Mitarbeiter erbringen partnerschaftlich die Leistungen, für die sie entlohnt werden. Darüber sind sich fast alle einig. Für die Gegenleistung sollte dieselbe Partnerschaft gelten. Visionäre und Unternehmer denken diesen Gedanken unter dem Etikett „New Pay“ weiter.
Sven Franke, Stefanie Hornung und Nadine Nobile, ein Team von Organisationsberatern und Fachpublizisten, fassen den Stand der Diskussion zusammen. Im ersten Teil einer Serie im HR-Channel von buchreport.de haben sie in sieben Schritten den Weg zu New Pay vorgestellt. Im zweiten Teil zeigen sie, wie New Pay in der Praxis funktionieren kann: eine Fallstudie über Seibert Media, wo die Mitarbeiter selbst über das Gehalt entscheiden.
Eigentlich hatten wir eine innovative Techie-Bude in einem Hinterhof oder Industrieloft vermutet, als wir zu Seibert Media aufbrachen. Aber weit gefehlt: Die Softwareentwickler werkeln keineswegs weit ab vom Schuss. Wer Seibert Media in Wiesbaden besucht, trifft auf pralles Leben. Ihr Büro liegt mitten im Zentrum der hessischen Landeshauptstadt in den oberen Etagen einer Shopping Mall. Diese quirlige Lebendigkeit spürt man auch, wenn man die Büroräume betritt. Die Mitarbeitenden, die uns auf den Fluren und den Großraumbüros begegnen, nicken uns freundlich zu oder sprechen uns direkt an. Eine Kollegin bietet Espresso an und führt uns durch die Räumlichkeiten. Hier fühlt man sich sofort willkommen.
Offenheit und Fröhlichkeit drückt auch die Arbeitsumgebung aus. Jeder Raum ist anders gestaltet und bietet unterschiedliche Arbeitsmöglichkeiten, sei es am großen Tisch, in unterschiedlichen Meetingräumen oder in Besprechungsinseln. Und ja, es gibt auch einen Tischkicker. Aber spannender ist, dass einer der lichtdurchfluteten Räume über ein Bällebad verfügt. Alles nur Klischees der New-Work-Szene?
Seibert Media ist ein Internetdienstleister, der neben Wiesbaden einen Standort in San Diego hat. Die 150 Mitarbeiter agieren in eigenverantwortlichen und interdisziplinären Teams. Mit Unterstützung der Organisationskonzepte Scrum und Kanban bilden sie alle Facetten der agilen Softwareentwicklung ab – von der Strategie über Beratung und Konzeption bis hin zu Design, Softwareentwicklung und Softwarebetrieb inklusive Security. Zu den Kunden gehören 70% der DAX-Unternehmen. 2018 machte das Unternehmen einen Umsatz von etwa 26 Mio Euro.
Irgendwie müssen wir eine Umgebung schaffen, in der wir offen über Gehalt reden können. (Joachim Seibert, Geschäftsführer von Seibert Media)
Der Start-up-Phase sind die IT-Experten längst entwachsen. Martin Seibert gründete das Unternehmen 1996 im jugendlichen Alter von 17 Jahren. Vier Monate später kam Bruder Joachim dazu. „Rückblickend betrachtet“, so Martin, „haben wir anfangs unser Unternehmen auf Basis eines patriarchalen Modells aufgebaut, das den typischen Regeln der Betriebswirtschaftslehre der 90er Jahre folgte.“ Für die Gehälter galt die alte Kaufmannsregel: Der Gewinn liegt im Einkauf. Folglich zahlten sie den Mitarbeitenden so wenig wie möglich.
Personalkonzepte für die Zukunft
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Die Gehaltsverhandlungen führte damals Martin. Und sein Ansporn in den Gesprächen war es, die individuelle Schmerzuntergrenze aus jedem Bewerber herauszukitzeln. „Wenn Du mir die Empfehlung gegeben hättest: ‚Drücke diese sieben Knöpfe und Du kannst dem Mitarbeiter noch 2.000 Euro weniger zahlen‘, dann hätte ich es gemacht“, sagt Martin Seibert heute. So war das Gehalt sehr stark vom Verhandlungsgeschick der Bewerber abhängig. „Im Nachhinein betrachtet“, zieht er Bilanz, „gab es Mitarbeiter, die sich in der Gehaltsverhandlung besser und andere, die sich weniger gut anstellten.“ Und das führte in der Konsequenz zu sehr unterschiedlichen Gehältern.
