SPIEGEL ONLINE nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Diesmal „Verheißung“ von Jussi Adler-Olsen, der neue, sechste Band der Reihe um Carl Mørck: Neue Nummer eins der SPIEGEL-Bestsellerliste und der derzeit meistverkaufte Titel auf dem deutschen Buchmarkt überhaupt.
Hammelehle: Musstest du bei diesem Buch auch an Outdoorjacken denken?
Keller: Nicht ganz. Aber an dunkelgraue Wollmäntel mit – wichtig – hochgeklappten Krägen. Der Assoziationsraum ist also wohl ziemlich eindeutig: viel Wind, viel skandinavische Thriller-Kälte, viele Inseln mit düsteren Geheimnissen. Jussi Adler-Olsen beschreibt definitiv ein anderes Dänemark als das, was man von seinem jüngsten Strand-Kurztrip ins Reetdachferienhaus kennt.
Hammelehle: Wobei mir das Land, das er in „Verheißung“ und in den meisten anderen seiner Bestseller beschreibt, auch als Scheinwelt erscheint. Mit der Realität der dänischen Gesellschaft dürfte sie ebenso wenig zu tun haben wie dein Ferienhäuschen auf Rømø.
Keller: Hoffentlich. Im Zentrum dieser Scheinwelt steht Carl Mørck aus dem Sonderdezernat für alte, ungeklärte Fälle. Adler-Olsen hat Mørck seinen Durchbruch zu verdanken. Erfüllt dieser Mørck deine Erwartungen an einen skandinavischen Thriller-Ermittler?
Hammelehle: Das einzige, was mir von ihm in Erinnerung geblieben ist, ist, dass er raucht. Und, dass er einen muslimischen Assistenten hat. Aber ich glaube, es ist Teil von Jussi Adler-Olsens Erfolgsgeheimnis, dass seine Hauptfigur genauso langweilig ist wie seine Leser.
Keller: Vielleicht kommt dir Mørck aber auch nur so langweilig vor, weil er in „Verheißung“ mit einem Sektenguru zu tun hat, einem obsessiven Polizeikommissar, der sich zum Dienstabschied in den Kopf schießt und einer Frauenleiche, die nach einem Unfall mit Fahrerflucht in einer Baumkrone hängt.
Hammelehle: Ist das nicht das Konstruktionsprinzip fast aller Bücher von Jussi Adler-Olsen? Der freundlichen Durchschnittlichkeit des dänischen Alltags wird ein Verbrechen gegenüber gestellt, das nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommt, sondern eine exotische Randgruppe betrifft. Daraus ergibt sich der maximale Beruhigungseffekt für den Leser: Nicht nur, dass der Kriminalfall im Roman aufgeklärt wird, er ist zudem derart außergewöhnlich, dass das Verbrechen keinem den Schlaf raubt – weil es so sehr fern der eigenen Lebenswelt ist.
Keller: Dann lautet deine Antwort auf die Frage „Und das soll ich lesen?“ also: höchstens zur Beruhigung!
Hammelehle: Beruhigung? Diese leutseligen, pseudo-lebensnahen Dialoge. Diese doch recht weit her geholte Konstruktion. Diese passiv-aggressive Verteidigung des Mittelstand-Status-Quo. Beruhigt habe ich mich nicht gefühlt, eher deprimiert. Und auch ein bisschen paralysiert. Innere Leere dank intellektueller Unterforderung. Hat das Buch damit seinen Zweck erfüllt? Sag‘ du doch bitte einmal etwas Nettes über Jussi Adler-Olsen.
Keller: Wie widerwillig Carl Mørck in diesen Fall hinein gezogen wird und über wie viele Jahre und Orte diese Geschichte angelegt ist, ist alles andere als langweilig. Und liest sich an so einem ruhigen Abend im Ferienhäuschen bestimmt ziemlich gut. Außerdem: Adler-Olsen ist Sohn eines Psychiaters und hat in seiner Kindheit angeblich heimlich Elektroschocktherapien und Autopsien beobachtet und später als Journalist gearbeitet hat. Was hätte er im Leben werden sollen, wenn nicht Bestseller-Thrillerautor?
Hammelehle: Daraus würde ich folgern: Nicht nur jedes Verbrechen hat seine Wurzeln in einer unglücklichen Kindheit – sondern auch jeder missratene Thriller.
Maren Keller ist Redakteurin beim KULTUR SPIEGEL. Ihre dänische Lieblingsinsel ist Fanø.
Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur bei SPIEGEL ONLINE. Er fragt sich noch immer, warum die Hamburger so gern nach Dänemark fahren .
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