Händler verlieren an Bedeutung für die Kunden, sie werden nur noch als „Point of Sale“ wahrgenommen. Das liegt auch daran, dass im Internet die benötigten Informationen zur Produktauswahl in viel größerem Umfang vorhanden sind. So gewinnt der „Point of Decision“ stark an Bedeutung. Was bedeutet dies für die Zukunft des Handels?
Zu den Autoren:
Gerrit Heinemann ist deutscher Wirtschaftswissenschaftler mit den Schwerpunkten E-Commerce, Online-Handel und Multi-Channel-Handel. Er ist seit 2005 Professor für BWL, Management und Handel an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.
Christian Gaiser ist CEO und Gründer des deutschen Online-Netzwerkes kaufDA.
Zentrales Interesse eines jeden Kunden ist es seit jeher, in seinem Kaufprozess ein Produkt zu finden, das seine Bedürfnisse optimal befriedigt. Hilft ein traditioneller Händler dem Kunden dabei und bietet er diesem dazu noch einen akzeptablen Preis, dann hat dieser Händler gewöhnlich eine hohe Relevanz für den Kunden. Daraus leitete sich bisher die primäre Rolle des Handels für die Konsumenten ab. Im besten Fall war es dem Händler auch gelungen, damit den Nutzen seiner Kunden zu optimieren. Dabei erfolgte die gesamte Wertschöpfung des Kaufentscheidungsprozesses bei ihm. Beschaffung, Vorauswahl und Beratung usw. wurden ihm dementsprechend honoriert. Der Handel musste sich die Erlöse mit niemand teilen.
Der im stationären Handel gelernte klassische Kaufprozess sieht gewöhnlich vor, dass sich der Kunde zuerst einen Anbieter auswählt. Am Point of Sale entscheidet er sich dann für das Produkt, das seinen Bedürfnissen entspricht. Hierzu verschafft er sich einen Überblick über die Produkte im Sortiment des Händlers, vergleicht die Produkte anhand von Produktinformationen und trifft schließlich eine Produktauswahl mit anschließendem Kauf. Somit hat der Kunde sich zuerst für einen oder mehrere Anbieter entschieden und sich dann vor Ort auf ein Produkt festgelegt. Charakteristisch für den klassischen Kaufprozess ist die Übereinstimmung von „Point of Decision“ und „Point of Sale“.
Das neue Kaufverhalten
Die bisherige Ordnung des Kaufentscheidungsprozesses ist durch das Internet stark verändert worden. Einerseits ermöglicht es dem Kunden, dass er sich beinahe jedes weltweit verfügbare Produkt relativ schnell und einfach beschaffen kann. Andererseits findet er im „World Wide Web“ umfassende Informationen, die ihn bei der Suche nach dem richtigen Produkt unterstützen. Dabei wird der Entscheidungsprozess aufgrund detaillierter Produktinformationen, zusätzlicher Testberichte sowie dargestellter Produktbewertungen von anderen Kunden viel besser unterstützt als bei der traditionellen Beratung durch einen Händler. Nicht nur in rationaler Hinsicht, auch in Hinblick auf emotionale Kaufmotive kann sich der Kunde im Internet orientieren. So findet er innerhalb seiner Peer Group in sozialen Netzen stets auch Informationen über die Akzeptanz und Beliebtheit von Produkten.
Dadurch erhält er Sicherheit bei der Kaufentscheidung. Zudem kann er mit dem Kauf eines Produkts Gruppenzugehörigkeit signalisieren und Social-Media-Instrumente zur Entscheidungsfindung nutzen. Dementsprechend entkoppelt sich der Kaufentscheidungsprozess durch das Internet, was analog zur Entkoppelung der Wertschöpfungsketten im Handel stattfindet. Dabei werden die Erlöse auf die einzelnen Wertschöpfungsstufen verteilt und nicht mehr in Gänze vom Händler vereinnahmt. Als Bedrohung für den Handel stellt sich heraus, dass das Internet die einzelnen Phasen im Kaufentscheidungsprozess verschiebt und sich damit der Point of Decision vom Point of Sale loslöst. Dabei stellt sich der neue (Online-)Kaufprozess so dar, dass der Kunde im Internet zuerst ein Produkt auswählt, das seinen Bedürfnissen entspricht. Mit Hilfe von Preissuchmaschinen, Online-Marktplätzen, Social-Shopping-Diensten oder Communities verschafft er sich dazu einen Überblick über interessante Produkte.
