Bob Steins Ideen (hier mehr) zum sozialen Lesen torpedieren unsere Fähigkeiten zu ungestörtem, konzentriertem Lesen und damit die Grundlagen des Denkens selbst. Nicht mehr die Gesetze logisch-sprachlicher Ordnung, sondern die Spielregeln der digitalen Welt dominieren und verwandeln den Menschen in eine künstliche Intelligenz.
Wir leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Wirklich? Angetrieben von den gewaltigen Kräften des Internet umkreisen täglich Milliarden Informationen die Erde. Alle Obsessionen von sehen und gesehen werden, Börsenkurse und Menschenschicksale bis zur Darmspiegelung zum selber machen, gute und schlechte Informationsquellen, Musik und Lesestoff, Wetter, Pornographie – alles steht gleichgültig nebeneinander, wirbelt umeinander und versucht, wahrgenommen zu werden.
Der Motor dieses Prozesses ist die Werbung. Sie bildet den alleinigen Kontext für Informationen. Die subjektive Bedeutung und Deutung versandet in der Allgegenwart des Werbeobjekts Mensch. Das Buch als Sinn gebende Form des „zwischen den Zeilen Lesens“ verliert in der elektronischen Welt belangloser Zeilen seinen Subtext und damit seinen Wert, der zwischen den Zeilen liegt.
Die Anfänge der Informationsgesellschaft
Die Erfindung der Druckpresse war nicht nur eine technische Innovation, die den Grundstein zur Informationsgesellschaft legte, sondern die zunehmende Verbreitung des Gedruckten war Bedingung und Motor der modernen Verfassung des menschlichen Denkens – der Rationalität. Im 18. und 19. Jahrhundert brachte der Buchdruck eine Definition von Intelligenz hervor, die dem objektiven, rationalen Gebrauch des Verstandes Vorrang gab und gleichzeitig Formen eines öffentlichen Diskurses mit ernsthaft, logisch geordnetem Inhalt förderte. Die Telegraphie ermöglicht die Raum unabhängige Übertragung von Inhalten und verbündet sich mit der Presse. Das Ergebnis dieses Bündnisses ist die Suche nach content. Thoreau beschreibt die Situation in seinem Buch „Walden“. Zitat:“ „Wir beeilen uns sehr einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen.“
In Verbindung mit dem Photo schafft es die Presse, mit nutzlosen Informationen in den individuellen Erfahrungsbereich einzudringen, und kreiert eine neue Form der Realität, den Pseudokontext. Während Menschen früher nach Informationen suchten, um den realen Kontext ihres Daseins zu erhellen, mussten sie jetzt Kontexte erfinden, in denen sich sonst nutzlose Informationen scheinbar nutzbringend gebrauchen lassen. So ist das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Kreuzworträtsel bis heute deutlichster Ausdruck pseudokontextuellen, irrelevanten Wissens.
Das Fernsehen
Mit der Übernahme der Herrschaft durch das Fernsehen wird Werbung in den westlichen Industriestaaten zur Nomenklatur der Ökonomie. Die Realität des Subjekts wird auf die Couch verengt und das Denken eindimensional. Die Frucht der Erkenntnis ist nicht mehr der Apfel sondern der Erdapfel. Ohne sich vom Fleck zu rühren, streift der Couchbewohner durch afrikanische Savannen, ist Gast von Krönungen und Hochzeiten, wird Kriegsbeobachter und Leistungssportler. Die fiktiven Geschichten stören seine Ruhe nicht, den am Ende steht mit ziemlicher Gewissheit ein Happy End.
Nach wie vor aber verteidigte das Buch seine unabhängige Position des geordneten „Selberdenkens“ und sein Selbsterfahrungspotential. Nicht zuletzt deshalb, weil eine intellektuelle Oberschicht die philosophischen Traditionen von „begreifen“ und „Begriff“ entwickelte und verteidigte.
Das Internet
Genügend Studien dokumentieren, dass das Sinnverständnis bei E-Texten deutlich nachlässt. Nicolas Carr glaubt, dass das Schreiben zu einer Methode verkommt, bloßes Geschwätz festzuhalten. Autoren wie Leser würden süchtig nach Irrelevanz.
Der Sinn der digitalen Textproduktion ist das Medium selbst, finanziert durch Werbung. Diese Selbstbezüglichkeit übertüncht den wichtigen Zusammenhang von Wissen und Erkennen und ersetzt ihn durch die Gleichung Information = Wissen. Dazu kommt die Nutzung des Internets als externem Speicher zur Entlastung unseres Gedächtnisses, was fatal den Zusammenhang von Erinnern-Gedächtnis und Persönlichkeit außer Kraft setzt.
Steins Ideen zum sozialen Lesen torpedieren unsere Fähigkeiten zu ungestörtem, konzentriertem Lesen und damit die Grundlagen des Denkens selbst.
Nicht mehr die Gesetze logisch-sprachlicher Ordnung, sondern die Spielregeln der digitalen Welt dominieren und verwandeln den Menschen in eine künstliche Intelligenz.
Es ist unfassbar, wie sehr die Bedeutung des Buches als kongenialer Partner unseres Gehirns unterschätzt wird und wie leichtfertig wir es in seiner erfolgreichen Form aufgeben.