Heute sieht Martin seine Rolle ganz anders: „Ich kümmere mich bei Seibert Media darum, dass wir unsere Mitarbeiter irgendwann fürstlich entlohnen können und da gibt es noch Einiges zu tun.“ Dass das heute noch nicht möglich ist, ist ihm ein Dorn im Auge. Darin sieht er den einzigen Grund, warum Mitarbeitende aktuell mit dem Gedanken spielen könnten, Seibert Media zu verlassen. Denn das Unternehmen könne nicht Gehälter wie Google oder andere Großkonzerne bezahlen. Und so treibt ihn und seine Gesellschafter an, die Ertragssituation so zu steigern, dass ihnen dies in Zukunft gelingt.
Doch es scheint, als wäre es vielen Mitarbeitern nicht so wichtig gewesen, wie viel ihnen ihr Arbeitgeber bezahlte, stellt Martin rückblickend fest. Im Mittelpunkt stand die eigene Entwicklung – sowohl fachlich als auch menschlich – und die Teilhabe an der Wachstumsstrategie.
Die Wachstumsstory geht weiter
In der Aufbauzeit kristallisierte sich ein Kern von vier Mitarbeitern heraus, bei dem Martin und seinem Bruder Joachim Seibert schnell klar war, wie wichtig dieser für das weitere Wachstum ist – fachlich wie menschlich. Bei diesem kleinen Kreis gingen die Geschäftsführer einen Sonderweg. Sie beteiligten sie am Unternehmen, um sie langfristig zu binden. Die Rechnung ging auf: Alle vier sind heute noch an wichtigen Stellen im Betrieb.
Über die Jahre erlebte Seibert Media eine wahre Erfolgsstory. Der Umsatz stieg, die Anzahl der Mitarbeiter wuchs ebenfalls kontinuierlich. Das bedeutete auch eine Veränderung bei der Gehaltsfindung. Denn Martin hatte immer weniger Zeit für Mitarbeitergespräche und Gehaltsverhandlungen und gab diese Aufgabe zunehmend ab. Das führte unter anderem dazu, dass die Einstiegsgehälter großzügiger ausfielen. Der ursprüngliche Grundsatz von Martin – „die Marge liegt im Einkauf“ – trat in den Hintergrund.
Das war eine schwierige Zeit für mich. Ich musste erkennen, dass ich da echt Mist gebaut hatte, der uns jetzt auf die Füße fiel. (Martin Seibert, Geschäftsführer von Seibert Media)
Auch die Arbeitsmethoden veränderten sich über die Zeit. Ab 2006 experimentierte Seibert Media mit agilen Methoden, zuerst in einigen Teams in der Entwicklung. Ab 2009 war dann der interne Siegeszug von Scrum und Co nicht mehr aufzuhalten und reichte über die Entwicklung hinaus bis hin zu einer agilen Gesamtorganisation. Vertrauensbasierte Teamautonomie beschreibt seitdem vielleicht am besten, was das Unternehmen ausmacht. Zur besseren Verdeutlichung nutzt Seibert Media das Unternehmenskulturmodell nach William Schneider.
Gehaltstransparenz dank Peer Recruiting
Was sich in der Entwicklung von Seibert Media hin zu einer agilen Organisation ebenfalls veränderte, war das Thema Recruiting. Der klassische Recruitingprozess wurde schleichend ab 2014 abgelöst und durch Peer Recruiting ersetzt. „Bis zu 15 Teammitglieder führen bei uns das Bewerbungsgespräch mit dem Kandidaten. Zugegeben, das ist eine Herausforderung für jeden Bewerber. Wir nennen das Format deshalb auch scherzhaft ‚das Tribunal‘“, sagt Martin über diesen Recruitingprozess. Das Ziel, das Seibert Media damit verfolgt, ist klar: Die Teammitglieder erhalten alle einen persönlichen Eindruck von den potenziellen Kollegen und gleichzeitig hat der Kandidat die Möglichkeit, sein zukünftiges Team kennenzulernen. Durch diese Vorgehensweise entsteht ein Raum von gegenseitiger Bewerbung. Beide Seiten, Unternehmen und Kandidat, entscheiden sich aktiv füreinander.
