In der über 30-jährigen Tradition, im Rahmen der Frankfurter Buchmesse ein Land als Ehrengast einzuladen, dürfte die Türkei dieses Jahr eine Sonderstellung einnehmen. Dass kaum eine Nation den Deutschen so nah und gleichzeitig so fern steht wie die türkische, stellte auch Messechef Juergen Boos fest, als er gemeinsam mit dem damaligen türkischen Minister für Kultur und Tourismus Attila Koç am 26. September 2006 die entsprechenden Verträge unterzeichnete: Mindestens 2,5 Mio Menschen mit türkischstämmiger Herkunft leben in Deutschland, über die Jahre habe sich sogar eine eigenständige deutsch-türkische Literatur entwickelt, trotzdem sei das Wissen um die moderne türkische Literatur nur punktuell vorhanden.
Unter dem Motto „Türkei – faszinierend farbig“ soll auf der Frankfurter Buchmesse nun die deutsch-türkische Verständigung via Literatur vorangetrieben werden:
- 100 Verlage und 350 Autoren werden sich auf einer Fläche von 4060 qm präsentieren.
- Das Rahmenprogramm umfasst insgesamt rund 265 Veranstaltungen, darunter 150 Podiumsdiskussionen, wissenschaftliche Konferenzen und Lesungen.
- Im Vorfeld und Anschluss der Buchmesse finden in deutschen Großstädten bis Ende 2008 umfangreiche Aktivitäten statt, die von Tanz- und Theateraufführungen bis hin zu Workshops reichen. Eines der aufwändigsten Projekte lautet „Yakin Bakis¸ – Einblicke“, das seit März je acht türkische und deutsche Autoren für vier Wochen ins jeweils andere Land schickt und u.a. via Weblog über ihre Eindrücke berichten lässt. Initiiert wurde es vom Goethe-Institut sowie dem Netzwerk deutscher Literaturhäuser und auf türkischer Seite vom Organisationskomitee des Gastlandauftritts und dem Verein Anadolu Kültür.
Buchbranche im Aufwind
Die türkische Buchbranche, wie sie sich heute präsentiert, geht auf verschiedene Reformprozesse zurück:
- In den 80er-Jahren wurde unter dem damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal die Marktwirtschaft forciert. Der Anteil des Staates – vorher mit 75% an der Verlagsbranche beteiligt – schrumpfte, der private Sektor legte zu.
- Im Jahr 2003 leitete das Ministerium für Kultur und Tourismus schließlich umfassende Maßnahmen ein, die Veröffentlichungen qualitativ zu verbessern und die Bildung von Branchenverbänden zu unterstützen. Die Anzahl der Novitäten stieg in den letzten fünf Jahren um 50%, der Einkauf ausländischer Lizenzen pegelte sich bei jährlich 40% ein.
Als Gallionsfigur der türkischen Literatur gilt der 2006 als erster Türke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Orhan Pamuk, der sich gleichwohl im eigenen Land wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht verantworten musste, weil er sich kritisch zur Unterdrückung kurdischer und armenischer Minderheiten geäußert hatte. Der umstrittene Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches, mit dem seit Inkrafttreten 2005 rund 60 Schriftsteller, Journalisten und Menschenrechtler verfolgt wurden, wurde Anfang 2008 etwas abgemildert. Momentan verbüße deshalb kein Autor eine Haftstrafe, signalisiert der türkische Kulturminister Ertugrul Günay, dass die internationale Kritik an der massiven Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht ohne Wirkung geblieben ist.
Islamisierung und Integration
Unter den bislang 220 gemeldeten Veröffentlichungen deutscher Verlage zum Thema Türkei finden sich dementsprechend viele Titel, die das zwischen Tradition und Moderne schwankende EU-Bewerberland kritisch beleuchten. Beispiele:
- Die türkische Journalistin Ayse Önal klagt in ihrem Buch „Warum tötet ihr?“ (Droemer) das System der Ehrenmorde an, dem jedes Jahr weltweit mutmaßlich Tausende Frauen zum Opfer fallen.
