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Fit für die VUCA-Welt? 10 Thesen zur Buchmesse

Auf der Bühne der Frankfurter Buchmesse läuft viel Business as usual. Die massiven Veränderungen der Branche vollziehen sich in den Unternehmen. Berater Ehrhardt F. Heinold präsentiert pointiert Entwicklungen und Herausforderungen für die Akteure.

Erhardt F. Heinold (Foto: Lars Krüger)

1. Die VUCA-Welt hat die Verlagsbranche erreicht

Das Modeakronym des digitalen Zeitalters lautet VUCA und steht für volatility (Volatilität‚ Unbeständigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Auf einen kurzen Nenner gebracht: Auch im traditionell eher langfristig orientierten Verlagsgeschäft nimmt die Planbarkeit ab und die Unsicherheit zu. Welche Inhalte werden künftig in welcher Aufbereitung und in welchen Formaten mit welchen Geschäftsmodellen in welchen Vertriebskanälen zu welchen Konditionen vermarktet werden können? Um sich auf das Unplanbare und Kurzfristige besser einzustellen, organisieren sich Verlage um, bilden kleinere (Unter-)Einheiten, verändern gewohnte Planungszyklen und streben so nach „Agilität“, um sich schnell an veränderte Marktbedingungen anpassen zu können.

 

 

2. Gedruckte Bücher und Zeitschriften bleiben für weite Teile der Branche Basisgeschäft

Gedruckten Medien wurde schon das Aussterben prophezeit, doch sie halten sich hartnäckig – weil eine ausreichend große Zahl von Leserinnen und Lesern sie lieben. Das liegt an Lesegewohnheiten, aber auch an der Vorliebe für Haptisches, bei gut gemachten Büchern auch an der Ausstattung und am „Habenwollen“. Das trifft sogar noch auf das Hörbuch auf CD zu. Natürlich: Auflagen sinken, in einigen Mediengattungen dramatisch (Tageszeitungen, Publikumszeitschriften), in anderen weniger oder gar nicht (Bücher, mit Unterschieden je nach Segment). Die Kunst für das Management von Printmedien wird darin bestehen, sie weiterhin rentabel zu vermarkten, indem sie auf der einen Seite wertig genug (Premiumprodukte), auf der anderen Seite kostengünstig produziert werden oder schlicht lieferbar (als PoD) sind.

 

3. Inhalte (und Rechte) sind Kernprodukt, die Vermarktungsformen erweitern sich

Immer mehr Verlage, mittlerweile auch im Bereich der Belletristik, sehen nicht das gedruckte Buch im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit, sondern Inhalte und die damit verbundenen Rechte, die sie auf allen medialen Wegen vermarkten. Print wird damit zu einem Verbreitungsweg, der neben anderen Vermarktungsformen (Audio, E-Book, Apps, Plattformen, Datenbanken) besteht. Diese Inhalte können in der bisherigen Produktform vermarktet werden, aber vor allem bei Sach- und Fachthemen (Datenbanken) auch in ganz neuen Zusammenstellungen.

Textbasierte Inhalte bleiben dabei das Kernangebot der meisten Verlage, in einigen Bereichen gewinnen andere Formen (Animation, Video, Gaming, E-Learning) an Bedeutung. Zu beobachten ist also weniger eine Verdrängung bestehender Formen als vielmehr eine Ausweitung an medialen Formaten und Aufbereitungsformen, was das Verlagsgeschäft komplexer macht.

Eine Branche, die mit Inhalten handelt, bleibt in einem sich immer weiter auffächernden Medienmarkt nur attraktiv, wenn sie den richtigen Inhalt zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Vermarktungsform bringt: Darum wird es auch zukünftig beim Kerngeschäft „Verlegen“ gehen.

 

4. Hören und Sehen werden immer wichtiger

Lesen bleibt eine attraktive und ganz einzigartige Tätigkeit, aber es hat seinen Nimbus als einzige flexible und individuelle Form des Medienkonsums verloren. Im Windschatten des wachsenden Hörbuchmarktes haben sich Podcasts zu einem jugendlichen Massenmedium entwickelt, das sich überall konsumieren lässt und das neben Unterhaltung vor allem Informationen vermittelt. Leicht aufnehmbare Sachinhalte, oft vermittelt durch Persönlichkeiten. Gleiches gilt für Videos, ob als Unterhaltungs- oder Erklärvideo bis hin zur Netflix-Serie – in digitalen Plattformen verfügbar, immer abrufbar, mobil konsumierbar.

