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Daten als Entscheidungshilfe: Wo KI im Verlag genutzt werden kann

Künstliche Intelligenz revolutioniert ganze Industrien. Und in den Verlagen? Dort fehlt es noch weitgehend an KI-basierten Geschäftsmodellen. Hauptgründe dafür sind deren mittelständische Struktur und daraus resultierend deren Armut an Daten. Doch größere Häuser wie der Holtzbrinck-Publikumsverlag Rowohlt sind auf dem Weg zu datengetriebener Prozessverbesserung – gemeinsam mit Software-Wirtschaft, Handel und Wissenschaft. Peter Kraus vom Cleff ist kaufmännischer Rowohlt-Geschäftsführer und spricht im Interview im IT-Channel von buchreport.de über Anfänge, Optionen und Perspektiven.

 

Peter Kraus vom Cleff ist seit 2008 kaufmännischer Geschäftsführer des Rowohlt Verlags. Er ist branchenpolitisch im Börsenverein engagiert und Präsident des europäischen Verlegerverbandes FEP Federation of European Publishers. (Foto: Monique Wüstenhagen)

Laut dem legendären Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt ist es eine Art „Naturgesetz“ der Buchbranche, dass ein Bestseller 20 verlegerische Fehlwürfe ausgleicht. Warum akzeptieren Sie dieses Gesetz nicht mehr?

Ich stelle dieses Gesetz ja gar nicht in Frage. Das ist eine etablierte, populäre Beobachtung, die von einer Grundgesamtheit Hunderttausender tatsächlicher Titel abgeleitet ist. Es ist ein Teil der Faszination des Verlegens von Büchern, insbesondere in Publikumsverlagen, dass ihr Erfolg oder Misserfolg sich einfachen Voraussagen entzieht. Wer hätte vorausgesagt, dass ein Roman über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß einer der größten Roman­erfolge des neuen Jahrtausends werden würde? Das ist ähnlich, wie John Lennon es sagte: „Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben.“ Ich akzeptiere also dieses Gesetz, aber trotzdem setze ich auf Navigationshilfen, ganz wie ein guter Skipper es tut. Der wird immer noch gebraucht, damit nämlich zum Beispiel sein Boot um die Tonne herumfährt, die die Navigation angesteuert hat. Die Navigationshilfe macht das Segeln nicht fragwürdig und zu stranden ist nur in Büchern romantisch.

Die meisten großen Verleger und Buchhändler gelten als Instinktmenschen, nicht als Analytiker. Wieso reicht das heute nicht mehr – sind die Instinktmenschen ausgestorben?

Definitiv nein, so was von gar nicht. Darüber müssten Sie mit den vielen hoch kreativen Verlegerinnen und Verlegern sprechen. Die wird es weiterhin geben, denn diese ersetzt keine künstliche Intelligenz. Würden Sie auf einer unbemannten Fähre über den Ärmelkanal fahren? Ich sicher nicht!

In welchen Funktionen, an welchen Stellen und Stellschrauben ist künstliche Intelligenz dem Menschen überlegen – und wo schlagen Menschen die KI?

Wenn es um das Thema der Erfolgsprognosen für Bücher geht, reden wir von einer schwachen KI im Gegensatz zu starker KI. Eine solche schwache KI beherrscht Routinetätigkeiten und Analysen sehr gut. Sie kann riesige Datenmengen wesentlich besser, leichter und schneller verarbeiten, als Menschen es könnten, und kann in diesen Daten Muster erkennen. Wir kennen das aus der Meteorologie. In dieser sind Vorhersagen ohne KI gar nicht mehr denkbar, da die Daten, die verarbeitet werden müssen, zu riesig und disparat sind. Ähnlich im Verlag. Was uns schwache KI hier bringen kann, das ist zum Beispiel die datenbasierte Unterstützung von Arbeitshypothesen, also auch von Absatzprognosen. Was dann nach Einsatz dieser KI noch an Entscheidungen offen bleibt, trifft besser ein Mensch.

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Die Absätze einzelner Bücher sind gerade im B2C-Markt hoch volatil und hängen im Einzelfall von vielen Faktoren ab, die von außen kommen und nicht planbar sind. Auf welchen Stufen des Buchplanungs- und -lebenszyklus genau soll KI da Nutzen bringen?

