Der Hirnkost Verlag publiziert das Jahrbuch »Das Science Fiction Jahr«. Seit 1986 hält das Standardwerk Science-Fiction-Fans auf dem Laufenden. Mitherausgeber Hardy Kettlitz über Verschiebungen auf dem SF-Buchmarkt:
„Das Science Fiction Jahr 2022“ bietet einen Überblick zu den aktuellen Entwicklungen des Genres. Welche Trends bestimmen zurzeit das Segment?
Wie schon in den vergangenen Jahren sind das Themen, die zurzeit von allgemeinem Interesse sind. Wir haben nach wie vor viele SF-Romane, die den Klimawandel aufgreifen, auch die Pandemie beschäftigt weiterhin viele Autoren und Leser.
Wie kam es zur Entscheidung, das Thema Kolonialismus zu einem der inhaltlichen Schwerpunkte der Ausgabe zu machen?
Hauptschwerpunkt ist die private Raumfahrt, die im vergangenen Jahr in den Schlagzeilen war: „Star Trek“-Schauspieler William Shatner ist als Weltraumtourist ins All gereist und Unternehmer wie Jeff Bezos oder Elon Musk haben eigene Raumfahrtunternehmen. Unweigerlich mit der Raumfahrt verbunden ist das Thema Kolonialisierung, denn mit jedem Schritt ins All machen wir auch einen Schritt auf fremde Welten zu.
Spielten bei der Wahl auch die aktuellen Debatten zum Post-Kolonialismus eine Rolle?
Der Kolonialismus ist ein großes Thema, aber wir sind kein politisches Jahrbuch. Stattdessen wollten wir beleuchten, wie die Science-Fiction-Literatur diese Bewegungen widerspiegelt. Es ist schon seit einiger Zeit ein Trend in der Science-Fiction, dass wir nicht mehr nur angloamerikanische Autoren zu lesen bekommen, sondern solche aus aller Welt. Darunter sind nicht wenige afrikanischer, arabischer und asiatischer Herkunft, und natürlich haben diese Autoren einen ganz anderen Blickwinkel auf die kulturelle Entwicklung.
Science-Fiction reflektiert also immer auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen?
Ja, das war schon immer so. Es gibt sicher Bereiche der Science-Fiction, die eher eine Art Fluchtliteratur sind, aber der große Teil des Genres greift aktuelle Entwicklungen in Gesellschaft oder Politik auf. Denn die Verlage wollen Bücher verkaufen, und das schafft man am besten mit Themen, die die Leser interessieren. Science-Fiction hat dabei die Möglichkeit zu extrapolieren, etwa wie es mit einer Pandemie weitergehen könnte. Sie kann aber auch gesellschaftliche Zusammenhänge konstruieren, man denke nur an die berühmten Dystopien von George Orwell oder Aldous Huxley. Sie kann ökologische Fragen in anderen Welten durchspielen, wie Ursula K. Le Guin in ihrem Roman „Das Wort für Welt ist Wald“.
Science-Fiction ist nicht nur ein Spiegel des Zeitgeistes. Zeichnet sie sich nicht vor allem dadurch aus, dass sie die Wirklichkeit übersteigt und Zukünftiges vorausahnt?
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Ich kenne Hardy Kettlitz und die Menschen, die über Science Fiction bestimmen, seit vielen Jahren. Ausgelöst durch Corona habe sich unsere Wege getrennt und ich sehe keine gemeinsame Grundlage für einen geistigen Austausch oder auch nur die Klärung entgegengesetzter Positionen.
Was uns »eint«, ist das Leben in einer Welt, die zu einem postmodernen Cyberpunk-Faschismus verkommen ist. Science Fiction und Horror habe ich spätestens seit Corona in der Wirklichkeit und in den Nachrichten.
Heute Morgen, am 4. März 2023, haben mich Berichte über hunderte vergifteter Schulmädchen im Iran dazu gebracht, einen vermutlich sinnlosen Kommentar zu schreiben. Zum Afrofuturismus kann ich aus zweiter Hand einen Bericht über Ghana beisteuern. Die Zukunft besteht dort darin, dass die Menschen ohne fließendes Wasser leben und auf Plumpsklos gehen müssen und die Wasserversorgung privatisiert ist.
Ist das Zukunft?