Am 5. Juni vor 60 Jahren wurde Ken Follett geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an den in nur drei Monaten geschriebenen Spionagethriller „Die Nadel“. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.
Eye of the Needle
Hauptgattung: Epik/Prosa Untergattung: Roman
(engl.; Die Nadel, 1979, B. Rullkötter, W. Bodemer) – Der in nur drei Monaten geschriebene Spionagethriller machte seinen Autor 1978 gleich nach seinem Erscheinen auf einen Schlag reich und berühmt: Nach zehn Romanen, die er neben seiner Arbeit im Verlag Everest und zum großen Teil unter Pseudonymen veröffentlicht hatte, bedeutete dieses Werk seinen Durchbruch.
Aus mehreren Perspektiven wird eine spannende, verzweigte Handlung erzählt, die zwischen 1940 und 1944 in England spielt. Es geht um die Invasion der alliierten Streitkräfte in der Normandie, von der in einer groß angelegten Täuschungsaktion abgelenkt werden soll. Der Ausgangspunkt ist, dass es einem deutschen Spion gelingt, das Täuschungsmanöver zu durchschauen.
Das Buch beginnt damit, dass Henry Faber, »Die Nadel«, in seinem Pensionszimmer von der Hausbesitzerin, Mrs. Garden, überrascht wird, als er nach Deutschland funken will. Er ersticht sie mit einem Stilett, stellt den Mord als Tat eines Vergewaltigers dar und taucht unter. 1944 bekommt er von einem anderen Spion den Auftrag, einen Stützpunkt auszukundschaften, auf dem die Zusammenziehung von Truppen und Flugzeugen beobachtet wurde. Faber ersticht den anderen Spion, da er erkannt hat, dass dieser beschattet worden ist, und macht sich als Vogelbeobachter mit einem Boot auf den Weg. Er dringt in das Sperrgebiet ein und fotographiert das Kriegsgerät, das nur aus Holz und aus aufblasbaren Modellen besteht. Als er zurückkommt, muss er vier Männer von der Bürgerwehr töten, die ihn überprüfen wollen.
Währenddessen haben zwei britische Geheimdienstler, der Historiker Percival Godliman und der Scotland Yard-Inspektor Frederick Bloggs, den Zusammenhang zwischen den beiden Stilettmorden hergestellt. Ein Zeuge erkennt auf alten Fotos aus Deutschland Heinrich Rudolf Hans von Müller-Güder als Faber. Dieser flieht auf Umwegen nach Aberdeen, wo er von einem deutschen U-Boot erwartet wird. Er stiehlt ein Boot, gerät in einen schweren Sturm und wird auf die einsame Insel »Storm Island« gespült.
Auf dieser Insel leben Lucy und ihr beinamputierter Mann David, ihr Kind Jo und ein alter Schafhirte namens Tom. Direkt nach der Hochzeit hatten sie einen schweren Unfall, nach dem David verbitterte. Die sexuell und emotional frustrierte Lucy verliebt sich in Faber und geht eine sexuelle Beziehung zu ihm ein. David merkt das und findet in Fabers Jacke die Fotos des Kriegsgeräts. Bei einem Kampf wird er die Klippen hinuntergestürzt. Am nächsten Tag findet Lucy seine Leiche. Sie flieht mit ihrem Sohn zu Tom, aber auch er ist tot. Faber verfolgt sie. Es kommt zu einem Kampf, in dessen Verlauf sich Lucy verbarrikadiert, den Hund auf Faber hetzt und ihm mit der Axt zwei Finger abhackt. Mit einem Trick kann er sie dennoch überwältigen.
Da er sie sympathisch findet, lässt er sie leben und versucht, Toms Funkgerät zu benutzen. Lucy unterbricht die Stromverbindung, indem sie die Kontakte einer Glühbirnen-Fassung mit den Fingern überbrückt. Faber läuft zur Küste und klettert hinunter, als er das U-Boot sieht. Mit letzter Kraft bewirft Lucy ihn mit Felsbrocken, so dass er abstürzt. Nun kommen auch Küstenwache, RAF und MI5 auf die Insel. Da die Deutschen den Tod ihres Spions nicht bemerkt haben, können sie durch einen gefälschten Funkspruch getäuscht werden.
In der Tradition der britischen Spionageromane von John Buchan, Ian Fleming und John le Carré geschrieben, besticht Eye of the Needle nicht nur durch seine akkuraten historischen Fakten, mit denen Follett das Genre des ›documentary thriller‹ begründete, sondern auch durch die Identifikation mit dem Spion und durch die weibliche Protagonistin. Die spannende Geschichte wird aus mehreren Perspektiven – Fabers, Lucys und der beiden Geheimdienstler – erzählt. Mit hohem Tempo und starken Wechseln zwischen ruhigen, reflexiven und actiongeladenen Passagen hat der Thriller einen ausgewogenen Rhythmus. Frieden und Liebe werden mit einer immer packender werdenden Hetzjagd kontrastiert, private Details mit politischen Beratungen, Witz mit Spannung. Follett verstand es, seine Personen in psychologisch feinen Einzelporträts zu zeichnen.
Sogar Faber wird dem Leser durch Innenansichten vertraut und fast zu einer sympathischen Figur in seiner Einsamkeit, seinem Mut und seinem Eigensinn gegenüber Autoritäten.
Weitere Themen des Romans sind der Kampf zwischen Profis (Faber, Generäle) und Amateuren (Godliman, Bloggs und Lucy), der individuelle Mut im Krieg (Faber und Lucy), die Einsamkeit der Menschen (Faber, Godliman, Bloggs und sogar Lucy sind im Grunde allein) und die Illusion aller Erscheinungen: Man weiß nie, wem man trauen kann, wessen Persönlichkeit im Dunkeln liegt, im Guten wie im Bösen. So wird Lucy zur Heldin, die England rettet, und Faber entpuppt sich als einfühlsamer Liebhaber, der nur für sein Land kämpft.
• Lit.: C. Ramet: K. F. and the Architecture of the Novel, in: Popular Culture Review 7, 1996, 1, 135–144. • C. Ramet: Reinvigorating the Thriller. K. F.’s ›Eye of the Needle‹ as Literature, in: Michigan Academician 30, 1998, 4, 387–397.
Georg Patzer
Ken Follett
geb. 5.6.1949 Cardiff/Wales (Großbritannien)
Ps. Martin Martinsen, Symon Myles, Bernard L. Ross, Zachary Stone
Ab 1967 Studium der Philosophie am University College London; 1970 Journalistenkurs; Reporter für South Wales Echo; ab 1973 Kolumnist bei der Evening News (London); ab 1974 Angestellter im Verlag Everest Books; ab 1978 freier Schriftsteller, zunächst in Südfrankreich, 1981 Rückkehr nach England; Wahlkampfhelfer für die Labour Party; lebt in Chelsea (London) und Stevenage (Hertfortshire); verfasst Thriller, Spionage- und historische Romane.
• Lit.: R. C. Turner: K. F. A Critical Companion, 1996. • C. Ramet: K. F. The Transformation of a Writer. 1999.
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