Sie glauben, Sie sind kein Start-up, weil Ihr Unternehmen 200, 300, 400 Jahre alt ist? Sie täuschen sich. Denn die Wahrheiten von gestern haben ihre Tragfähigkeit verloren. Auf dem dünnen Eis volatiler Märkte hilft es, schnell zu sein, um nicht einzubrechen. Im IT-Channel von buchreport.de erklärt Valentin Nowotny, was Unternehmen beschleunigt.
Wenn Sie die Terra incognita erobern müssen
Dort, wo Design Thinking endet, beginnt das Lean-Start-up. Als Jungunternehmer oder als Innovationsverantwortlicher im Großkonzern, die Lean-Start-up Prinzipien gelten überall dort, wo neue Produktideen in neuen und alten Märkten erfolgreich eingeführt werden sollen. Für Eric Ries, Autor des wegweisenden und empfehlenswerten Buches „The Lean Startup“ (2011), ist jede Aktivität, die vor einem realen Test im Markt liegt, überflüssig, da im Rückblick reine Ressourcenverschwendung. Der Lean-Start-up- Ansatz zäumt das Pferd von hinten auf. Nur das, was ein real existierender Kunde faktisch wirklich kauft, hat das Potenzial, ein erfolgreiches Produkt zu werden. Und nicht das, von dem ein Marktforscher behauptet, es hätte das Potenzial …
Wozu benötigen Sie den Lean-Start-up-Ansatz?
In seiner eigenen Karriere als Unternehmer hat Eric Ries sich selbst und andere immer wieder beobachtet und festgestellt, dass Menschen dazu tendieren, immer wieder unglaublich viel Energie in Konzepte zu stecken, die am Ende keiner brauchen kann beziehungsweise kaufen wird. Psychologisch könnten wir von dem Prinzip Selbsttäuschung sprechen!
Und wenn Sie jetzt sagen: Wir sind ja gar kein Start-up, das Kapitel hat also gar nichts mir zu tun!, dann sage ich Ihnen: Doch, genau dann sollten Sie hier weiterlesen. Denn Eric Ries, der Erfinder dieses Konzepts, sagt, gerade etablierte Unternehmen unterlägen oft dem Trugschluss, dass die Wachstumstreiber der Vergangenheit sich eins zu eins auf die Zukunft anwenden ließen. Oder glauben, dass sie an einer durchschlagenden Sache dran seien: Geheimhaltung, Perfektionismus und technische Verspieltheit führen dazu, dass die Idee dann viel zu spät im Markt getestet wird.
Nach Eric Ries geht es vor allem darum, schnell von den eigenen Kunden zu lernen, nicht nur zu erkennen, was angesagt ist und was vielleicht gar nicht mehr ankommt. Auch fordert „The Lean Startup“ geradezu, das Produkt permanent mit neuen Kundenideen weiterzuentwickeln. Ihr Produkt fliegt gewissermaßen, weil es in der Luft immer wieder mit neuem Treibstoff versorgt wird.
Eric Ries hat sich sehr intensiv mit Toyota beschäftigt und ist dabei immer wieder auf dem Begriff „genchi genbutsu“ gestoßen, und zwar nicht nur in der Produktion, sondern auch im Vertrieb, in der Logistik, im Marketing oder in der Produktentwicklung. „Geh und sieh selbst“. Im übertragenen Sinne bedeutet das, jederzeit willens und in der Lage zu sein, den Schreibtisch zu verlassen und sich die Dinge selbst vor Ort anzuschauen und nicht etwa irgendwelchen Berichten zu vertrauen oder sich auf eine andere Weise etwas vorzumachen oder vormachen zu lassen.
Als Toyota in den Sechzigerjahren den US-Markt mit neuen Kleinwagen erobern wollte, setzt sich der japanische Chefingenieur in einen ersten Prototyp und fuhr mit ihm von der US-amerikanischen Ostküste bis nach Kalifornien an der Westküste und kam bei jedem Stopp mit unzähligen Interessenten ins Gespräch und sog gewissermaßen alles auf, was dann wieder für weitere Produktverbesserungen eingesetzt werden konnte.
Das war sicherlich eine gute Idee, Lean-Start-up geht jedoch noch einen Schritt weiter. Hätten die Japaner dieses Konzept hier umgesetzt, dann hätten sie einen tatsächlichen Käufer ausfindig gemacht, ihm das Auto verkauft, gleichzeitig eine gute Beziehung aufgebaut und den Käufer dann für die nächste Zeit begleitet, bei seinen alltäglichen Verrichtungen unterstützt und wären mit im immer wieder auf die Besonderheiten und Details des Produktes zu sprechen gekommen.
