Es ist der Traum eines jeden Journalisten, mit einem Artikel eine ganze Branche in Atem zu halten. So geschehen, nachdem Chris Anderson (Foto: Wired), Chef des renommierten Internet-Magazins „Wired“, in einem Großessay die „Anatomie des Long-Tail“ untersucht hat (hier). Seine Kernthese: Während sich der stationäre Einzelhandel immer stärker auf die „Hits“ konzentriert, machen E-Commerce-Unternehmen zunehmend mit dem „langen Schweif“ der vermeintlichen Nischen-Artikel ihr Geschäft. Fast vier Jahre nach Publikation des Online-Essays und einer Langfassung in einem Buch hat die Therie allerdings Kratzer bekommen. Eine Harvard-Ökonomin meldet Zweifel an.
Zur Verdeutlichung von Andersons Theorie ein Rückblick auf die wichtigsten Punkte der Theorie: Mit dem dem „langen Schweif“ definiert Anderson Artikel, die in den stationären Läden nicht verfügbar sind (wegen Platzproblemen oder eines fehlenden lokalen Markts) und die von der Musikindustrie oder den Verlegern und ihren Marketingaktivitäten weitestgehend außer Acht gelassen werden. Bevor Anderson ein Fazit zieht, dekliniert er die These anhand verschiedener Beispiele (Stand ist 2004) aus der Internet-Wirtschaft durch:
- Amazon macht 57% des Umsatzes mit den rund 2,2 Millionen Titeln, die selbst in den Flagschiffen der Filialisten (bis zu 130 000 Titel) fehlen – später hat „Wired“ die Schätzungen auf rund 40% korrigiert.
- Von 99% aller bei Medien-Shops wie iTunes oder Amazon gelisteten Artikel wird pro Monat mindestens ein Exemplar verkauft.
- Google macht das Gros des Umsatzes mit der Vielzahl kleiner Werbekunden, ebenso wie eBay am meisten Geld mit „Nischen“- statt Edel-Auktionen mit Rekordprovisionen verdient.
„Der Markt außerhalb der Welt der stationären Händler ist groß und wird immer größer“, schlussfolgert Anderson und beschwört einen „Paradigmenwechsel“ abseits des industriell gesteuerten Massengeschmacks. Die Erfolgsrezepte der Onliner, die Anderson analysiert hat, haben sich bestätigt:
- Alles verfügbar halten: Je länger der „Long Tail“, desto größer der Umsatz mit den Nischen-Titeln.
- Preise halbieren: Das Interesse des Konsumenten für die Backlist soll durch Preisreduktionen forciert werden. So hat der Musik-Download-Marktführer iTunes (Apple) großen Erfolg mit uniformen Preisen (0,99 Euro pro Song, 9,99 Euro pro Album).
- Beim Finden helfen: Die großen Musik-, Film- oder Büchersammlungen müssen durch Suchinstrumente erschlossen werden.
Nachdem Andersons Long-Tail-These in den vergangenen Jahren viel Lob geerntet hat – selbst von Google-Gründer Eric Schmidt – erhält Anderson jetzt Gegenwind. Die Harvard-Ökonomin Anita Elberse hinterfragt in ihrem Artikel „Das Märchen vom Long Tail“ (erschienen im „Harvard Businessmanager“). Kernthesen der Ökonomin:
- Die Bedeutung von Hits und Blockbustern in der Online-Wirtschaft nimmt nicht ab, sondern legt im Vergleich zur traditionellen Ökonomie zu.
- Der Schwanz werde zwar länger, aber auch immer flacher: 91% der digitalen Musiktitel, die 2007 in den USA verkauft wurden, seien weniger als hundert Mal und immerhin 24% nur ein einziges Mal abgesetzt worden. „Was Verbraucher über das Internet kaufen“, zitiert die „SZ“ Elberse, „entspricht größtenteils dem, was sie schon immer gekauft haben.“
Laut „Süddeutscher Zeitung“ (siehe heutige Presseschau) hat Anderson inzwischen in einer Replik auf Elberse eingeräumt, dass ihre Befunde überraschend seien (hier der Kommentar). Aber in der Frage, was noch zum „Big Head“ und was schon zum „Long Tail“ gehöre, liege man völlig auseinander. Für ihn sei alles jenseits der 10.000 Songtitel auf den CDs, die eine Wal-Mart-Filiale vorhalte, bereits Nischenprodukt…
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