Als die Gehälter noch nicht transparent waren, gaben die Teams nach den Gesprächen ein qualitatives Feedback zum Bewerber ab. Die Gehaltsverhandlung lag jedoch weiterhin bei der Geschäftsführung. Wie soll man jedoch eine abschließende Empfehlung für einen Kandidaten abgeben, wenn man nicht weiß, wo seine Gehaltsvorstellung im Vergleich zu ähnlichen Positionen im Unternehmen liegt?
Gleichzeitig fingen Teammitglieder an, sich darüber Gedanken zu machen, zu welchen Konditionen neue Kollegen eingestiegen waren. Hatte er oder sie einen Abschlag zu seiner Gehaltsforderung hinnehmen müssen oder verdiente der neue Kollege nun sogar mehr als man selbst? „Irgendwie mussten wir dafür sorgen, über Geld reden zu können“, beschreibt Joachim Seibert die gemeinsame Erkenntnis. Er übernimmt neben seinen formalen Rollen als Gesellschafter und Geschäftsführer vor allem Springerfunktionen. „Ich springe da rein, wo es mich gerade braucht – sei es als agiler Coach oder Multiprojektmanager.“
Beim Thema Gehalt hat er eine klare Auffassung: „Ich könnte auch damit leben, wenn alle gleich verdienen. Mir ist es auch relativ egal, was andere verdienen. Ich muss meine eigene Familie ernähren können und wenn am Ende des Monats ein Minus auf dem Konto ist, dann nervt mich das.“ Den Wunsch der Kollegen nach mehr Transparenz, gerade im Hinblick auf eine verantwortungsvolle Entscheidung bei der Rekrutierung, unterstützte er jedoch voll und ganz.
Und so brauchte es für gute Recruitingentscheidungen der Teammitglieder mehr Transparenz in puncto Gehalt bzw. Gehaltsverhandlungen: Zum einen, um Gehaltsfragen des Kandidaten beantworten zu können, und zum anderen, um die Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten bewusst treffen zu können.
So logisch diese Schlussfolgerung erscheint, die Umsetzung war eine enorme Herausforderung für die Organisation. Ein Blick auf das Gehaltsgefüge reichte, um zu wissen, dass sie den Ansprüchen an Fairness und Transparenz nicht genügen würden. Es herrschte eine große Schieflage in Sachen Gehalt. Zum einen, weil eine lange Zeit das Verhandlungsgeschick der Beschäftigten maßgeblich die Gehaltshöhe bestimmt hatte. Zum anderen, weil viele Gehälter oftmals nicht mehr der aktuellen Rolle oder Leistung der Mitarbeitenden entsprachen. „Da sahen wir plötzlich, dass wir absolute High-Performer hatten, die bei uns für ›nen Appel und Ei‹ arbeiteten. Und dann gab es andere, die bei weitem nicht über die gleichen Kompetenzen verfügten, aber in der Gehaltsverhandlung gut getrommelt hatten und 15.000 Euro mehr im Jahr verdienten«, beschreibt Martin die Problematik der Situation. »Das war eine schwierige Zeit für mich. Ich musste erkennen, dass ich da echt Mist gebaut hatte, der uns jetzt auf die Füße fiel. Für mich persönlich war es gar nicht so einfach zu realisieren, dass man das vielleicht auch anders hätte machen können.“
Doch was nun? Die Gesellschafter entschieden, Mitarbeitern, die im Vergleich zu ihren Kollegen besonders wenig erhielten, eine deutliche Gehaltserhöhung zu geben. Doch aufgrund der Dimension der Schieflage ließ sich das Problem nicht mit einer großen Gehaltsrunde lösen. Es war schlichtweg nicht finanzierbar. Aus diesem Grund nahm sich Seibert Media insgesamt drei Jahre Zeit, um den „schiefen Turm“ zu begradigen und passte die Gehälter schrittweise an. „Genau das ist der Punkt, der meines Erachtens viele Unternehmen davon abhält oder sogar abschreckt, an Gehaltstransparenz überhaupt zu denken“, ist Martin überzeugt.