Concierge-Service nennt das Eric Ries. Finde einen ersten zahlenden Kunden für dein Produkt und dann besuche ihn regelmäßig, bringe ein paar Blumen mit und schaue dir an, was dein Kunde mit dem Produkt so alles anstellt. Wie er oder sie es wirklich nutzt. Und welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten es gibt.
Nur nicht in die Perfektionsfalle tappen!
Die größte Gefahr besteht nach Eric Ries in der Perfektion. Die Technik so lange zu perfektionieren, bis man sie nach Jahren irgendwann einmal an die Kunden heranführt, führt nach Ries direkt und unmittelbar in den dunklen Abgrund der Selbsttäuschung.
Selbst Apple, durchaus für Perfektion bekannt, hat sich erlaubt, eine von den Funktionen und der Laufgeschwindigkeit her keineswegs perfekte Apple Watch auf den Markt zu bringen. Mit einem neuen Betriebssystem und entsprechenden Software-Updates wurde nachgesteuert und die Kunden waren trotzdem hochzufrieden!
In der Kognitionspsychologie wurde der sogenannte Confirmation Bias (deutsch Bestätigungsfehler) intensiv untersucht und beschrieben. Dies ist die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Da Sie Ihre Idee schützen möchten, werden Sie andere Sichtweisen automatisch ausblenden. Damit kann sich die Idee jedoch nicht weiterentwickeln, ein spätes Scheitern scheint vorprogrammiert.
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Eine alte hanseatische Kaufmannsweisheit lautet „Die Hoffnung ist des Kaufmanns Tod!“ Ein eindringlicher Spruch, macht er doch deutlich, dass falsche Entscheidungen und überholte Strategien schnell korrigiert werden müssen, auch wenn dadurch Verluste gemacht werden. Die Alternative wäre, zu warten, und damit einen Totalverlust, geschäftlich gesehen eine Insolvenz, zu erleiden.
Bernd Klumpp, der im Innovationsbereich der Deutschen Telekom mit rund zweitausend Mitarbeitern agile Teams und agile Methoden eingeführt hat, sagt: „Wir hatten damals den Eindruck, dass neben Scrum und Kanban ein weiteres Element bei unseren agilen Ansätzen für die Validierung von Produkten oder Produktfeatures fehlt und haben daher den Lean-Start-up-Ansatz hinzugenommen. Das hat uns viel Geld und Misserfolge erspart.“
MVP – Minimum Viable Product
Das wahrscheinlich wichtigste Grundkonzept des Lean-Start-up ist das Minimum Viable Product (MVP). Wörtlich übersetzt handelt es sich bei dem MVP um ein „minimales lebensfähiges Produkt“.
Das MVP eines Kleinwagens wäre also etwas, das aus eigener Kraft fahren kann, vermutlich vier Räder hat und Menschen trocken von A nach B bringen kann, egal wie sicher, egal in welcher Optik, egal wie genau konstruiert. Allerdings schon mit den differenzierenden Merkmalen kleine Abmessung und geringer Verbrauch ausgestattet.
Die Herausforderung ist, die Schnittmenge eines Minimalproduktes und eines lebensfähigen Produktes zu finden. Die Frage ist also: Was ist minimal funktionsfähig, aber damit trotzdem schon brauchbar? Somit geht es um einen Funktionsumfang, bei dem bereits ein echtes Nutzerproblem gelöst wird, andererseits sollte es auf einfachem Wege erstellt, gebaut oder gefertigt sein, um nicht zu viele Ressourcen zu verschwenden.
Eric Ries geht es mit dem MVP vor allen darum, eine Nutzen-Hypothese wirksam zu validieren. Denn hier ist der Punkt, wo es oft zu einer Verleugnung der Realität und damit zu Selbsttäuschungen kommt. Der amerikanische Evolutionsbiologe Robert Trivers sagt: „Wer sich außerhalb der Realität bewegt, spielt ein gefährliches Spiel.“ (Kullmann 2013)
In besonderer Weise trifft dies zu für übermäßiges Selbstvertrauen in Verbindung mit mangelndem Gefahrenbewusstsein. Trivers erklärt das am Beispiel eines Flugzeugabsturzes:
Im Jahr 1982 zum Beispiel krachte eine Maschine von Air Florida kurz nach dem Start in Washington, D. C., in eine Brücke über dem Fluss Potomac. Vierundsiebzig Menschen kamen ums Leben. Vor dem Start hatte der Co-Pilot das Enteisen der Tragflächen als unzureichend bezeichnet, der Pilot tat die Bemerkung ab. Als nach dem Start Instrumente verrückt spielten, warnte der Co-Pilot erneut. Der Pilot beschwichtigte. Wenig später stürzte die Maschine ab (Kullmann 2013).