Auf allen Stufen, wo wir aus Daten Informationen und aus Informationen Entscheidungen machen können. Zum Beispiel in der Titelplanung. Wir rechnen damit, dass KI uns bei der Findung und Profilierung der Zielgruppen für Bücher hilft. Mit den verschiedenen Datenquellen, die uns aus der „Insights“-Schnittstelle von Thalia und auf anderen Wegen zugänglich sind, werden wir zum Beispiel für einen Thriller, der in der Bretagne spielt, eine andere Zielgruppe finden als für einen Thriller, der in der Chefetage eines Frankfurter Bankkonzerns spielt. Zum Beispiel im Bereich Redaktion. KI kann den Zeitaufwand für Routinetätigkeiten wie das Kollationieren erheblich verkürzen. Zum Beispiel in der Disposition von Erst- und Nachauflagen.

Das verlegerische Großrisiko schlechthin …

Genau. Früher haben wir bei der Festlegung nach einem einfachen Algorithmus entschieden, der lautete: Nimm die Zahl der Vormerker aus dem Handel mal vier. Heute sagen uns die Vormerker viel weniger über die zu erwartende Nachfrage, daher müssen wir uns nach anderen Instrumenten umsehen. KI kann hier eine entscheidende Rolle spielen.

Im Marketing ermöglicht KI in Verbindung mit anderen Systemen eine kundenindividuelle Aussteuerung von Werbung, zum Beispiel bei der Ankündigung von Novitäten. Wenn ein Buch erstmal am Markt ist, kann KI uns bei der Bestimmung der Titelreichzeit und bei der Disposition von Größe und Zeitpunkt von Nachauflagen unterstützen oder bei der Entscheidung, wann es am sinnvollsten ist, von klassischem Auflagendruck auf Print on Demand umzustellen.

KI erlaubt es, „Schleicher“, heimliche Bestseller, leichter zu identifizieren und durch geeignete Werbung zu Rennern zu machen oder Nachfolgertitel aufzusetzen. Im kaufmännischen Bereich erlaubt KI uns bereits jetzt, die Rechnungen unserer Kreditoren erheblich schneller zu erfassen und vorzukontieren. Wir sprechen hier von E-Invoicing. Und schließlich kann KI auch die Entscheidung unterstützen, einen Autorenvertrag zu verlängern oder auslaufen zu lassen. Manches davon geht theoretisch auch ohne KI, aber wir tun es meist nicht. KI bedeutet nämlich, weniger Zeit für wiederkehrende Überwachungstätigkeiten aufwenden zu müssen.

Buchhändler könnten ihrerseits KI einsetzen, um aus der Flut der Verlagsinformationen das für sie Relevanteste herauszufiltern, um besser zu disponieren und zu planen.

Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz im Buch-Lebenszyklus

StadiumAnwendung
TitelplanungZielgruppenanalyse, Absatz-Forecasts
RedaktionSprachprüfung, Kollationieren
MaterialwirtschaftMengendisposition
MarketingIndividuelle Programmvorschläge, Erfolgskontrolle
DatenmanagementAutomatisierte Anreicherung von Metadaten
BestandsbewirtschaftungReichzeitprognose
EinkaufDruckplattform-Wechsel zu PoD
ProgrammpflegeBacklistbewertung
BuchhaltungElektronische Rechnung (E-Invoicing)
Quelle: Pondus

Welche externen Informationen wünscht sich ein Verlag überhaupt und welche kann er verarbeiten?

Ich wünsche mir in erster Linie gar nicht mehr Daten. Ich möchte stattdessen die ohnehin vorhandenen Daten besser analysieren und so filetieren können, dass sie entscheidungsrelevanter sind.

Die Daten der großen Filialbuchhändler sind ja auch im Media-Control-Panel enthalten. Was kann ein einzelner Händler beisteuern, das über die üblichen Marktdaten hinausgeht, selbst wenn er einen Marktanteil von 20% behauptet?