Danach vergleicht er die Produkte anhand von Produktinformationen, zum Beispiel mithilfe von Herstellerseiten, Testberichten, Meinungsportalen oder sozialen Netzwerken, und trifft dann eine Produktauswahl. Erst zum Schluss wählt der Kunde den aus seiner Sicht optimalen Anbieter aus, bei dem er kauft. Dabei entscheidet er meist preisorientiert und relativ losgelöst von Online- oder Offline-Kanälen. Dadurch verliert der einzelne Händler massiv an Bedeutung für die Kunden. Er wird im Extremfall nur noch als „Point of Sale“ wahrgenommen. Das liegt auch daran, dass im Internet die benötigten Informationen zur Produktauswahl in viel größerem Umfang vorhanden sind. So gewinnt der „Point of Decision“ stark an Bedeutung. Für den Kunden bietet das Auffinden der richtigen Information den größten Nutzen und wird damit zum wertvollsten Teil der Wertschöpfungskette. Selbst wenn das Produkt nicht in einem Online-Shop gekauft wird, ist das Internet für die meisten seiner Nutzer das glaubwürdigste Medium im Zusammenhang mit Kaufentscheidungen. Untersuchungen zeigen, dass 97 Prozent aller deutschen Haushalte mit Internet-Anschluss, also rund 70 Prozent aller Deutschen – zunächst im Web recherchieren, bevor sie eine Non-Food-Kaufentscheidung treffen.
Dabei stellen gut die Hälfte der Internet-Nutzer Preisvergleiche an, informieren sich auf Herstellerseiten, lesen Testberichte in Internet oder berücksichtigen Kommentare und Diskussionsbeiträge anderer Nutzer. Mit der zunehmenden Verlagerung der Kommunikation ins Netz verschiebt sich auch die Relevanz einzelner Informationsquellen für den Internet-Nutzer: Mittlerweile zählen Bewertungen anderer Internet-Nutzer zu den vertrauenswürdigsten Quellen. Diese spielen insbesondere bei der Vorbereitung von Käufen eine große Rolle. Die Orientierung an der letzten Handlung des Kunden vor dem Einstieg in den Kaufprozess – in der Regel Googeln – darf insofern die so genannte Customer Journey und dabei die Smartphone-Nutzung nicht ausblenden, die auch Gegenstand der neuesten Studie zum digitalen Kaufverhalten ist.
Smartphones als Treiber einer neuen Veränderung
Diese gerade abgeschlossene Untersuchung über den aktuellen Stand der Nutzung von standortbezogenen Diensten im Zeitreihenvergleich 2013 und 2014 deckt zum Teil dramatische Entwicklungen hinsichtlich der Verbreitung, Nutzerzahl und Häufigkeit des mobilen Internets auf, dessen Implikationen für den Handel als gewaltig bezeichnet werden können. Darüber hinaus bestätigt sie die im letzten Jahr angenommenen Potenziale. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie zu „Zukunft und Potenzialen von standortbezogenen Diensten für den stationären Handel“ von kaufDA, dem internationalen Anbieter von Werbelösungen für den Einzelhandel im mobilen und stationären Internet, dem Handelsverband Deutschland HDE und dem eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein. Für die bundesweit repräsentative Untersuchung hat das Marktforschungsunternehmen Innofact in einer zweistufigen Untersuchung insgesamt 2.016 Personen ab 14 Jahren befragt. Ziel der Studie war es, die Hypothese „Mobiles Internet fördert die Wiederbelebung des stationären Handels“ zu prüfen sowie ein Zeitreihenvergleich zu den Studienergebnissen aus dem Vorjahr 2013 zu realisieren.
Die Studie liefert aktuelle Zahlen zur Entwicklung der Nutzung mobiler Geräte in Deutschland: Die Penetration von Smartphones und Tablet-PC steigt innerhalb von einem Jahr um mehr als die Hälfte (51 Prozent) in 2013 auf zwei Drittel (69 Prozent) im Jahr 2014 explosionsartig an. Nahezu alle unter 30-Jährigen besitzen aktuell ein Smartphone (94 Prozent). Der potentielle Nutzerkreis von Location-based Services (LBS) hat sich damit ebenfalls expansiv vergrößert. Mit einem Zuwachs von immerhin 20 Prozent steigt der Bekanntheitsgrad von LBS im Vergleich zu 2013.