Der nächste Schritt in der Vorgehenslogik des Lean Start-up ist dann ein echtes Produkt, welches man zunächst einem kleinen Kreis an Nutzern oder Early Adoptern zur Verfügung stellt und welches schon einen ersten Cash-Flow generiert. Eric Ries sieht hier eine Chance für Start-ups, sich von externen Finanzierungen ein Stück weit unabhängiger zu machen.
Und auch für den Mittelstand und sogar Großunternehmen ist dieser Ansatz attraktiv, verspricht er doch, weit weniger Cash in Anspruch zu nehmen als im klassischen Produkt-Entwicklungsprozess. Diese Vorgehensweise ist auch psychologisch gesund, da mit dem Lean-Start-up faktisch ein sehr viel geringeres Risiko eines finalen Scheiterns entsteht. Und Ängste, zum Beispiel vor dem eigenen Versagen, sind ja oft nichts anderes als geistig vorweggenommene Manifestationen realer Risiken.
Probleme, Befürchtungen und Ängste beim MVP
Häufig gibt es Befürchtungen, dass das Produkt noch zu viele Fehler enthält und negative Auswirkungen für die Marke oder das Image des Unternehmens zu befürchten seien. Verbreitete Ängste bestehen auch in der Hinsicht, dass das noch unfertige Produkt nicht wieder genutzt wird, und zuweilen gibt es auch die Befürchtung, dass Wettbewerber zu früh Wind bekommen könnten.
Grundsätzlich gilt: Keine unbenutzbaren Produkte in den Markt geben! Die Nutzbarkeit ist eine notwendige Bedingung für ein MVP. Die Angst, alle Kunden ein für alle Mal zu verschrecken, ist dann nicht wirklich relevant, wenn man das Produkt nicht allen Nutzern aushändigt, sondern es nur auf einen limitierten Kreis von Early Adoptern beschränkt.
Diese sind aufgrund ihrer grundsätzlichen Begeisterung gegenüber neuen Technologien und neuen Konzepten in der Regel deutlich fehlertoleranter, wenn sie einen zusätzlichen Nutzen erkennen können. Die zentrale Frage ist und bleibt: Können sie diesen Nutzen wirklich sehen? Genau um diese Art der Konzept-Validierung geht es Eric Ries.
Menschen halten zu lange an schlechten Ideen fest
Gründer und Produktmanager haben häufig vielen Ideen; die wenigen, die dann konkretisiert werden, werden häufig wie eigene Babys gehegt und gepflegt und es sind große Erwartungen damit verknüpft. Und den meisten Menschen fällt es schwer, ein Produkt auf den Markt loszulassen, welches aus ihrer Sicht noch nicht fertig oder eben nur minimal ist. Das ist menschlich und lässt sich auch als ein Klammern am Status quo umschreiben. Alles in allem halten die meisten Menschen offenbar viel zu lang an schlechten Ideen fest.
Viele Menschen rechtfertigen ein bestehendes System, sogar wenn eigentlich ersichtlich ist, dass es zum Scheitern verurteilt ist. Der psychologische Mechanismus hierbei: Je stärker uns die Vorgaben eines Systems selbst betreffen, desto weniger neigen wir dazu, uns hiergegen zu stemmen.
Eine Studie der beiden US-Forscher Kay und Friesen von der Duke University und der University of Waterloo kommt zu dem Schluss, dass der Mensch in vier Fällen in besonderer Weise dazu neigt, bestehende Systeme zu unterstützen, anstatt sich für eine Veränderung einzusetzen. Erstens: Wenn das System bedroht ist, zweiten: Wenn man selbst davon abhängig ist, drittens: Wenn man aus dem System nicht ausbrechen kann und viertens: Wenn man selbst nur einen geringen Einfluss ausüben kann (Kay/Friesen: 2011).
Zumindest die Punkte 1 bis 3 sind in den allermeisten Kontexten einer Inhouse-Produktentwicklung gegeben. Ein Umdenken aus eigenem Antrieb erscheint also eher unwahrscheinlich.