Die Entscheidung, dann schlussendlich mit den Gehältern transparenter umzugehen, wurde von allen Mitarbeitern in einem basisdemokratischen Konsentverfahren 2014 getroffen. Die Mitarbeiter hatten sich entschlossen, die Gehälter nicht öffentlich auszuhängen oder frei im Internet zugänglich zu machen, sondern eine eigene, für sie stimmige Lösung zu entwickeln. Es wurde eine Gehaltsliste erstellt, auf die ein Teil der Mitarbeiter direkten Zugriff hat, aktuell rund zwanzig Beschäftigte. Jeder hat die Möglichkeit einen Zugriffsberechtigten anzufragen, um direkten und ungefilterten Einblick in die Gehaltsliste zu erhalten.
Der neue Weg – der kollaborative Organisationsentwicklungsprozess
Ab 2008 traf die Gesellschafterrunde die Gehaltsentscheidungen auf Grundlage von Stufenmodellen und Gehaltsmatrizen. Dabei wurden die unterschiedlichen Rollen jeweils Gehaltsgruppen zugeordnet sowie durch Stufen eine Gehaltsdifferenzierung innerhalb einer Gruppe ermöglicht. Dies war der Versuch, Gehälter durch einen analytischen Ansatz zu objektivieren.
Nach vier Jahren wuchs allerdings die Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit diesem Prozess. Das Vorgehen hatte seine Zeit gehabt. Seibert Media war inzwischen auf über 100 Mitarbeitende angewachsen. Da kam immer öfter die Frage auf, ob die Gesellschafter überhaupt noch in der Lage waren, die Leistung jedes einzelnen Mitarbeiters einzuschätzen und zu bewerten. Und so wurde das bestehende Modell angepasst. Das Gehaltsmodell basierte weiterhin auf Gehaltsbändern, ließ nun aber auch Beiträge der Betroffenen selbst zu, die mit Hilfe ihrer Mentoren (Mentoren sind zwei bis vier Kollegen, die jeder Mitarbeiter für sich frei wählen kann) konkrete Veränderungsvorschläge erarbeiten sollten. Doch auch dieses Vorgehen sollte nicht von Dauer sein.
Trotz der Transparenz, die inzwischen galt, hatte weiterhin die Gesellschafterrunde bei Gehaltserhöhungen das letzte Wort. Die Gehaltsentscheidung in der Gesellschafterrunde mit Input von Mitarbeitenden und Mentoren war auch nicht der richtige Weg, denn das eigentliche Problem war weiterhin nicht gelöst: die Unzufriedenheit der Mitarbeiter. Das zeigte sich etwa an den regelmäßig durchgeführten „Company-Happiness-Umfragen“: Das Umfrageergebnis war nach der Gehaltsrunde im Jahr 2015 auf einem Tiefpunkt angekommen. Immer mehr Mitarbeitende äußerten ihren Unmut darüber, dass die Entscheidung über Gehaltserhöhungen immer noch bei den Gesellschaftern lag. Diese seien aber, so die Einschätzung der Mitarbeitenden, viel zu weit weg, um überhaupt über ein faires Gehalt entscheiden zu können.