Der Begriff „LBS“ selbst ist zwar auch weiterhin nicht allen Konsumenten bekannt; die Nutzerzahlen von Apps mit lokalem Bezug steigen jedoch um durchschnittlich 4,6 Prozent-Punkte, die Nutzungshäufigkeit um durchschnittlich 9 Prozent-Punkte, bezogen auf die Nutzung von mindestens einmal pro Woche. Das mobile Internet ist ganz klar das Medium für unterwegs: Fast alle der Befragten (92 Prozent) nutzen das Smartphone als Informationsquelle außer Haus. Dabei verwendet rund zwei Drittel von ihnen das Smartphone dort, wo das Produkt verkauft wird, also am Point of Sale. Demgegenüber werden Tablet-PCs (90 Prozent) und PCs oder Laptops (98 Prozent) zur Informationssuche überwiegend zu Hause genutzt.
„Das mobile Internet wird im Handel der Zukunft eine herausragende Rolle spielen“, sagt Stephan Tromp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer vom Handelsverband Deutschland (HDE). „Eine enorm wachsende Zahl an Kunden erwartet dabei, auf dem Smartphone Informationen über ihre stationären Händler abrufen und den Besuch von Geschäften damit vorbereiten zu können. Insofern sind Location-based Services eine große Chance für stationäre Händler, den sich ändernden Kundenerwartungen Rechnung zu tragen und den digitalen Trend für ihr Geschäft nutzen zu können.“ Insbesondere die Digitalisierung des Handels und die Entwicklung des mobilen Internets sind Treiber dieser Entwicklung.
Die Studie macht deutlich, dass vor allem die Smartphone-Nutzung und standortbezogene Dienste enorme Chancen für den stationären Handel mit sich bringen. Der Verbraucher schätzt die Vorteile eines mobilen, vernetzten Lebens und stellt entsprechende Erwartungen an sein Einkaufserlebnis. Standortbezogene Dienste ermöglichen es dem stationären Händler ohne zusätzliche Investitionen, den Konsumenten dort abzuholen, wo er sich aufhält und informiert – im mobilen Netz.“ Konsumenten verwenden LBS überwiegend zur Informationsbeschaffung: Smartphone- beziehungsweise Tablet-PC-User nutzen zu 81 Prozent (79 Prozent in 2013) eine standortbezogene App, die ihren aktuellen Standort verwendet (zum Beispiel Wetter-Apps und Kartendienste).
Mehr als die Hälfte der Befragten (ungewichtet 56 Prozent gegenüber 51,3 Prozent 2013) nutzen Apps, um Informationen über Preis- und Warenangebote von bestimmten Händlern in der Nähe anzuzeigen. Geradezu revolutionär erscheint die explosionsartige Zunahme der Kundenerwartungen um 240 Prozent dahingehend, ihre Smartphones in Geschäften nutzen zu können (Digital-in-Store). Auffallend ist, dass bei der Informationssuche auf mobilen Geräten die Frage nach der Relevanz von Verfügbarkeitsabfragen von Produkten auf 79 Prozent gestiegen ist (gegenüber 73 Prozent 2013). Dementsprechend sind auch die Erwartungen an Location-based Services in Hinblick auf „Informationen zur Verfügbarkeit von Ware im Laden“ auf 84 Prozent angewachsen (gegenüber 77 Prozent 2013). Diese Erwartung führt auch das Ranking 2014 an. In Hinblick auf das Informations- und Kaufverhalten (Shoppingtypen) bestätigen die Befragungsergebnisse 2014 die Zubringerfunktion des Internets für den stationären Handel.
Während im Jahr 2013 die meisten der befragten Personen (35 Prozent) angaben, auf dem Laptop/PC nach Informationen zu suchen, um dann auch dort zu kaufen, zeigt sich 2014 eine überraschende Veränderung: Auf Platz eins liegt nun ROPO mit 39 Prozent, also die Online-Recherche mit anschließendem Kauf im Geschäft. Die diesjährigen Ergebnisse bestätigen nicht nur etliche der aus dem Vorjahr gewonnen Hypothesen, sondern decken zugleich dramatische Veränderungen auf: Wie 2013 werden LBS als attraktiv angesehen und stellen bereits habitualisierte Verhaltensweisen in Frage. Zugleich aber steigt die Nutzung von Smartphones und/oder Tablet-PCs als Informationsmedium vor dem Kauf in einem Geschäft um 150 Prozent. Dieses verdeutlicht und bestätigt zugleich das enorme Potenzial von LBS. Die Ergebnisse der Studie von 2014 zeigen auch, dass mit der zunehmenden Smartphone-Nutzung auf Kundenseite eine wachsende Erwartungshaltung an Informationen via LBS entsteht. Konsumenten erwarten in erster Linie Informationen über Ladenöffnungszeiten mit 82 Prozent (73 Prozent 2013). Knapp dahinter liegt mit 78 Prozent bereits die Verfügbarkeitsabfrage (70 Prozent 2013). An dritter Stelle folgt der Lieferservice mit 67 Prozent. Für stationäre Händler ist dies ein wichtiger Hinweis, um die Erwartungshaltung von Konsumenten zu erfüllen und die Akzeptanz ihrer Dienste zu erreichen.
