Vorschusslorbeeren können für einen Schriftsteller ein zweischneidiges Schwert sein. Oft genug halten die hohen Erwartungen mit der Realität kaum Schritt. Nicht so im Fall von Justin Cronin: Sein Roman „The Passage“, um dessen Rechte vor drei Jahren Verlage und Filmstudios Schlange standen, kommt auch bei den Kritikern, vor allem aber bei den Lesern an. Er hat die Bestsellerlisten im Sturm erobert und wird in den USA euphorisch als Buch des Sommers gefeiert.
Es passiert nicht häufig, dass ein Verlag für eine Trilogie, von der der erste Band nur zur Hälfte geschrieben vorliegt, einen Millionenbetrag auf den Tisch legt. Die Random House-Tochter Ballantine hat es getan: 3,75 Mio Dollar sollen Verlegerin Libby McGuire im August 2007 die Rechte an dem Dreiteiler wert gewesen sein. Für 1,75 Mio Dollar sicherte Ridley Scotts Filmgesellschaft Free Productions sich nur wenig später die Filmrechte. John Logan, der schon das Drehbuch für „Gladiator“ geschrieben hat, arbeitet den Roman derzeit für die Leinwand um.
Ungewöhnlich ist auch die Vita des Autors. Justin Cronin ist Professor für Englisch an der Universität von Houston und Absolvent des prestigeträchtigen Iowa Writers’ Workshop, der u.a. die Pulitzer-Preisträger Philip Roth, Michael Cunningham und Marilynne Robinson hervorgebracht hat. In bester Iowa-Tradition wurde Cronin für seinen bei Dial erschienenen Debütroman „Mary and O’Neil“ 2003 mit Auszeichnungen bedacht, die Literaten vorbehalten sind: PEN/Hemingway Award, Whiting Writers’ Award, Stephen Crane Prize und Pew Fellowship in the Arts.
Pseudonym für die Vampir-Apokalypse
Ein futuristisch-apokalyptischer Roman von über 1000 Seiten, in dem nach einem fehlgeschlagenen militärischen Experiment blutrünstige Vampire außer Kontrolle geraten und Nordamerika übernehmen, passt nicht so ganz in dieses Schema. Das dachten sich auch Cronin und seine Literaturagentin Ellen Levine (Trident Media Group) und beschlossen deshalb, das Manuskript von „The Passage“ zunächst unter dem Pseudonym Jordan Ainsley einzureichen. Dass der Zuschlag an Ballantine ging, der wie Dial zu Random House Inc. gehört, war Zufall, passt aber irgendwie ins Bild.
Von den großen US-Buchketten wird „The Passage“ prominent beworben, doch von Anfang an haben die unabhängigen Buchhändler in Ballantines Planung eine wichtige Rolle gespielt, weil niemand so gut Mundpropaganda generieren kann wie sie. Ein Abstecher von Cronin zum Winterseminar der American Booksellers Association (ABA) Anfang Februar kam so gut an, dass der Verlag anschließend mit dem Drucken von Leseexemplaren und Leseproben kaum nachkam. Viermal musste er insgesamt 10.000 Exemplare nachdrucken lassen.
Was die Werbung angeht, sind Poster auf Telefonzellen und Plakatwänden sowie Anzeigenwerbung in den Printmedien Teil der klassischen Schiene. Zum elektronischen Werbeprogramm gehören u.a. ein iPhone-App, Bannerwerbung auf häufig besuchten Entertainment-Websites und ein Online-Spiel, das in über 100 Spiele-Portalen geschaltet wurde. Außerdem hat Ballantine zwei Microsites freigeschaltet, eine für Buchhändler und Bibliothekare und eine für Konsumenten mit Trailer und kostenlosen Downloads.
Maßgeschneiderte Werbung zur BEA
Bei der BookExpo America (BEA), wenige Tage vor der Auslieferung von Cronins Vampirroman (Startauflage: 250.000 Exemplare), hatte der Hype seinen Höhepunkt erreicht. Übersehen werden konnte „The Passage“ in New York nicht: In der Eingangshalle des Jacob J. Javits Centers warb ein riesiges Banner in der Größe eines Stadtbusses für das Buch, das Cover prangte auf 13.000 Namensschildern für Fachbesucher. Hunderte von Buchhändlern wollten ein Autogramm des Autors, der allen Wünschen geduldig nachkam und seine Auftritte nur für Interviews unterbrach.
Die US-Medien reißen sich erwartungsgemäß um Cronin, der am 8. Juni nach der Buchpremiere in der New Yorker Borders-Filiale am Columbus Circle auf eine Lese- und Signiertournee durch 17 Großstädte aufgebrochen ist, die bis zum 22. Juli dauert. Immer freundlich, gelassen und eloquent beantwortet der Autor die unausweichliche Frage, ob und in welchem Maße ihn Stephenie Meyer beeinflusst hat, mit immer der gleichen Auskunft: „Ich habe ihre Bücher nicht gelesen.“ Gefolgt von dem Hinweis, dass Vampire in Büchern und Filmen keine neue Erfindung sind.
Viel Zeit zum Ausruhen hat der 47-Jährige nach seiner US-Tour nicht. Zum einen steckt er mitten in der Arbeit an dem für 2012 geplanten zweiten Buch (Nr. 3 ist bei Ballantine 2014 in der Pipeline), zum anderen geht es demnächst nach Europa. Vom 13. bis 17. September erwartet Goldmann den Amerikaner in Deutschland. Die Terminplanung steht noch nicht endgültig, aber ein Besuch beim Hamburger Harbour Front Literaturfestival wird den Auftakt machen.
Für den neuen US-Star lässt sich Goldmann nicht lumpen. Lesereise (mit Heio von Stetten als „deutscher“ Stimme), ein Kinotrailer in neuer digitaler Technik in 480 Kinos, eine Homepage für „Der Übergang“, sechs Seiten in der Vorschau, ein dickes POS-Paket für den Buchhandel und Printwerbung – 30 Mio Kontakte soll die Bestseller-Werbung für den Spitzentitel zum Weihnachtsgeschäft bringen. Cronins größter Fan ist Verleger Georg Reuchlein: „Es gibt Bücher, die passen in keine Schublade. ,Der Übergang‘ gehört zweifellos dazu. Cronins Roman ist mit Abstand die intelligenteste Art, Gänsehaut zu erzeugen, die mir seit Langem begegnet ist.“
Anja Sieg, sieg@buchreport.de
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