Das Konzept des MVP ist in der Lage, aus realen Experimenten reale Schlüsse zu ziehen und eine Weiterentwicklung anzustoßen. Es ist aber gleichzeitig auch in der Lage, einer schlicht gefährlichen Traumtänzerei den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ein zu spätes Veröffentlichen eines Produktes birgt das größte Risiko: Sicher auch, dass ein Produkt auf den Markt geworfen wird, das keiner braucht! Aber vor allem, dass jahrelange Arbeit sich als überflüssig erweist …
Der Pivot – es lebe der Pivot!
Nein, der Pivot ist keine neue Vogelart, von der Sie vielleicht noch nichts gehört haben. Es ist ein zugegebenermaßen recht seltenes englisches Wort, das sich hier am besten mit „Drehpunkt“ übersetzen lässt. Ähnlich einer Wende (oder Halse) beim Segeln ist hier die Frage: Wann ist es Zeit, die Richtung zu wechseln?
Untersuchungen zeigen, dass circa 90% aller erfolgreichen Start-ups ihr Geschäftsmodell im Laufe ihrer Entwicklung geändert haben. Facebook hieß zum Beispiel einmal The Facebook und war eine Art Dating-Plattform für die Kommilitonen an amerikanischen Hochschulen.
Das gilt in ganz ähnlicher Form auch für die Neuentwicklung von Produkten. Oftmals ist es jedoch auch einfach eine Frage der Formulierung, die psychologisch einen Riesenunterschied macht: Sprechen wir von Scheitern oder von einem notwendigen Richtungswechsel?
Beim Segeln würde auch niemand auf die Idee kommen, bei einem Hindernis von Scheitern zu sprechen. Nein, hier liegt auf der Hand, was zu tun ist: Klarmachen zur Wende!, und das immer wieder. Nur so, und nicht durch Abwarten, bis sich vielleicht der Wind gedreht hat, lässt sich Strecke machen, wie jeder Hobby-Segler weiß.
Disneyland – ein Riesen-Pivot!
Auch Walt Disney hat nach Jahrzehnten des Erfolgs mit Trickfilmen noch einmal sein gesamtes Vermögen investiert, um auch das Disneyland als damals neuartigen Freizeitpark im Jahre 1955 in Kalifornien Wirklichkeit werden zu lassen. Ein ganz schön großer Pivot!
Diese Richtungswechsel, die Pivots (oder auch Pivotisierungen, wie wir im Deutschen etwas umständlich sagen), können sich im Geschäftlichen sowohl auf das Ertragsmodell als auch auf die eingesetzte Technologie beziehen (Blank/Dorf 2014). Die Frage bleibt jedoch immer die selbe: Wo ist der Markt und für was genau will der Endkunde tatsächlich Geld ausgeben? Und bin ich in der Lage meinen ursprünglichen Plan zu ändern, um Erfolg zu haben?
Das Lean-Start-up-Konzept ermutigt dazu, sich nicht in ideologischen Grabenkämpfen zu üben, sondern einfach alles, was an Annahmen gemacht wurde, auf einen ganz realen Prüfstand zu stellen, Dinge einfach auszutesten und dann die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ein Trost für alle, denen das schwerfällt, ergibt sich aus dem folgenden Spruch, der mich vor kurzen aus einem Ständer mit Ansichtskarten anlachte: „Wenn Plan A nicht funktioniert – keine Panik, das Alphabet hat noch fünfundzwanzig andere Buchstaben.“ Mindestens.
Business Modell Canvas – ein visuelles Geschäftsmodell
Ein Business Modell Canvas (kurz BMC) ist wörtlich übersetzt eine „Geschäftsmodell-Leinwand“, die jederzeit aufzeigt, wie das gesamte Unternehmen im Großen und Ganzen funktioniert. Ein BMC ist wird typischerweise als quergelegtes großes Blatt Papier mit neun standardisierten Bestandteilen angelegt, in dem das gesamte Geschäftsmodell mit einem Blick erfassbar wird (Osterwalder/Pigneur: 2011).
Wenn Sie mit einem BMC arbeiten, werden Sie immer wieder den folgenden Fragenkatalog abarbeiten:
- Kundensegmente: Wer profitiert von unserem Produkt/unserer Dienstleistung? Welche Kunden sind für uns besonders wichtig? Welche Bedürfnisse, Merkmale und Verhaltensweisen haben sie?
- Wertangebote: Welchen Nutzen/Wert bietet unser Angebot dem Kunden? Für welches Problem wollen die Kunden eine Lösung haben? Welche Kundenbedürfnisse möchten wir erfüllen? Welche Kombination von Produkten und Services bieten wir an?
