Die Digitalisierung treibt die Verlage vor sich her. Dabei muss gar nicht alles und jedes digitalisiert werden. Wo müssen Medienhäuser die Grenzen des Sinnvollen ziehen?
Zu denen, die den Medien raten, ihr Heil in einer neuen analogen Welt zu suchen, zählt Richard Gutjahr. Weil das Produkt Buch, Zeitschrift oder Zeitung ohne wesentliche Qualitätseinbuße digitalisiert werden kann, sollten Medienunternehmer nicht länger ihre Produkte als die eigentlichen Wertträger behandeln, sondern die Beziehungen zwischen ihnen, ihren Zielgruppen und ihren Kreativen monetarisieren. Digitalisierung und IT sind insofern erforderlich, als sie diese Beziehungen in loyale Communities umzuschmieden helfen. Ohne digitale Kommunikationskanäle wie etwa Social Media oder selbstbetriebene Communities sind zum Beispiel direkte Beziehungen zu großen Leserkreisen nicht möglich.
Dies bringt die Herausforderung mit sich, den Dialog mit den Lesern korrekt zu moderieren. Besonders wichtig ist eine gute Moderation, wenn die Community Kritik äußert. Richard Gutjahr hat als Blogger und Journalist reichhaltige Erfahrung damit. Bei der Konferenz „Recht im Social Web“ der Akademie der Deutschen Medien im Münchner Literaturhaus am 16. Mai 2019 leitet Gutjahr die Podiumsdiskussion „Engage yourself?! Falsche Behauptung, Beleidigungen oder kritische Bewertungen – reagieren oder nicht?“ mit Vertreter/innen von Weber Shandwick, DB Vertrieb und Lausen Rechtsanwälte. Im IT-Channel von buchreport.de sagt Richard Gutjahr, welche Digitalisierung die Verlage wirklich brauchen.
Durch die Verlage geht seit etwa zwei Jahren ein Aufatmen: die E-Book-Umsätze gehen nicht wie befürchtet durch die Decke, und aus den USA kommen Hoffnungssignale, was den Printabsatz betrifft. Ist die Digitalisierung in der Medienbranche also doch etwas, das „wieder weggeht“?
Eine solche Annahme geben die Zahlen, die ich regelmäßig studiere, nicht her. Mag sein, dass es hin und wieder Plateau-Bewegungen gibt oder in manchen Segmenten sogar zaghaftes Wachstum. Wer aber im Jahr 2019 noch immer hofft, das Internet gehe wieder weg, der lebt in einem Paralleluniversum und sollte vielleicht auch besser dort versuchen, sein Geld zu verdienen.
Was passiert gerade mit dem Produkt Buch, dem Produkt Magazin, dem Produkt Zeitung?
„Die Menschen lesen nicht mehr.“ Das ist nicht von mir – sondern von Steve Jobs. Ein provokatives Statement, klar, aber im Grunde hatte er Recht. Jugendliche sprechen Textnachrichten in ihre Geräte, weil ihnen das Tippen zu anstrengend geworden ist, sogar mein Vater benutzt heute wie selbstverständlich Mediatheken und YouTube. Die Leute schauen immer mehr Video, auch unterwegs. Spätestens wenn 5G flächendeckend verfügbar ist, gehen alle Schleusen auf. Wer bis dahin kein Bewegtbildkonzept hat, ist verloren.
Wenn ein Verlagsmanager Ihnen sagt: „Wir fokussieren unsere Bemühungen darauf, gut konzeptionierte, gut lektorierte und gut gebundene Bücher zu machen und in alle Märkte zu bringen“ – was sagen Sie dem?
Bücher sind nicht länger das Produkt. Sie sind Werbeträger für das eigentliche Produkt. Das Produkt ist der Autor, das, wofür er steht, das Ereignis. Ich sehe die Verleger in einer ähnlichen Falle wie die deutschen Automobilhersteller. Die denken bis zum heutigen Tag, ihr Produkt sei das Auto.
Sie belegen mit Beispielen aus der Tonträger-Industrie, wie die Medienmarken – dort also die Labels – zunehmend die Hoheit über den Vermarktungsprozess verlieren. Gilt das nur für die Künstler/innen, die ihrerseits große Marken sind?