 

5. Groß und groß gesellt sich gern

Der stationäre Handel wird sich weiter konzentrieren und sein Sortiment noch mehr auf Kern- und Kompetenzbereiche fokussieren. Dadurch wird der Konzentrationsprozess auch auf Verlagsseite befördert, es wird weitere Merger oder auch Kooperationen geben. Dieser Prozess beschleunigt eine Entwicklung, die schon lange sichtbar ist: Groß und groß gesellt sich gern – die großen Verlagsgruppen und die großen Verlagshäuser verstärken ihre Zusammenarbeit. Kleine Unternehmen werden es immer schwerer haben, in diesem Vertriebssystem ihren Platz zu finden. Das Gefälle zeigt sich aktuell im Bereich der Wissenschaftsverlage, bei der die „Deal“-­Verhandlungen sich auf drei Verlagsgruppen konzentrieren mit ungewissen Folgen für die kleineren Verlage (mehr dazu im PLUS-Beitrag „Perfekte Bedingungen für Disruption”).

Die Option, Größe durch Kooperationen und Verbünde als Gegengewicht zu simulieren, ist mühevoll, wie Ansätze des unabhängigen Buchhandels zeigen.

 

6. Marketing und Vertrieb verändern sich grundlegend

Die Konzentration und die damit verbundene Machtposition des Handels löst die langjährigen Marketing- und Vertriebsstrukturen auf:

  • Verlage schichten Ressourcen vom klassischen Handelsvertrieb zum direkten „Endkunden“-Kontakt um und arbeiten via Newsletter, Blogs, Social Media, Events, Messen und PR daran, ihre Bücher und Medienangebote für die Leser/Nutzer sichtbarer zu machen und direkte Kommunikationswege aufzubauen.
  • Das Handelsvertriebssystem wird an die veränderten Händlerstrukturen angepasst. Kernerkenntnis: Eine Gleichbehandlung der Handelspartner und Vertriebswege ist nicht mehr sinnvoll. Die wichtigsten Handelspartner („Key Accounts“) erwirtschaften oft den Großteil des Umsatzes und müssen besonders betreut werden. Die Gretchenfrage lautet: Welche Kunden müssen noch direkt persönlich betreut werden, bei welchen reicht eine Telefonbetreuung, bei welchen eine Grundversorgung?
  • Konditionsdruck und Betreuungsaufwand der großen Händler werden immer größer, mit Amazon als Vorreiter, der mit seinen immer neuen (gar nicht aufs Buchgeschäft spezifizierten) Forderungen und Vorgaben die austarierten Branchengepflogenheiten aus­hebelt, was von den großen Buchhandelsketten gern aufgegriffen wird. Hier müssen sich die Verlage fragen, wie sie ihre Abhängigkeit vermindern können. Ihr Pluspunkt: Amazons Priorität wird immer darin bestehen, möglichst alle Bücher liefern zu können, sodass Verlage sich sehr wohl überlegen können, ob sie tatsächlich einen Vertrag mit Amazon benötigen.
  • Die Veränderungen auf Handelsseite zeigen Auswirkungen im klassischen Buchhandelsdistributions- und Vertriebssystem (KNV-Übernahme, Reduktion der Titelzahl bei Libri), die sicher noch nicht das Ende dieser Entwicklung darstellen. Wie eine einzigartige, für alle Vertriebswege leistungsfähige und gleichzeitig bezahlbare Infrastruktur in schrumpfenden Buchmärkten aufrechterhalten werden kann, ist eine der spannenden Zukunftsfragen der Branche.

Allen Branchenteilnehmern gemeinsam ist die Herausforderung, den Käufern mehr Orientierung zu geben (ein Ergebnis der „Quo vadis“-Studie des Börsenvereins). Neben Events, Bestseller- und Themenlisten, Auszeichnungen, Community-Empfehlungen und Medienpräsenz sind Marken (wie Autoren, Reihen, Zeitschriften, Digitalangebote) ein wichtiges Instrument. Deshalb werden in den Redaktionen, Lektoraten und der Marketingabteilungen Prinzipien moderner Markenführung mehr Bedeutung gewinnen.

 

7. Datengetriebene Produktentwicklung und Vermarktung eröffnen neue Optionen

Datenanalysen werden für Verlage und Buchhandlungen immer wichtiger, sowohl der eigengenerierten Daten (Warenwirtschaft, Vertriebszahlen, CRM, Website) als auch die Gesamtmarktzahlen und spezifische Auswertungen. Die Menge der verfügbaren Daten wächst: E-Book-Dienstleister haben Datendashboards, Amazon, Google und Facebook bieten Daten zur Analyse an. So wird die Analyse von Vertriebs- und Verkaufsdaten zu einer Schlüsselkompetenz im Vertrieb. Das Know-how dazu ist in den meisten Verlagen und Buchhandlungen erst in Ansätzen vorhanden, wie das Beispiel des Preismarketings von E-Books zeigt.