Das Thema Gehalt nahm eine solche Bedeutung ein, dass es zum Gegenstand des kollaborativen Organisationsentwicklungsprozesses wurde, der die basisdemokratischen Konsensentscheidungen abgelöst hatte. „Dieser Prozess der Entscheidungsfindung ermöglicht es jedem Mitarbeiter, ein Thema zu platzieren, von dem er oder sie glaubt, dass die Organisation daran arbeiten sollte“, erklärt Martin das Vorgehen. „Der Prozess startet mit einem Kick-off-Meeting, bei dem alle Mitarbeiter teilnehmen können und der Initiator sein Thema vorstellt. In der Regel sprechen die Mitarbeiter eine Einladung an die Kollegen aus, die an dem Thema ein Interesse haben oder einen Beitrag leisten wollen.“ Das Kick-off-Meeting verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll der Rahmen des Themas definiert werden. Zum anderen dient es der Gründung einer Arbeitsgruppe. Diese hat die Aufgabe, eine Lösung für die gesamte Organisation zu erarbeiten, sie zu testen und umzusetzen. Auch zum Thema Gehalt ist auf diese Weise eine Arbeitsgruppe entstanden, in der verschiedenste Ansätze diskutiert wurden.
Der erste Lösungsansatz sah vor, objektive Kriterien festzulegen, die das Gehalt nachvollziehbarer und transparenter machen sollten. Die Diskussion bezog sich auf das Beispiel von Buffer, einem amerikanischen Unternehmen aus der Tech-Branche. Buffer stellt auf seiner Webseite die eigene transparente Gehaltsformel vor. Bewerber können mittels der Formel ihr Gehalt schon im Vorfeld berechnen. Die Parameter sind die zukünftige Rolle, die Lebenshaltungskosten der Arbeitsregion und die Erfahrung des zukünftigen Mitarbeitenden.
Schnell merkte die Arbeitsgruppe bei Seibert Media jedoch, dass der Einsatz verschiedener Kriterien immer auch zur Folge hat, dass die Einschätzung nicht objektiv verläuft, in Wahrheit sogar immer subjektiveren Einschätzungen unterliegt. Aufgrund dieser Erkenntnis sprach sich die Arbeitsgruppe letztlich gegen einen solchen Lösungsansatz aus.
Wie also dieses Phänomen umgehen? Die Arbeitsgruppe erkannte, dass sie einen eigenen und ganz speziellen Weg benötigte, der zu ihrer Organisation passt. So kam das Team letztlich einer individuellen Lösung auf die Spur, in der sich auch die familiäre Kultur im Unternehmen widerspiegelt: dem sogenannten „Gehaltschecker-Kreis“. Die Arbeitsgruppe hatte eine ähnliche Lösung bei dem Hamburger Beratungsunternehmen it-agile entdeckt: „Gehaltschecker“ sind Mitarbeiter, die alle zwei Jahre von allen Kollegen gewählt werden. Damit wird gewährleistet, dass sie das Vertrauen der Mitarbeitenden genießen. Wichtig ist jedoch nicht nur, dass die Gehaltschecker faire und stimmige Entscheidungen treffen, sondern dass sie gleichzeitig auch die Gesamtorganisation im Blick haben.
Das Gehaltschecker-Experiment startet
Wie jedes Experiment startete auch dieses mit einigen Unsicherheiten. Was ist, wenn Mitarbeiter von Kollegen gewählt werden, die sich gar nicht als Gehaltschecker zur Verfügung stellen möchten? Wie groß wird der Kreis der Gehaltschecker sein?
„Festgelegt hatte die Arbeitsgruppe am Anfang lediglich, dass jeder Mitarbeiter maximal zwei Stimmen hat und somit bis zu zwei Kollegen vorschlagen kann, die aus seiner Sicht die besten Entscheidungen für ihn und das Unternehmen treffen können“, so Kai Rödiger. Er kam 2016 als Scrum Master zu Seibert Media. In seinem ersten Jahr war er als Mitarbeiter stiller Beobachter des Gehaltschecker-Prozesses. Heute arbeitet er als agiler Coach und Unternehmensentwickler. In dieser Rolle unterstützt er einzelne Teams während der Gehaltsrunde, etwa wenn es darum geht, einen Gehaltsvorschlag zu erarbeiten.