Menschen wollen mit Menschen verbunden sein, nicht mit Verlagen. Es heißt nicht umsonst Facebook und nicht Brandbook. Bislang erfolgte der Weg vom Leser zum Autor über einen Verlag. Das ist heute nicht mehr nötig. Jeder Fußballclub, jeder Spieler, jeder Star, denken Sie an Eurovisions-Siegerin Lena, ist heute sein eigenes Medienhaus und kommuniziert direkt mit seinen Fans.
Nicht dorthin schauen, wo der Ball liegt – sondern dorthin, wo er hinfliegen wird!
Profifußballvereine leben vor allem von Sponsoring und Senderechten. Bayern München hat einen Weg eingeschlagen, den ich auch jedem Verlag empfehle: das Management des Vereins hat sich vorgestellt, was passiert, wenn die wichtigsten Erlösquellen ausfallen. Auf dieser Basis krempelt er sein Geschäft komplett um. Bald wird er es völlig autark auf eigenen Servern und mit eigenen Systemen betreiben. Bayern München bespielt etwa 30 Social-Media-Kanäle mit selbstproduzierten Inhalten über die eigenen Sportler. In 10 Jahren wird der Verein ein Medienhaus mit angeschlossener Sportabteilung sein. Welcher Platz für Berichterstattung bleibt da noch den Sportbuchverlagen?
Die Verlage agieren immer noch auf der Basis weitgehend intakter Vertriebs- und Handelsstrukturen. Wie weit sind sie von einer solchen Bedingungen wie im Fall Lena Meyer-Landrut entfernt?
Lena ist ein gutes Beispiel. Natürlich hat auch sie ein Label, einen Manager und ihre Entourage. Aber wenn ihr einer dumm kommt, nimmt sie ihre Armee an Followern, die sie mittels Social Media steuern kann wohin sie will, und macht ihr eigenes Ding. Ein ähnliches Phänomen erleben wir seit geraumer Zeit in der Politik. Ob Emmanuel Macron oder Donald Trump – in einer digitalisierten Welt wandert die Macht weg von der Institution hin zum Individuum. Die Partei, die Verbände haben doch schon lange nichts mehr zu sagen.
Gibt es ein Wettrennen zwischen Medienmarken und Autorenmarken um die Aufmerksamkeit der Leser?
Einen Wettbewerb? Nein. Der ist schon lange entschieden.
Mathias Döpfner von Axel Springer sagte vor dem Deutschen Bundestag: „Die Blogger von heute sind die Verleger von morgen“. Was meint er Ihrer Ansicht nach damit?
Dass die Blogger etwas begriffen haben, was die Verlage erst noch lernen müssen. Das Produkt des Bloggers ist nicht etwa sein Text oder seine Homepage. Sein Produkt ist seine intime Beziehung zum Publikum. Als ich meine ersten Gehversuche im Journalismus machte, nannte man das seinerzeit „Leser-Blatt-Bindung“. Vergessen Sie das Blatt. Nichts ist enger als die Verbindung zwischen Menschen.
Sie prophezeien gedruckten Medien einen Wert- und damit Umsatzverfall. Sind die Verlage dem rettungslos ausgeliefert, oder könnte das Leistungsschutzrecht die Gratiskultur stoppen?
Mit dem Leistungsschutzrecht und der jüngsten Urheberrechtsdebatte haben die Verlage meiner Meinung nach einmal mehr demonstriert, dass sie das eigentliche Problem noch immer nicht begriffen haben. Die Kopie ist nicht das Problem. Das eigene Geschäftsmodell ist das Problem. Das muss sich wandeln.
Mehr zum Thema IT und Digitalisierung lesen Sie im IT-Channel von buchreport und Channel-Partner knk. Hier mehr…
Was müssen Verlage tun, statt weiter an den Medien und an deren Absatzkanälen zu optimieren?