Zum Beispiel die regionale Verteilung seiner Absätze. Die finden wir nicht in Media Control. Die ist aber für eine vernünftige Distribution unerlässlich. Und vernünftig heißt „keine Verschwendung“. Keine sinnlosen Hin- und Rücktransporte, keine Überkapazitäten oder Überproduktion, kein Warten auf Lieferungen anderenorts, keine Überkomplexität. Wenn wir dieses Problem in den Griff bekommen, sind wir weit nachhaltiger als indem wir auf das Einschweißen verzichten. Im Kaizen spricht man von den „Sieben Muda“, den sieben Arten der Verschwendung als typischen Verlustquellen. KI kann diese begrenzen helfen.

Wo brennt das Problem der falschen Auflagendisposition betriebswirtschaftlich am heißesten, bei den Spitzentiteln oder im Mittelfeld?

Früher waren die Midlist-Titel am schwierigsten zu disponieren, heute hat sich die Unsicherheit wie ein Flächenbrand ausgebreitet. Das Verhalten der Verbraucher ist volatiler denn je, und die Dispozyklen des Handels sind deutlich kürzer geworden. Da gibt es Titel, die durchgeplant sind mit PR und Media bis hin zum Autorenauftritt bei Markus Lanz, dann zerstört ein Ereignis von außen alles – das muss gar nicht so groß sein wie Covid-19.

Wo funktioniert KI zur Auflagenbestimmung am besten: bei Spitzentiteln oder auch in der Midlist?

Das wissen wir erst, wenn wir es regelmäßig tun. Joerg Pfuhl sagte immer: „Einfach machen!“ Und so ist es auch. Das muss man ausprobieren und wir probieren es aus. „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“, heißt das bei Samuel Beckett.

Wie hoch schätzen Sie den Anteil Ihres Programms, der überhaupt einer KI-gestützten Prognostik zugänglich ist?

Auch das wollen wir erfahren. Bleiben wir im Bild des Skippers. Die KI kann uns auf eine neue Art Navigationshilfe leisten. Das ist ungewohnt, ja. Bei der Entdeckung von interessanten Themen und Autoren etwa kann sie die traditionellen Wege ergänzen. Früher hat man fernsehend und Zeitung lesend Autoren entdeckt. Der Botaniker Jürgen Feder zum Beispiel kam in unser Programm, weil eine Lektorin ihn in einer Talkshow gesehen hatte. Heute können wir die Titel-Ratings und -Rankings bei Amazon, den Response auf Videoportalen oder die Beliebtheit von Inhalten auf „Gute Frage“ analysieren. Und vieles, vieles mehr! Wir sollten allerdings mutiger sein und mehr ausprobieren, selbst wenn wir uns hinterher auch mal eingestehen müssen: Diesmal hat es nicht geklappt. Wir Deutschen in unserem Land der Ingenieure haben die Neigung, zu tüfteln, bis alles perfekt ist. Nur kann bis dahin auch unser Markt weg sein. Wie wär’s, wenn wir spielerischer an Programmfragen herangingen? Das macht Spaß – mir jedenfalls. Angenehm ist auch, gut gelaunte Menschen um sich zu haben, die dieselbe Lust an so etwas haben.

Wie kann ich mir den Gesamtprozess einer Auflagenfestlegung in vertikaler Kooperation zwischen Handel und Verlag vorstellen?

Einen solchen Gesamtprozess gibt es noch nicht. Den muss man im Einzelnen ausdefinieren. Welche Interessen hat ein Kooperationspartner? Wie weit traut man sich aufs Eis? In der IG Pro des Börsenvereins wird über solche Möglichkeiten und Prozesse nachgedacht. Aber auch bei Software-Herstellern wie Pondus, der dazu die Universität Hannover mit ins Boot geholt hat.

Verlags- und Marktdaten

Projekte des Software-Herstellers Pondus, bei denen Verlage und Handelsdaten informationstechnisch zusammenbracht werden:

  • Bedarfsanalyse und Konzeption von KI-Use-Cases (Schwerpunkt Absatzprognose) im Rahmen eines Forschungsprojekts mit der Leibniz Universität Hannover (abgeschlossen)
  • Integration der Datenquellen in die KI-Applikation (u.a. Media Control, Kassendaten des Handels, Absatzdaten der Verlage, Salesranks) (laufend)
  • Iterative Umsetzung der Use Cases im Rahmen eines Proof of Concept gemeinsam mit Pilotverlagen (gestartet)
  • Umsetzungen über das Analyse-Dashboard und Ankopplung an das Kalkulationsmodul (gestartet)
  • Rollout des neuen KI-Moduls „Radar“ (geplant für Q1 2021)

Quelle: Pondus

Was muss ein Verlag technisch und organisatorisch „können“, um von den Daten des Handels zu profitieren?