Das Gehaltsmodell im Detail: die Basis
„Über Geld zu sprechen, ist in unserem Kulturkreis nicht so einfach“, stellt Kai Rödiger fest. Um jedem im Unternehmen eine gute Diskussionsbasis zu bieten, erwirbt Seibert Media jedes Jahr aktuelle Gehaltsstudien und stellt sie dem Team zur Verfügung. Diese Studien enthalten einen Überblick über die Marktsituation der einzelnen Berufsfelder. Das Unternehmen hat sich als Ziel gesetzt, beim Grundgehalt in etwa den Median eines Marktgehalts der entsprechenden Rolle zu vergüten. „Wir vergleichen dadurch unsere Gehälter mit dem Markt und der Markt reagiert natürlich auf Inflation. Daher gibt es bei uns keinen jährlichen Inflationsausgleich, dafür aber jährliche Gehaltsrunden“, so Martin Seibert.
Der Median oder Zentralwert ist ein statistischer Wert, der einfach zu berechnen ist. Dabei stellt man sich vor, dass die entsprechenden Gehälter nach der Höhe aufgelistet sind. Schritt für Schritt werden jeweils der höchste und der niedrigste Wert gestrichen bis nur noch ein oder zwei Werte übrigbleiben. Sollten zwei Werte übrigbleiben, ist das arithmetische Mittel dieser beiden Werte der Median.
Die Beschäftigten gehen mit dem Gehaltsfreiraum verantwortungsvoll um – auch wenn es darum geht, das eigene Gehalt auszuhandeln. (Kai Rödiger, agiler Coach und Unternehmensentwickler bei Seibert Media)
Zusätzlich zum Jahresgrundgehalt, das in zwölf Monatsgehältern ausgezahlt wird, erhalten alle Mitarbeitenden jährlich eine Gewinnbeteiligung von 20% der erwirtschafteten Gewinne. Ergänzt wird das Vergütungsmodell durch weitere Sonderleistungen. „Bei den Sonderleistungen bieten wir so viel wie kaum ein anderes Unternehmen in der Region“, ist Martin Seibert überzeugt. Eine selbst gewählte Ausstattung der Arbeitsplätze (Rechner, Betriebssystem, Handy), frei gewählte Arbeitszeit, vollumfängliche Bezahlung von Überstunden, Jobticket, Massagen oder Erstattung der Mitgliedschaft in einem Yogastudio – die Liste der Sonderleistungen ist lang.
Doch auch wenn sich Seibert Media an marktüblichen Gehältern orientiert, ist die Gehaltsentwicklung nie losgelöst von der finanziellen Situation des Unternehmens. So ist für Martin Seibert auch die Kenntnis über die Unternehmensentwicklung eine weitere Voraussetzung für die Festlegung der Gehälter. „Es braucht letztlich eine ‚Open Book Philosophie‘, sodass jeder Mitarbeiter weiß, wo das Unternehmen aktuell steht und wie die Zukunftsstrategie aussieht.“
In vier Schritten zur Gehaltserhöhung
Aber wie kann man sich eine Gehaltsrunde bei Seibert Media nun vorstellen? Wie geht das Unternehmen konkret vor? Das Modell ist in die vier Phasen – Vorbereitung, Konsultation, Entscheidung und Abschluss – unterteilt.
Phase 1: Vorbereitung
Der Prozess startet im Januar mit der Terminplanung und der Wahl der Gehaltschecker durch die Mitarbeitenden. Die Wahl findet jedoch nur alle zwei Jahre statt. Bei der Wahl erhält jeder Mitarbeitende folgende Frage: Welche zwei Kollegen können deiner Meinung nach am besten dein Gehalt im Verhältnis zu anderen Kollegen einschätzen? Jeder Mitarbeitende kann bei dieser Wahl zwei Kollegen vorschlagen. Diese vorgeschlagenen Kollegen müssen nicht aus dem eigenen Team stammen. Wichtiger ist, dass sich jeder Mitarbeitende, der an der Gehaltsrunde teilnimmt, gut vertreten fühlt. Dieses Vorgehen führt dazu, dass die Zahl der Gehaltschecker von Wahl zu Wahl variiert. Basierend auf den Erfahrungen der letzten Jahre besteht der Gehaltscheckerkreis aus acht bis zwölf Personen.
