnik am Abnippeln.“ Der Schriftsteller Max Goldt hat in einem medienkritischen Essay aus dem Jahr 2000 grundsätzliche Bedenken gegen die zunehmende Technisierung der Klassenzimmer angemeldet.
Entsprechend würde er wohl auch dem Cyber-Classroom nichts Positives abgewinnen können, anders als die meisten Schüler, denen die technische Hardware vertraut ist: Den 55-Zoll-Flachbildfernseher kennen sie aus dem elterlichen Wohnzimmer, die 3-D-Brillen vom Kinobesuch und mit dem Wii-Controller bedienen sie auch ihre Spielekonsole. Allein läuft im Cyber-Classroom ein anderes Programm als Filme oder Videospiele: In Form von 3-D-Modulen werden klassische Unterrichtsinhalte aus Fächern wie Biologie, Physik oder Chemie veranschaulicht, zum Beispiel ein schematisiertes Modell des Mittelohrs, der DNA-Doppelhelix oder des Atoms.
Das Josef-Albers-Gymnasium in Bottrop ist eine von 45 Bildungseinrichtungen, in denen der Cyber-Classroom zum Einsatz kommt. Wie die Technik funktioniert, demonstrieren bei einem Besuch die Oberstufenschüler Tobias Hullerum und Tom Adams, die nicht nur den Lehrern an ihrer Schule als Ansprechpartner für die neue Medieneinheit zur Verfügung stehen, sondern den Cyber-Classroom auch auf der Frankfurter Buchmesse 2012 einem internationalen Publikum vorgestellt haben. „Komplexe Abläufe wie chemische Reaktionen können durch die Darstellung in 3-D besser nachvollzogen werden“, meint Hullerum und sein Klassenkamerad sieht vor allem Vorteile durch die Möglichkeit der Interaktion.
Das Konzept des Cyber-Classrooms stammt vom Stuttgarter Software-Unternehmen Visenso, das ursprünglich mit Visualisierungsprojekten für die Automobilindustrie gestartet war. Durch einen Auftrag des Freiburger Europaparks Rust, der eine kindgerechte Aufbereitung komplexer wissenschaftlicher Themen wünschte, kam Geschäftsführer Martin Zimmermann auf die Idee, dass solche Lernmodule auch im Schul- und Bildungsbereich eingesetzt werden könnten.
Erste Lernmodule für Schulen wurden umgesetzt und Kooperationen geschlossen, z.B. wurden in Zusammenarbeit mit einem regionalen Sponsor aus der Industrie bundesweit Schülerlabore an Hochschulen oder sonstigen außerschulischen Lernorten eingerichtet, an denen Professoren, Lehrer und Schüler die Technik testen und dabei helfen sollen, sie weiterzuentwickeln. Neben Schulen hat Visenso zurzeit vor allem den Bereich Aus- und Weiterbildung im Blick, z.B. im Servicetraining eines Maschinenbauunternehmens.
Wird der Cyber-Classroom im Bildungssektor Schule machen? Einige Fragen und Antworten:
- Was ist der Nutzen für Lehrer und Schüler?
„Schüler bewegen sich in einer virtuellen Umgebung, tauchen regelrecht in die Inhalte ein und können mit dem Lernstoff interagieren, Daten verändern oder bestimmte Prozesse in Gang setzen“, erläutert Zimmermann. Der Visenso-Geschäftsführer ist von den positiven Auswirkungen der 3-D-Technik auf das Lernverhalten überzeugt und verweist auf eine europäische Studie des US-Technologieanbieters Texas Instruments. Zudem bestätigen laut Zimmermann die Schulen, die den Cyber-Classroom bereits nutzen, dass ihre Schüler durch das visuelle und kinästhetische Lernen einen starken Motivationsreiz bekämen und im Unterricht aufmerksamer seien.
- Wie hoch sind die Kosten für die Schulen?
Die Hardware, bestehend aus einem Stereofernseher und einem Rechner, der mit einem Tracking-System gesteuert wird, inklusive aller verfügbaren Lernmodule (aktuell 70) und Visualisierungsmöglichkeiten kostet 15500 Euro. „Aktuell arbeiten wir an einer günstigeren Einstiegslösung für unter 10000 Euro“, lässt Zimmermann durchblicken. Das wäre noch immer ein hoher Betrag angesichts der Tatsache, dass an vielen Schulen das Geld knapp ist. Das wirft die nächste Frage auf:
- Wie wichtig ist Sponsoring?
Die Anschaffung machen Unternehmen der Wirtschaft möglich, die als Bildungssponsoren auftreten, etwa das Spezialchemie-Unternehmen Evonik oder der Schraubenhersteller Würth. „Schließlich ist nicht nur der Staat gefragt, wenn der Nachwuchs im internationalen Vergleich nicht den Anschluss verlieren soll, sondern auch die Wirtschaft“, begründet Zimmermann.
Zurzeit beschäftigt sich Visenso mit der Konzeption einer Online-Plattform, die noch in diesem Jahr auf den Markt kommen und sämtliche Lernmodule für Bildungsinstitutionen zur Verfügung stellen soll.
Erstveröffentlichung in: buchreport.spezial Lernen & Wissen 2013, S. 22/25
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