Die Nutzung von Daten für den Vertrieb ist eine Chance, eine weitere ist die Produktentwicklung, bei der die Verlage viel stärker Daten integrieren können: Welche Medien werden von wem wann wie gekauft und vor allem wie genutzt? Welche Suchbegriffe führen zu welchen Käufen? Welche Themen haben Konjunktur, welche Genres, welche Preispunkte sind realisierbar? KI-basierte Tools gehen noch weiter: Sie helfen, Manuskripte einzuschätzen, liefern Absatzschätzungen, empfehlen Verkaufspreise. KI-Tools ersetzen die menschliche Arbeit nicht, sondern unterstützen diese. Die Kreativität von Autoren, Illustratoren, Redaktionen und Lektoraten ist wichtiger denn je, denn nur einzigartige Medienprodukte können sich durchsetzen (s. These 2).

 

8. Fachverlage werden zu Business-Serviceprovidern

Fachverlage entwickeln sich und ihr Geschäftsmodell kundenorientiert weiter, sie werden zu Medienunternehmen (was sich an vielen Umbenennungen zeigt), zu Serviceprovidern oder zu medienbasierten Agenturen für ihre Werbekunden (s. dazu auch der PLUS-Beitrag „Wie Vogel neue Plattformen und Communitys aufbaut”). Das klassische Printgeschäft ist zwar auch in vielen Verlagen noch der zentrale Umsatz- und Renditebringer, aber andere Geschäftsfelder (wie z.B. Datenbanken, datenbasierte Services, Weiterbildungsangebote, Software, Marketingdienstleistungen, Messen) wachsen und sind bei einigen Fachmedienanbietern schon führend. Die Vielzahl der Dienstleistungen wächst, das Geschäft wird immer kleinteiliger und komplexer, was für Mitarbeiter und Organisation eine große Herausforderung darstellt und zu umfangreichen Veränderungs- und Neuorganisationsprojekten führt. Die Fachmedienanbieter bzw. Business-Service-Provider waren noch nie in einer so großen Umbruchphase.

 

9. Ohne Technik-Kompetenz geht es nicht

Die Veränderungen werden Verlage und Buchhandlungen nur meistern können, wenn sie sich intensiv mit ihrer technischen Infrastruktur beschäftigen. Auch wenn die Technik immer leistungsfähiger, einfacher zu handeln („konfigurieren statt programmieren“) und bezahlbarer (wie cloudbasierte Lösungen) oder das Thema auch ganz an einen Dienstleister oder Partner outgesourct wird: Die IT-Infrastruktur – und damit verbunden die Geschäftsprozesse – müssen im Unternehmen gemanagt werden. Da Technisierung alle Abteilungen betrifft, muss überall ein Grundverständnis für Digitalisierung und IT vorhanden sein. Weil das kleine Verlage überfordern kann, wird es hier neue Formen der Kooperation geben.

 

10. Unternehmenskultur ist der Erfolgsfaktor: Purpose, Innovationsfähigkeit und Mitarbeiterattraktivität

Wenn alles im Fluss ist und VUCA-Phänomene zum Alltag gehören, dann rückt die Unternehmenskultur in den Mittelpunkt: Ist der Verlag, die Buchhandlung flexibel genug, innovativ genug und stabil genug für die zunehmende Marktdynamik, aber auch attraktiv genug für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Die große Kunst in der VUCA-Welt liegt darin, das bestehende Geschäft weiter auf Kurs zu halten (weil hier die Erträge erwirtschaftet werden) und gleichzeitig Neugeschäft aufzubauen. Wer die erfolgreichen Medienhäuser beobachtet, stellt fest: Unternehmens­kultur und Organisationsstruktur sind die zentralen Erfolgsfaktoren (s. auch der PLUS-Beitrag „Bekommt die Medienbranche die richtigen Mitarbeiter?”).

Lange Abstimmungs- und Entscheidungswege, unklare Zielvorgaben, fehlende Fokussierung, mangelnde Attraktivität als Arbeitgeber – das alles sind Bremsklötze für Entwicklung und Innovationen. Es muss ja nicht gleich eine „Holycracy“, also die weitgehende Auflösung von hierarchischen Strukturen umgesetzt werden, aber eine dynamische Organisationsstruktur mit gemeinsam erarbeiteten und geteilten Zielen und Werten ist die Grundlage für den Erfolg. Die Orientierung an einem „Purpose“, also der Sinn und Zweck des unternehmerischen Handelns, steht nicht ohne Grund ganz oben auf der Agenda so vieler Unternehmen.

Ehrhardt F. Heinold

 

Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse – im buchreport.magazin 10/2019

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