Er sollte wissen, wie man aus Daten Informationen fischt. Er sollte Spaß an der Analyse von Zahlen haben. Er sollte sich um Menschen kümmern, die Freude an so etwas haben, und sie an sich binden, indem er ihnen das Gefühl gibt, dass ihre Erfolge anerkannt und honoriert werden.

Müssen die meisten Verlage nicht erst mal einfachere Prozessaufgaben meistern, als gleich KI einzusetzen? Zum Beispiel ihre ohnehin vorhandenen Erkenntnisse und Daten hausintern besser zu verteilen und über sie intensiver miteinander zu sprechen?

Ja. Ohne diese Kommunikation werden sie aus der KI nicht so viel herausholen. Auch wir haben zuerst danach gestrebt, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Übersicht über den Gesamtprozess zu beschaffen und mit der rein bereichsbezogenen Denke aufzuräumen. Das ist ein Change-Prozess, der entsprechendes Management erfordert. „Raus aus den Schrebergärten“ haben wir ihn genannt, als wir ihn 2009 begannen, und er dauert an. Aber viele Absolventen haben ihn erfolgreich durchlaufen. Es ist eine Aufgabe für das gesamte Management, den Mitarbeitern, die wir ihnen anvertraut haben, die menschliche Angst vor dem Neuen zu nehmen. Wir haben Kapazitäten für Projektmanagement im Haus geschaffen, wir haben eine BPMN-Software …

… eine „Business Process Model and Notation“-Software  …

… beschafft und einzelne Mitarbeiter darauf schulen lassen. Diese haben damit selbst ihre Prozesse aufgenommen. Ein solches bereichsübergreifendes Verständnis ist für den Einsatz von KI wichtig! Wenn die anderen Bereiche nicht wissen, was zum Beispiel im Vertrieb mit KI gemacht wird, dann wird auch die Akzeptanz nicht die sein, die erforderlich wäre. Oder der Impuls, in seine Abteilung selbst Erfahrungen mit KI zu machen. Denn idealerweise profitieren alle Bereiche von derartigen technischen Innovationen. Zum Beispiel unsere Lektorate: Die sind mit Dashboards ausgerüstet, die auf disparate Datenquellen zugreifen, und können dadurch ihren anrufenden Autoren viel schneller und zuverlässiger Auskünfte erteilen.

Das ist übrigens nicht zum Fürchten, sondern das Gegenteil eines Ausgeliefertseins an eine dunkle, bedrohliche KI.

Steht nicht ein gewisser „unerbittlicher“ Qualitätsanspruch in den Verlagen der Nutzung der KI mit ihren systembedingten Unschärfen entgegen? Die Metadaten-Anreicherung mit automatisierter Sprachtechnologie zum Beispiel stellt die Publikumsverlage noch nicht zufrieden.

Wenn Sie mal diesen unerbittlichen Qualitätsanspruch beiseitelassen, werden Sie entdecken, dass Sie Messer mit stumpfen Dingen besser schärfen können als mit scharfen. Man muss auch neuen Technologien gegenüber tolerant sein und ihnen eine Lernkurve zugestehen. Solange die Maschine noch nicht gut genug ist, muss man eben händisch nacharbeiten.

Inwieweit spart der KI-Einsatz Personal? Investieren Sie bald mehr in Technologie als in Menschen?

Nein. Wir planen keinen Personalabbau. Ich fände es aber schön, wenn wir Überstunden abbauen und den Menschen helfen könnten, statt Routinearbeiten Interessantes zu tun. Die schwache KI, die wir einsetzen, führt nicht zum Abbau, sondern zur Anreicherung mit gefühltem Sinn.

Die Fragen stellte Michael Lemster, lemster@buchreport.de

buchreport.spezial Management & Produktion

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im buchreport.spezial Management & Produktion 2020.

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