Phase 2: Konsultation
Die Konsultationsphase startet im Anschluss an die Wahl der Gehaltschecker und geht von Mitte Februar bis Mitte März. In dieser Phase entstehen die Vorschläge für die laufende Gehaltsrunde. Idealerweise kommen die Vorschläge für die Gehaltsanpassungen aus den Teams oder der entsprechenden Peergroup. Sie können aber auch von Mitarbeitern selbst eingebracht werden. Dazu finden im ersten Schritt Gespräche mit den eigenen Mentoren statt, die bei der Einschätzung der erbrachten Leistung unterstützen sollen. Dann wird im Team beziehungsweise in der Peergroup über mögliche Gehaltsveränderungen diskutiert. Dazu ist es notwendig, das aktuelle Gehalt der entsprechenden Kollegen zu kennen. Und es zeigte sich, dass die Diskussionen zielführender und konstruktiver verlaufen, wenn die jeweiligen Gehälter im Team visualisiert werden. Zu diesem Zweck hat Seibert Media eigens einen Meetingraum umgestaltet. Entstanden ist ein brombeerfarbener Raum mit magnetischen Wänden und einem Gehaltsband von 20.000 bis 80.000 Euro. Für jeden Mitarbeiter gibt es einen Button mit seinem Bild, der im Teamprozess entsprechend positioniert beziehungsweise verschoben werden kann.
Ausgenommen von dem Gehaltscheckermodell sind Mitarbeitende in der Probezeit, Studenten und studentische Aushilfen. Während der Probezeit sind die Beschäftigten jedoch als stille Beobachter bei teaminternen Prozessen mit dabei, um sie kennenzulernen. Die gewählten Gehaltschecker sind in dieser Phase als Teammitglieder beteiligt, nehmen aber keine Sonderrolle ein.
Und wie spricht man im Team über Gehalt? Wie verhindert man, dass eine Gehaltsdiskussion ins Persönliche abrutscht? Bei Seibert Media erhalten die Teams Unterstützung von agilen Coaches, um einen fairen Diskussionsverlauf zu gewährleisten.
Parallel zur Konsultationsphase tagt die Gesellschafterrunde. Anhand der letztjährigen Geschäftszahlen, der Strategie und den Marktaussichten legen die Gesellschafter einen finanziellen Rahmen für die Gehaltserhöhungen fest, den sie jedoch nicht an die Mitarbeitenden kommunizieren.
In diesem Aspekt hat die Organisation dazugelernt, denn einmal wurde der finanzielle Rahmen für die Gehaltserhöhungen kommuniziert. Und was war das Ergebnis? Die Mitarbeitenden hatten anhand des vorgegebenen Rahmens die durchschnittliche Gehaltserhöhung ausgerechnet. Mit diesem Wissen im Team über Gehalt zu sprechen, führte zu zwei Dingen: Zum einen förderte es das Gießkannenprinzip und die Einstellung, dass jeder Mitarbeiter in gleicher Weise vom Gehaltstopf profitieren sollte. Zum anderen führte der vorgegebene Gehaltsrahmen zu mehr Unzufriedenheit in der Organisation, da die Mitarbeitenden versuchten, den ihnen vermeintlich zustehenden Anteil zu berechnen. Wenn sie den Anteil dann nicht erhielten, war der Unmut groß.
Seitdem das Budget nicht mehr kommuniziert wird, schätzen die Mitarbeitenden auf Basis der schon angesprochenen Transparenz der Geschäftszahlen den möglichen Gehaltsrahmen dennoch sehr gut ein. Dies hat zur Folge, dass in der Regel die Gehaltswünsche gut dazu passen. „Die Beschäftigten gehen mit dem Gehaltsfreiraum verantwortungsvoll um – auch wenn es darum geht, das eigene Gehalt auszuhandeln“, weiß Kai Rödiger aus der Praxis zu berichten.