Fazit
Stationäre Händler müssen sich neu erfinden und ihren Ladenraum durchdigitalisieren („Digital-in-Store“), etwa mit der Möglichkeit zur Bestellung von Waren per Smartphone im Geschäft. Dazu gehört auch, den Zugriff zum Internet sicherstellen, sei es mittels freiem WLAN/Beacon oder Verstärkung des Mobilfunknetzes. Die Erwartungshaltung an verfügbare Information über Händler sowie Produktangebote hat sich im Vergleich zum Vorjahr dahingegen geändert, dass die Verfügbarkeit und Preis von Produkten deutlich an Relevanz gewonnen hat. Außerdem erwarten Konsumenten Informationen über Ladenöffnungszeiten, Standorte von Händlern und aktuelle Angebote. Händler sollten diese Informationen online und mobile entsprechend bereitstellen. Des Weiteren ist bei Konsumenten vermehrt der Wunsch nach Serviceleistungen erkennbar: Lieferservice, Retourenabwicklung, Reservierung von Produkte und Buchung von Beratungsterminen stellen neue Anforderungen an den stationären Handel. Händler sollten mit Serviceangeboten bei Konsumenten punkten und können so möglicherweise die Kundenbindung erhöhen. Sicherheitsbedenken gegenüber LBS gehören auch in diesem Jahr zu den häufigsten Hinderungsgründen für die Nutzung von LBS. Händler sollten daher durch entsprechende Unternehmenskommunikation und LBS-Angebote mit tatsächlichem Mehrwert, nicht einfach nur Werbung, das Vertrauen der Konsumenten in den Dienst und gleichzeitig in den Händler selbst gewinnen und stärken. Allgemeine Informationen über lokale Händler sind bei LBS-Diensten zu Hygienefaktoren geworden. Diese sollten von Händlern als Pflichtteil ansehen und weitere Angebote als Kür hinzugefügt werden.
Autoren: Prof. Dr. Gerrit Heinemann, Leiter eWeb Research Center der Hochschule Niederrhein und Christian Gaiser, CEO Bonial International Group/kaufDA
Weiterführende Literatur
- ePace (2013): Heinemann, G.; Gehrckens, M.; Haug, K.; dgroup (Hrsg.), Digitalisierung des Handels mit ePace – Innovative E-Commerce-Geschäftsmodelle und digitale Zeitvorteile, Wiesbaden.
- Gehrckens, M.; Boersma, T. (2013): Zukunftsvision Retail – Hat der Handel eine Daseinsberechtigung?, in: Heinemann, G.; Gehrckens, M.; Haug, K.; dgroup (Hrsg.) (2013): Digitalisierung des Handels mit ePace – Innovative E-Commerce-Geschäftsmodelle unter Timing-Aspekten, Gabler-Springer, Wiesbaden, S. 51-76.
- Haug, K. (2013): Digitale Potenziale für den stationären Handel durch Empfehlungsprozesse, lokale Relevanz und mobile Geräte (SoLoMo), in: Heinemann, G.; Haug, K., Gehrckens, M; dgroup (Hrsg.), Digitalisierung des Handels mit ePace – Innovative E-Commerce-Geschäftsmodelle und digitale Zeitvorteile, Wiesbaden, S. 27-49.
- Heinemann, G. (2014a): SoLoMo – Always-on im Handel – Die soziale, lokale und mobile Zukunft des Shopping, Springer-Gabler, Wiesbaden
- kaufDA (2013): Studie zum Thema ,,Zukunft und Potenziale von Location‐based Services für den stationären Handel“, Mönchengladbach.
- kaufDA (2014): Studie zum Thema ,,Zukunft und Potenziale von Location‐based Services für den stationären Handel“, Mönchengladbach.
- Stracke, T. (2005): Profilieren statt ignorieren: Internet-Nutzer zwingen Hersteller zum Umdenken, in: Direkt Marketing 11 / 2005, S. 24-27. [Online] verfügbar
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Zunächst erschienen auf e-commerce-magazin.de
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