Welche Zukunft Publishing hat, ist Gegenstand einer sich anhaltend intensivierenden Debatte. Allein der Begriff „Publishing“ lädt schon zu einer Definitions-Diskussion ein. Während traditionelle Begrifflichkeiten und Funktionen ein klar abgegrenztes Rollenverständnis ergeben, zeigt sich unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen ein vollkommen neues Rollenverständnis.
Lassen Sie mich deshalb mit einer Darstellung dessen beginnen, was ich im Zusammenhang dieses Artikels unter Publishing verstehe [basierend auf einer vorbereitenden Diskussion zum Beitrag von Jana Steinmetz zum Publishers‘ Forum 2011]:
Das herkömmliche, „traditionelle“ Verlegen wird heute in der Regel unter dem Gesichtspunkt der Gatekeeper-Funktion beschrieben und ist ein Top-down-Konzept. Vergleicht man das mit der aktuellen Entwicklung im digitalen Publizieren, hat man die Wahl Modebegriffen zu folgen oder sich einzugestehen, dass es für viele Funktionen und Vorgänge noch keine tauglichen Begriffe gibt, die unmissverständlich auf der einen und zukunftsfähig auf der anderen Seite sind. Deshalb geht es vor allem darum, die Funktionen, die sich bislang so schon in Organisationsdiagrammen abbilden lassen, als Rollen zu begreifen, um die – neuen – Beziehungen dieser Rollen verstehen und in denkbare Abläufe einordnen zu können.
Beginnen wir damit, dass die neuen Verhältnisse als eine „vernetzte Contentbereitstellung“ beschrieben werden können, die alle Tatbestände einer Bottom-up-Entwicklung enthält: Im Unterschied zum gewohnten Bereitstellen und letztlich auf Marktmacht basierenden Vertreiben von Produkten ist nun der Maßstab für einen Markterfolg die Bereitstellung befriedigender Nutzung des zur Verfügung gestellten Content. Mehr noch: Bekannte und sogar noch unbekannte Nutzungsanforderungen beeinflussen die Aufbereitung des Content von Beginn an. Und da diese Nutzung in digitalen Zeiten nicht mehr nur ausschließlich als eine im „stillen Kämmerlein“ gedacht werden kann, sondern als vernetzter Austausch von und unter Nutzern entwickelt sich die Basis dieser Art von Publishing in die Breite, ganz im Gegensatz zum traditionellen Verlegen.
Das Ergebnis traditionellen Verlegens ist mithin eine von Gatekeepern definierte Kultur, das der vernetzten Contentbereitstellung eine kulturelle Vernetzung. Und während traditionelle Funktionen ein klar abgegrenztes Rollenverständnis ergeben, stellt sich das im neuen Rahmen nicht so einfach her:
Der Weg vom Verleger zum Endkunden lässt sich leicht als Betätigungsfeld eines Verlages identifizieren. Der Zusammenhang von Nutzung(serwartungen) und der Erzeugung und Aufbereitung von Content ist demgegenüber nicht so leicht bestimmbar, schon die Begriffe stellen sich quer, die notwendigen Rollen zu beschreiben. Herkömmliche Funktionen lassen sich nicht einfach auf die neuen Rollen abbilden.
Während die Erzeugung von Content noch als auf Autoren bezogen gedacht werden kann, muss gleichzeitig berücksichtigt werden, dass Content aus Datenbanken on „demand“ abgefragt, zusammengestellt und so erzeugt werden kann. Dabei bleibt die spezifische Eigenart solcher Contenteinheiten grundsätzlich offen. Ob Text, Bild oder Bewegtbild, mit oder ohne Ton, ist für den Vorgang grundsätzlich unerheblich. Voraussetzung sine qua non ist allerdings, dass diese Contenteinheiten, ob wir sie nun „items“, „entities“ oder „chunks“ nennen, aufbereitet sein müssen, damit sie überhaupt gefunden und in Übereinstimmung mit den Erwartungen genutzt werden können.
Diese Aufbereitung des Content beinhaltet die Identifikation seiner semantisch bedeutsamen Inhalte und ihre das Finden und die sichere, schnelle Identifikation unterstützende Strukturierung. Sie beinhaltet aber auch die Unterstützung der Herstellung von Kontextbezügen, sei es per RDF, DBpedia-Strukturen oder schlicht durch gezielte Verlinkung. Und schließlich stellt sich die Frage nach „enrichment“ oder „enhancement“. Damit kein unnötiges Investment betrieben wird, braucht es einen zuverlässigen Input von Marktinformationen. Damit kommen Aggregatoren und Syndikatoren ins Spiel, Rollen, die sich durch besondere Fähigkeiten hinsichtlich der Nutzungsoptimierung und der kenntnisreichen Nähe zu Nutzungsumgebungen auszeichnen. Und schließlich sind die Kanäle zu unterstützen, die die gewünschten Nutzungen unterstützen.