Phase 3: Entscheidungsfindung
Nachdem die Vorschläge aus den Teams, der jeweiligen Peergroup und den Einzelvorschlägen zusammengeführt sind, nehmen die Gehaltschecker ihre Arbeit auf. Sie schauen sich alle Vorschläge an, vergleichen diese innerhalb der Organisation und legen die Gesamtsumme der vorgeschlagenen Gehaltserhöhungen über das zur Verfügung stehende Budget. Dabei teilt sich der Gehaltscheckerkreis auf. Mehrere unterschiedlich besetzte Teilgruppen betrachten fachliche Peergroups, zum Beispiel alle Softwareentwickler, alle Systemadministratoren oder alle Consultants. Wichtig dabei ist, dass die Gehaltschecker in diesen Teilgruppen zu den jeweiligen Mitarbeitenden aus den Peergroups eine Aussage treffen können. Besteht diesbezüglich Unsicherheit, werden weitere Mitarbeitende konsultiert. Gegen Ende des Prozessschritts setzen sich alle Gehaltschecker zusammen und erarbeiten eine finale Gesamtliste der Gehaltsveränderungen.
Phase 4: Abschluss
Die von den Gehaltscheckern erarbeitete Liste geht an die Personalabteilung, die die Arbeitsverträge entsprechend anpasst. Der Rollout der neuen Gehälter findet mit der Gehaltszahlung im Mai statt. Damit ist der Gehaltsprozess aber noch nicht abgeschlossen. Auch bei diesem Verfahren gibt es eine geringe Anzahl von Mitarbeitenden, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind. Mit diesen Mitarbeitern führen die Gehaltschecker bei Bedarf persönliche Gespräche, um den Entscheidungsfindungsprozess transparent zu machen. „Bei Gehaltsthemen gibt es fast nie eine beste Lösung für alle. Aber es gibt eine Lösung, die für alle am wenigsten schmerzvoll ist“, fasst Kai Rödiger die Erfahrungen der vergangenen Jahre zusammen.
Bei Gehaltsthemen gibt es fast nie eine beste Lösung für alle. Aber es gibt eine Lösung, die für alle am wenigsten schmerzvoll ist. (Kai Rödiger, agiler Coach und Unternehmensentwickler bei Seibert Media)
What’s next?
Inzwischen hat Seibert Media drei Jahre Erfahrung mit dem Gehaltscheckermodell. Dabei verlässt sich das Unternehmen nicht nur auf die eigenen Erfahrungen und Blickwinkel. Die Gehaltspolitik und die Weiterentwicklung des Gehaltsmodells werden vom Zentrum für Human Resource Management der Universität Luzern wissenschaftlich begleitet. Intern gibt es, wie für eine agile Organisation üblich, nach jedem Durchlauf eine Retrospektive, um festzustellen, was gut gelaufen ist und an welchen Stellen es Verbesserungsbedarf gibt.
In der letzten Retrospektive zur Gehaltsrunde sind zwei Themen besonders in den Vordergrund getreten:
- Zum einen die grundsätzliche Frage, ob eine jährliche, zentrale Gehaltsrunde überhaupt sinnvoll ist oder ob diese nicht explizit eine Erwartungshaltung fördert, eine Gehaltserhöhung zu bekommen. Das wiederum würde bedeuten, dass die Mitarbeitenden, die keine Anpassung erhalten, das Gefühl entwickeln könnten, bestraft zu werden.
- Der zweite Aspekt betrifft die Überlegungen, die die Gehaltschecker anstellen, wenn sie eine Gehaltsentscheidung treffen. Warum werden diese nicht dem Mitarbeitenden mitgeteilt? Könnte das nicht ein wertvolles Feedback sein?
An diesen beiden Themen arbeitet Seibert Media weiter und wir werden mit Sicherheit über unseren Blog „New Pay“ von der Weiterentwicklung des Gehaltscheckermodells berichten. Und dass es diese Weiterentwicklung geben wird, steht laut Kai Rödiger außer Zweifel: „Unser System hat einige Schwächen, ist aber das Beste, das wir bisher hatten. Die nächste Iteration wird sicherlich kommen.“
Mit freundlicher Genehmigung von Haufe-Lexware.
Sven Franke / Stefanie Hornung / Nadine Nobile: New Pay. Alternative Arbeits- und Entlohnungsmodelle.
- Inkl. Arbeitshilfen online.
- 285 Seiten.
- Print: 39,95 Euro
- E-Book (EPUB oder PDF): 35,99 Euro
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