- Hartwig Schulte-Loh war Geschäftsführer beim Berliner Kulturkaufhaus Dussmann und zuletzt Berater der Edel AG im Musikgeschäft. Aktuell lässt er sich zum Coach ausbilden und berät Firmen mit seinem Unternehmen Buchnet.
@ Hartwig Schulte-Loh: Das erinnert mich an die Kulturpessimisten, die TV, Comics und eben jetzt das Internet für den Untergang des Abendlandes halten. Bis jetzt ist es trotz permanenter Medien-Revolutionen nicht untergegangen. Und Wissenschaftler sagen: Das menschliche Gehirn liebt Herausforderungen und wächst mit Herausforderungen. Btw: Computer-Games werden jetzt gerade als Alzheimer-Prophylaxe & zur Alphabetisierung erprobt. Und das wir als Schriftkultur-Aufgewachsene diese Schriftkultur an Buchstaben-Reihen entlang für immer und ewig benötigen – das ist doch engstirniger Quatsch. Buchstaben waren bis jetzt ein optimaler Weg zur Informations-Vermittlung. Ok. Bis jetzt. Unsere Kinder und Enkelkinder sehen das sicher anders.
Zu Helmut von Berg: Ich habe den Begriff durchaus kritisch benutzt und im Wesentlichen die Frankfurter Schule und die französische Sprachphilosophie gemeint. Das ist allerdings überholt. Putzig, dass Sie das nicht gemerkt haben.
Lieber Herr von Berg,
ganz so undifferenziert kann man die Argumente von Herrn Schulte-Loh nicht vom Tisch wischen. Bei aller Aufgeschlossenheit dem Neuen gegenüber muss es auch legitim sein, das Althergebrachte zu verteidigen. Leider wird man dann schnell als Ewig-Gestriger abgestempelt, und das ist ja auch der Tenor Ihrer Erwiderung.
Ich stimme Herrn Schulte-Loh zu: Im Augenblick hat man den Eindruck, dass ein traditionelles Medium das Buch, egal ob e(lectronic) oder p(rint) krampfhaft versucht, etwas anderes zu sein. An die Stelle stiller, reflektiver Auseinandersetzung mit einem Text tritt multimediales Gezappel, Häppchen-Wirtschaft und ein ständiger Austausch in social communities, der kaum noch Zeit und Platz für`s eigene Denken lässt. Früher war Lesen still und bewegungslos (silent and static) sagt einer Ihrer Referenten auf dem Publishers` Forum fast vorwurfsvoll, um uns neue Techniken zu präsentieren, bei denen am Bildrand eine animierte Figur tanzt, sobald wir auf dem Bildschirm das Wort Tanz lesen. Still und Bewegungslos ja, ist das denn schlimm? Ist das Stille, das In-Sich-Gekehrte, das Kino im Kopf denn nicht gerade die Stärke des Mediums?
Und wird nicht auch der Web 3.0 (oder ist es schon 4.0) Gedanke überstrapaziert? Über die Notwendigkeit des geistigen und kulturellen Austausches brauchen wir gar nicht zu diskutieren das ist schon seit Jahrhunderten so. Und natürlich bringt das Kollektiv auch Interessantes und Bemerkenswertes hervor (Wikipedia). Aber ist in der schönen neuen Welt noch Platz für die geniale Einzelleistung? Brauchten Michelangelo, Beethoven, Picasso die Kakophonie im Web 3.0, um Dauerhaftes hervor zu bringen? Auch der Schwarm Heringe ist nicht intelligenter als der intelligenteste Einzelhering!
Haben Sie am letzten Dienstag auf Ihrer Veranstaltung die Ironie bemerkt? Nachdem zwei Tage lang das Schreiben, das Lesen und das Medium Buch (als in sich abgeschlossene Text- und Sinneinheit, unabhängig von der Darreichungsform Print oder E) in Frage gestellt bzw. auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurde, kommt ganz am Ende der Veranstaltung eine bezaubernde englische Referentin. Und erzählt uns, wie gut, schön und wichtig es für ihre Schützlinge aus unterprivilegierten Familien (in denen an multimedialem Gezappel sicherlich kein Mangel herrscht) ist, zu lesen, wie sehr sie es genießen, wenn Ihnen jemand etwas vorliest, und welchen Stolz sie empfinden, eigene Texte (Bücher) verfassen zu dürfen. Stolz wie Oskar stehen sie mit Ihren selbst geschriebenen, ringösen-gehefteten Werken vor der Kamera. Und wenn das letzte Online-Spiel abgeschaltet wurde, wird das ein oder andere von diesen Kindern in vielen, vielen Jahren diese Heftchen, diese Produkte individueller Kreativität, immer noch stolz aus der Schublade holen können.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Vorteile einer internetgetriebenen Welt sind bemerkenswert, und die Nachteile müssen wir in Kauf nehmen oder sie eindämmen. Aber der Versuch, dem Buch dauernd die Worte in den Mund zu legen Ach wär` ich doch etwas Anderes wirklich oftmals etwas zwanghaft. Sich wieder etwas mehr auf die Stärken des Mediums zu besinnen, ohne neue Chancen außer Acht zu lassen das ist die Herausforderung.
Und ich dachte, es sei längst überholt, dass Leute sich (selbst) auf die Schulter klopfen, um sich als »intellektuelle Oberschicht« zu feiern.
Man könnte es glatt für putzig halten, wenn es nicht so erkennbar ernstestens gemeint wäre.