Der gewaltsame Tod ist ein zentrales Motiv der Spannungsliteratur. Donna Leon, Nele Neuhaus und Michael Tsokos schreiben über Todesfälle und haben über den besonderen Reiz dieses Unterhaltungsgenres diskutiert.
„Es ist schockierend, dass wir es unterhaltsam finden, unseren Mitmenschen dabei zuzusehen, wie sie leiden“, stellt Donna Leon ein bisschen schuldbewusst fest. Die 74-jährige US-Amerikanerin bedient dieses Unterhaltungsinteresse regelmäßig und platziert seit Anfang der 90er-Jahre mit großem Erfolg in ihren Kriminalromanen Leichen in Venedig, deren Leidensgeschichte und die der Täter. Auf deutsch sind die 25 Romane um Commissario Brunetti bei Diogenes erschienen.
Dass Krimis so erfolgreich sind, liegt daran, „dass Menschen eine dunkle Seite haben“, psychologisiert Nele Neuhaus (49): „Jeder von uns hat die Faszination für das, was eigentlich nicht ans Tageslicht kommen sollte.“ Neuhaus hatte als Selfpublishing-Autorin begonnen und ist mittlerweile mit ihren Taunuskrimis umsatzstärkste Ullstein-Autorin.
Donna Leon und Nele Neuhaus haben auf der Frankfurter Buchmesse zusammen mit dem Forensiker Michael Tsokos (49) über die Faszination des Bösen diskutiert. Tsokos hat 100.000 Tote gesehen, darunter auch Leichen aus Massengräbern. Tsokos verarbeitet seine Erfahrungen in Sachbüchern, ist aber auch belletristisch aktiv, aktuell gemeinsam mit Andreas Gößling mit der Trilogie „Zerschunden“/„Zersetzt“/„Zerbrochen“ (Knaur).
Faszination des Bösen: Das Magazin „stern Crime“ hatte die erfolgreichen Krimispezialisten Donna Leon, Michael Tsokos und Nele Neuhaus (v.l.) geladen, um auf der Frankfurter Buchmesse das eigene Schaffen zu reflektieren. Rechts: Moderator Arne Daniels, Leiter des Ressorts Gesellschaft beim „stern“.
Zweikampf zwischen Gut und Böse
Warum Krimis? Vielleicht habe sie nicht das Talent, einen echten Roman mit seinen zahlreichen Handlungsoptionen zu schreiben, verweist Donna Leon auf die einfache Grundformel aller Krimis: das Verbrechen, die Ermittlung des Täters und seine Bestrafung. Auch Neuhaus und Tsokos sind sich sicher, dass ohne den Zweikampf zwischen Gut und Böse kein Krimi entstehen kann. Aber dieses Muster erlaubt viele Variationen und Überraschungen und lässt sich spannungsvoll ausgestalten.
Michael Tsokos, der sich seiner hauptberuflichen Erfahrung und wahrer Kriminalfälle bedient, wird in seinen Beschreibungen durchaus explizit, wenn es um Verbrechen und die daraus folgenden Verletzungen geht. Im Berufsalltag des Forensikers kann er nur so den Tathergang rekonstruieren und nachvollziehen. Donna Leon vermeidet dagegen die detaillierte Tatbeschreibung möglichst und möchte nicht den Gewaltkitzel fördern. Auch in den Taunuskrimis von Nele Neuhaus findet man wenige solcher expliziten Schilderungen. Die Details überlässt die Autorin der Fantasie ihrer Leser. Aber realitätsnah, da sind sich die 3 Autoren einig, muss es sein.
Das Gefühl, es könnte real sein
Neuhaus erzählt, dass sie bei ihren Recherchen den Frankfurter Rechtsmedizin-Professor Hansjürgen Bratzke konsultiert hat, um nicht die Klischees amerikanischer Serien fortzuschreiben oder die Bilder des humoristisch angelegten Prof. Boerne im Münster-„Tatort“. Das sei nicht die Realität, sagt Neuhaus: „Wenn ich die Opfer mit Respekt behandele, merkt der Leser das und findet das auch gut.“
Bei den Mordfällen selbst versucht sie etwas zu erschaffen, was in der Nachbarschaft real werden könnte. Sie möchte das Böse in eine scheinbar normale Welt transportieren: „Bei meinen Geschichten ist alles Fiktion, ich denke mir jede einzelne Figur aus. Die Attraktivität des Buches entsteht aber daraus, dass der Leser das Gefühl hat, es könnte real sein. Sie spielen deshalb auch in einer konkreten Landschaft, im Taunus, eine Verortung, bei der man glauben kann, das sei tatsächlich passiert.“ Und es sei eben deshalb auch wichtig, gründlich zu recherchieren.
Zu Donna Leons Realismus gehört, dass viele ihrer Geschichten kein wirkliches Happy End haben: „Häufig hat man das Gefühl, dass sich kaum etwas verändert hat, denn das ist meistens die Realität im echten Leben eines Menschen und in Verbrechen. Die Leute sind immer noch tot und nichts hat sich wirklich verändert.“
Weniger real (und banal) als in der kriminellen Wirklichkeit sind die Charaktere. In der Fiktion werden Verbrecher deutlich überspitzter dargestellt, als es Tsokos aus der Erfahrung berichten kann: Reale Serienmörder seien üblicherweise weder besonders klug noch vorausplanend. Für die Dramaturgie müssen aber in Büchern und Filmen besondere Charaktere her, die das Interesse der Leser wecken, um ein lange ausgeglichenes Duell mit dem Guten führen können.
Wohliges Gruseln und reale Angst
Und der Reiz der Krimis, die Faszination des Bösen? Suchen Leser die Abwechslung zu ihrem langweiligen Leben, kultivieren sie ihre eigenen dunkeln Seiten oder ist es der Wunsch, sich den eigenen Ängsten zu stellen? Tsokos spricht mehrfach vom „wohligen Gruseln“, um das Gefühl zu beschreiben, das durch Krimis entsteht: eine Gefahr, die durchaus realistisch ist, jedoch jederzeit durch das Zuklappen des Buches oder mit einem Knopfdruck der Fernbedienung beendet werden kann.
Donna Leon bringt bei der Frankfurter Diskussionsrunde zum Thema Angst die weibliche Perspektive ein: „Frauen erleben Angst, Männer nicht.“ Frauen fürchteten sich nachts auf der Straße, Frauen seien häufiger das Opfer von Kriminalität: „Deshalb sind Frauen an Angst interessiert, denn Gefahr ist eine Realität in unserem Leben.“ Sie glaube nicht, dass Frauen von Krimis tatsächlich begeistert sind, vielleicht planten sie nur Flucht- oder Rettungstaktiken.
Tsokos hält es für eine ureigene Eigenschaft der Menschen, sich ihren Ängsten zu stellen. Bereits Kinder suchten immer wieder den Grusel und trainierten den Umgang mit Angst. Er vergleicht es mit Menschen, die Bungee-Jumping machen oder andere Extremerfahrungen suchen, um sich ihren Ängsten zu stellen. Und das könne man eben auch mit einem Krimi zu Hause oder in der Bahn sehr gut machen.
Kristina Wilking redaktion@buchreport.de
Foto: Alexander Heimann / Frankfurter Buchmesse
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