Ein Beispiel: Das eigentliche Problem der Gratiskultur seinerzeit war nicht, dass die Menschen nicht zahlen wollten. Der Fehler von damals war, dass die Verlage das Bezahlen schwer bis nahezu unmöglich gemacht hatten. Die digitalen Kassenhäuschen von damals waren nicht nur kompliziert, sie waren quasi unbenutzbar. In den letzten Jahren wurde dieser Mangel behoben, in der Zwischenzeit haben sich die Leute aber an neue Angebote wie Netflix oder Spotify gewöhnt. Alles unter einem Dach für 9,99 Euro im Monat. Und dann kommt die „Süddeutsche“ daher und verlangt allein für die eigenen Angebote 35 Euro. Guten Flug.
Warum fällt es den meisten Verlagen so schwer, sich vom traditionellen, produktzentrierten Verwertungsschema zu lösen?
Das Problem ist doch: Das Alte funktioniert nicht mehr – das Neue noch nicht. Wann also ist der richtige Moment, umzusteigen? Ein Dilemma, gerade bei großen Häusern, die ja viel zu verlieren haben. Da tun sich Start-ups natürlich leichter.
Was könnten Verlage tun, um näher an ihre Zielgruppen heranzukommen?
Die Verlage sollten begreifen, dass ihre Bücher und Zeitschriften nicht das Produkt sind. Sie sind nicht mehr als ein Werbemittel für das eigentliche Produkt. Schauen wir noch einmal rüber zur Musikindustrie. Früher war das Produkt die LP oder die CD. Heute ist das Produkt das Live-Konzert und das Merchandising. Die Musik gibt’s quasi gratis und sie ist nur der Werbetrailer zur nächsten Tournee.
Welche Werkzeuge unterstützen Verlage dabei, engere Beziehungen zu ihren Communities aufzubauen?
Ich bin kein Verleger – und obwohl ich blogge, habe ich auch keine Pläne, selbst Verleger zu werden. Aber wenn ich Verleger wäre, würde ich Lesungen, Festivals und Meet & Greets veranstalten. Meine Mitarbeiter zu Botschaftern machen und sie über die sozialen Netzwerke darin bestärken, sich mit den Lesern zu vernetzen.
Sind Communities nur dazu gut, besser zu verkaufen – was auch immer die Leistung ist?
Nein. Die eigentliche Stärke der Netzwerke ist es, Trends und Strömungen zu erkennen, bevor diese im Markt aufschlagen. Viele meiner früheren Chefs haben sich dem Netz verweigert, weil sie sagten: Ich habe besseres zu tun. Traurig. Was man aus dem Netz lernen kann, ist pures Gold.
Welche Rolle spielt heute Glaubwürdigkeit in der Pflege von Communities?
Glaubwürdigkeit ist alles. Aber nicht so, wie man das im Bildungsbürgertum versteht. Auch Verschwörungstheoretiker besitzen auf ihrem Gebiet eine hohe Glaubwürdigkeit. Deshalb sind Veranstaltungen wie wie die Konferenz „Recht im Social Web“ der Akademie der Deutschen Medien so wichtig. Es ist entscheidend, dass wir uns als Gesellschaft mehr mit dem Netz und seinen Mechanismen beschäftigen.
Was brauchen Verlage, um solche Leistungen in Serie zu entwickeln und zu vermarkten, die die erodierenden Medienumsätze auffangen und ersetzen?
Empathie. Digitale Empathie. Sie müssen lernen, sich in ihr Publikum hineinzudenken, aber eben auch in Algorithmen. Denn wir werden in Zukunft mehr mit Maschinen kommunizieren und von ihnen gesteuert.
Wo hilft es umgekehrt, Ballast abzuwerfen?
Da halte ich es mit Marie Kondo. Trenne dich von Dingen, die dir keine Freude bringen. Hart, aber effektiv. Mein Kleiderschrank sieht anders aus, seitdem ich das beherzige.
An welcher Stelle kann heute Technologie den Verlagen helfen, sich auf die Marktveränderungen einzustellen?
Zeigen Sie mir einen Beruf, einen Arbeitsplatz, der vom digitalen Wandel nicht betroffen ist. Geh mit der Zeit, oder du gehst mit der Zeit. Schon Darwin wusste: nicht der Klügste oder der Stärkste überlebt, sondern derjenige, der sich am schnellsten an seine veränderte Umwelt anpassen kann.
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