- Murathan Mungan greift in seinem Roman „Tschador“ (Blumenbar) ebenfalls das Thema Reislamisierung auf.
- Unter dem Titel „Die Türkei – Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus“ (Klett-Cotta) bringt der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer die Debatten um das EU-Bewerberland auf den Punkt.
Auch die seit den 90er-Jahren in den großen Verlagen angekommenen deutsch-türkischen Autoren melden sich pünktlich zur Buchmesse zahlreich zu Wort:
- Cem Özdemir, seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, will mit seinem Buch „Die Türkei. Politik, Religion, Kultur“ (Beltz & Gelberg) dezidiert türkische Jugendliche der dritten Generation erreichen, die kaum noch einen Bezug zur ihrem Herkunftsland haben.
- Die mit der Migration verbundene seelische Not beschreibt Betül Licht in ihrem Roman „In meiner Not rief ich die Eule“ (Hoffmann und Campe).
- Einen satirischen Blick auf deutsche Feste und Feiertage liefert Osman Engin mit „Lieber Onkel Ömer“ (dtv).
- Humorvoll geht es auch in Lale Akgüns „Tante Semra im Leberkäseland“ (Krüger) zu.
- Die Probleme vieler Türken in Deutschland – Ghettoisierung, Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität – untersucht Ismail Boro in „Die getürkte Republik. Woran die Integration in Deutschland scheitert“ (Heyne).
Übersetzungsförderung vice versa
Auf der Frankfurter Buchmesse werden sich zudem einige Projekte präsentieren, die bereits seit einigen Jahren den literarischen Austausch zwischen den Nationen fördern:
- Seit 2005 trägt das TEDA-Übersetzungsförderungsprojekt mithilfe eines internationalen Netzes von Literaturagenturen dazu bei, die türkische Literatur im Ausland bekannter zu machen. Gefördert wurde bislang die Übersetzung von 317 Werken in 34 Sprachen. Davon machen Übertragungen ins Deutsche mit 95 Titeln fast ein Drittel aus.
- Im Züricher Unionsverlag erscheint seit Herbst 2005 die von der Robert-Bosch-Stiftung initiierte „Türkische Bibliothek“ in 20 Bänden, die Meilensteine der türkischen Literatur von 1900 bis in die Gegenwart präsentiert.
- Anlässlich des Buchmesse-Schwerpunkts stellen die Bosch-Stiftung und die Stiftung Lesen Bibliotheken und kulturellen Einrichtungen eine Wanderausstellung zur Reihe zur Verfügung. Außerdem wird seit März Unterrichtsmaterial für Schüler ab der 8. Klasse an alle weiterführenden Schulen und Berufsschulen versandt.
- Die S. Fischer Stiftung hat im Herbst 2006 unter dem Titel „Adimar/Schritte“ mit der Vorbereitung eines mehrjährigen Projektes zur Übersetzung und Verbreitung zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur in der Türkei begonnen. Herausgeber der Reihe sind die türkische Autorin und Übersetzerin Sezer Duru und der Schweizer Journalist Carl Holenstein, im Laufe der nächsten fünf Jahre sollen im Rahmen des Projekts ca. 50 Titel erscheinen. Die ersten fünf – darunter Edgar Hilsenraths „Der Nazi und der Friseur“ sowie Pascal Merciers „Nachtzug nach Lissabon“ – wurden bereits auf der letzten Istanbuler Buchmesse vorgestellt.
Spezialverlage im Schatten?
Ob die große Aufmerksamkeit fürs Gastland Türkei auch auf Nischenverlage ausstrahlen wird? Mario Pschera, der die Geschäfte des seit den 80er-Jahren auf die Literatur der Türkvölker spezialisierten DagŠyeli Verlags (Berlin) leitet, ist skeptisch: „Mit den Werbe-Etats der großen Verlage können wir nicht mithalten.“ Aber auch der Frankfurter
Kleinverlag Literaturca und der Erlangener Sardes Verlag, die sich auf Übersetzungen aus dem Türkischen spezialisiert haben, warten zur Buchmesse mit einigen Novitäten auf.
Nicole Stöcker
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