[Es ist kein Zufall, dass der Begriff „Verlag“ hier nicht vorkommt. Nicht, dass klassische Verleger kein Betätigungsfeld mehr hätten, nicht, dass Lektoren nicht mehr gebraucht oder Hersteller einfach durch Software ersetzt würden. Aber wer sich an welcher Stelle in welcher konkreten Rolle wiederfindet, ist zunächst offen. Und ob es eine einheitliche Organisationsform oder neue organisatorische Einheiten in projektorientierter Kooperation geben wird, ist auf absehbare Zeit offen. Wobei die Entwicklung der Zahl der Freien in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat und der Grund dafür oft genug in deren spezifischen Fähigkeiten verbunden mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung lag und liegt, was den zu erwartenden Übergang in neue organisatorische Formen keineswegs als Schreckgespenst erscheinen lässt.]
Gehen wir in der Betrachtung der zu erwartenden, neuen Situation einen Schritt weiter, stellen wir fest, dass wir es hinsichtlich des Content mit zwei unterschiedlichen Bereichen zu tun haben: einmal mit der Erzeugung und Aufbereitung und einmal mit der Verbreitung und Nutzung. Ersteres lässt sich zusammenfassend vielleicht am besten als „Content Cluster“, letzteres als „Markt“ beschreiben. Das eine wird für das andere bereitgestellt. Marktmacht wird nicht über Vertriebskraft erzeugt, sondern über – qualitativ bestimmte – Nutzbarkeit in grundsätzlich nicht vorbestimmten Nutzungsumgebungen.
Content Cluster
werden durch auf Nutzungen ausgerichtete Projekte gebildet und in kooperativen Prozessen erzeugt, die ebenso unaufwendig wie zielgerichtet sein müssen.
Markt
wird durch Bedürfnisse definiert, die sich in konkreten Erwartungen hinsichtlich der Nutzung niederschlagen, Markterfolg wird sich mithin über die Befriedigung der Bedürfnisse und Erfüllung der Erwartungen herstellen.
Zwischen beiden Welten erfolgsträchtige Verbindungen herzustellen erfordert, Funktionen zu organisieren, denen als Rollen bislang eine allgemein akzeptierte, tragfähige Bezeichnung fehlt, weshalb hier nur zwei kreativen Fähigkeiten beispielhaft aufgeführt werden sollen: eine Vorstellung neuer Produktformen gewinnen zu können und Bedürfnisse für Nutzungen zu erspüren, um ihnen eine organisierte Verwirklichung zu eröffnen. Funktionen der vernetzten Contentbereitstellung lassen sich so in der Konstellation der beiden Welten ansiedeln.
Dass dabei das traditionelle Publizieren in den Hintergrund rückt, liegt in der Natur der Sache. Es kommt ja nicht einfach abhanden, sondern wird entweder mit noch stärkerer Vertriebsorientierung nach amerikanischem Vorbild – hoch risikobelastet – bestsellerorientiert oder findet in qualitativen Nischen statt.
Denn so viel bewirkt die Digitalisierung bereits heute: Qualität erlebt eine Renaissance – in unterschiedlichen physikalischen oder digitalen Formen, aber in dem Bewusstsein, dass Nutzer auch heute bereit sind, Qualität zu honorieren, sprich: zu bezahlen.
Der grundsätzliche Wechsel wird darin bestehen, dass sich das „traditionelle Verlegen“ in der „vernetzten Contentbereitstellung“ wiederfinden wird, und zwar als integraler Bestandteil eines in neuen Formen sich entwickelnden Marktes.
Helmut von Berg ist seit Oktober 2004 Direktor des Verlagssoftware-Anbieters Klopotek und verantwortlich für den Arbeitsbereich „Herstellung im Verlag“.
@ Frau Cornelsen:
„…Autoren und Verleger fürs digitale Publizieren müssen wohl erst noch gebacken werden. eventuell rekrutiert man sie vorsorgkich schon mal in den Matheleistungskursen der heutigen Abitur-Generation.“
Ich bin selbst ein Freund der gedruckten wie auch digitalen Medien. Die digitale Publizistenseite will derzeit Druck erzeugen, der mich glauben lässt, dass Lesen nur noch am unbeugsamen Bildschirm stattfinden sollen muss. Die gleiche Diskussion mit dem selben Einsatz wünschte ich mir bei der Auswahl der publizierten Texte und deren Aufarbeitung in einem guten Lektorat.
Rechenkünstler mögen ja eine Excel-Tabelle füllen können, dass selbige aber deshalb in die schreibende Zunft passen, ist doch fragwürdig – zudem Excel ein lustiges Zeitvertreibsprogramm für Beamte und Angestellte ist, die sich dann damit brüsten, dass Sie eine Formel berechnen könnten. Meine Erfahrung ist auch auf dem Gebiet eine schreckliche.
Ein wenig langsamer, dafür aber trittsicherer wünsche ich mir die digitale Entwicklung für Verleger und Autoren, Verlegerinnen und Autorinnen, Verlegene und Autoritäre und verlegte Autos.
Zum Aspekt, inwiefern sich durch die Technik die Anforderungen an die „Content-Produzenten“, also Verleger und Autoren, verändern, sei folgende Erfahrung geteilt: Als ich letztes Jahr auf dem Sommerfest eine Verlegers in einer lebhaften Diskussion uber das Für und Wider von eBooks freudig anmerkte, man könne (und müsse) seine texte wohl besser in Excel statt in Word schreiben, und darin wunderbare kreative Möglichkeiten entdeckte, erntete ich nur entsetzte Blicke. Man habe schließlich nicht Mathe, sondern Literaturwissenschaften studiert, und ob wir die Welt den wirklich den IT-Nerds überlassen wollten… – die Autoren und Verleger fürs digitale Publizieren müssen wohl erst noch gebacken werden. eventuell rekrutiert man sie vorsorgkich schon mal in den Matheleistungskursen der heutigen Abitur-Generation.
Danke für diesen klugen und wegweisenden Artikel! Dass Qualität eine Renaissance erleben werde, hoffe ich auch, aber dazu müsste die Branche tatsächlich erst mal eine (inhaltliche) Qualitätsdiskussion führen. Bislang sträuben sich doch sämtliche Experten zu entscheiden, was ein gutes Buch/guter Text sei. Am Ende verweist die progresive Fraktion auf die (ökonomischen sowieso, aber auch auf die) kreativen Qualitäten von Trash und feiert sich selbst in seiner kulturellen Subversivität. Die Qualitätsfrage wird dadurch natürlich in Wahrheit nicht beantwortet. Oder aber man besinnt sich in konservativen Expertenkreisen auf die Qualitätsbegriffe des 19. Jahrhunderts, singt das Hohelied des Bildungsbürgertums und pustet den Staub von Goethes gesammelten Werken. Leider versäumt diese Expertengruppe den Transfer auf die Moderne und delegiert die Entscheidung, was heutzutage Lesenswertes geschrieben werde, an die nächste Generation. Insofern mag Qualität eine Renaissance erleben, die Frage bleibt nur welche.
Der Ärzte-Verlag ist nicht der einzige, der etwas vorzuweisen hat. Insbesondere im Corporate Publishing gibt es noch ganz andere Welten zu ‚bestaunen‘. Bis diese Welten unterschiedlicher Geschäftsmodelle als EINE Publishing-Welt verstanden werden, wird es noch etwas dauern.
Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass Ihre Anmerkung (medienneutral und granular) nur die technische Seite anspricht und man Konzepte für die Content-Aufbereitung braucht, woran es leider noch viel häufiger mangelt.
Auch ‚granular‘ ist kein Wert an sich, sondern ein Abbild der Nutzerbeziehung des Anbieters. Und die Vernetzung von Content in sinnvollen Nutzungskontexten ist dabei eine der zentralen Aufgaben.
Wenn Die Buchverlage, sich etwas mehr die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage zum Vorbild genommen hätten, würden diese besser für die digitale Zukunft gerüstet sein. Redaktionssysteme sind hier doch oft unbekannt.
Der Deutscher Ärzte-Verlag als Gegenbeispiel, produziert über 34 verschiedene Titel und Redaktionen aus einer XML-basierten Datenquelle (tango media). Zeitschriften, Zeitungen und Bücher alles aus granularer Datenhaltung.
Man müsste halt mal die Kollegen fragen (^_^)