- Kundenkanäle: Wie erfahren die Kunden von unserem Angebot? Über welche Kanäle erreichen wir die Kunden am besten? Wie gelangt unser Angebot zum Kunden?
- Kundenbeziehungen: Welche Art von Beziehung pflegen wir zu den Zielgruppen? Möchten wir eine langfristige oder einmalige Beziehung? Mit welchen Maßnahmen gewinnen wir Neukunden? Wie stärken wir die Beziehung zu den Bestandskunden?
- Einnahmequellen: Für welchen Nutzen sind unsere Kunden bereit zu zahlen? Und wie viel Geld? Gibt es vergleichbare Produkte oder Dienstleistungen? Mit welchen Einnahmequellen? Wie viel trägt jede Umsatzquelle zum Gesamtumsatz bei?
- Schlüsselressourcen: Welche Schlüsselressourcen brauchen wir, um den Kundennutzen zu erfüllen? Welche physischen Ressourcen benötigen wir? Welche persönlichen Ressourcen? Welche finanziellen Ressourcen?
- Schlüsselaktivitäten: Welche Aktivitäten müssen wir durchführen, um den Kundennutzen zu erfüllen? Welche Aktivitäten sind für die Vertriebskanäle notwendig? Welche für die Kundenbeziehungen?
- Schlüsselpartner: Wer sind unsere Schlüsselpartner? Wer unsere wichtigsten Lieferanten? Bei welchen Schlüsselressourcen/Schlüsselaktivitäten sind wir von Dritten abhängig?
- Kostenstruktur: Was sind die größten und wichtigsten Kostenfaktoren unseres gegenwärtigen Geschäftsmodells? Welche Schlüsselressourcen/ Schlüsselaktivitäten sind die teuersten? Welches sind die wichtigsten Ausgaben, ohne die unser Geschäftsmodell nicht funktioniert?
Psychologisch geschickt wird beim BMC übrigens auch wieder mit der berühmten Formel aus der Lernpsychologie „7 +/–2“ gearbeitet. Die Idee des Business Modell Canvas (BMC) ist, dass Sie jederzeit in Ihrer Geschäftsmodell-Leinwand neue Erkenntnisse sichtbar machen können und die Auswirkungen direkt vor Augen haben.
Genauso wie es für einen Autor durchaus einen Unterschied macht, ob er sehen kann, wie sein künftiger Text in etwa gesetzt sein wird (WYSIWYG), sollte zum Beispiel jedes neue Experiment mit einem MVP (siehe oben) in seiner Bedeutung auch visuell erfassbar sein. Wenn zum Beispiel die Kunden bereit sind, beispielsweise für Mülltüten mit Zitrusduft 20% mehr zu zahlen, dann lässt sich die Marge anpassen (Punkt 5) und gleichzeitig weitere Promotionsaktivitäten einplanen (Punkt 6).
Jedes Business Modell Canvas ist visuell aufgebaut wie eine Waage: Links der Input inklusive der Kostenseite und rechts der Output inklusive der Erlöse. Unser Bewusstsein analysiert und vergleicht, auch optisch. Den Besonderheiten unserer Psyche ist es zu verdanken, dass wir unsere alltäglichen Wahrnehmungen in Einzelheiten zerlegen und permanent Vergleiche anstellen und Bewertungen vornehmen. Sie sagen ja zu dem Einen und nein zu dem vermeintlichen Gegenstück. Und dennoch gehören das Ja und das Nein zusammen, denn nur gemeinsam bilden sie ein Ganzes, hier ein in sich ausbalanciertes Geschäftsmodell.
So richtig agil wird die Arbeit mit dem Business Modell Canvas, wenn Teams sich auf die Reise begeben und zusammen ihr BMC entwickeln und zur Reife bringen. Dies kann zum Beispiel geschehen, indem andere Teams einen Blick darauf werfen und ihre Erfahrungen einbringen. Das sollte dann auch nicht auf dem Rechner passieren, sondern idealerweise auf großen physischen Postern, in denen lediglich die neungliedrige Grundstruktur des Business Modell Canvas optisch vorgegeben ist, alle Inhalte jedoch mit Hilfe von Post-its oder ähnlichem flexibel belegt und auch jederzeit wieder verändert werden können.
Eine schöne Beschreibung der Grundkomponenten des BMC am Beispiel Facebook sowie eine Vorlage für das BMC-Poster findet sich bei Schweizer (2015). Einen Link-Hinweis hierzu finden Sie hier.
Denk- und Psychofallen bei Lean-Start-ups
Für viele Menschen ist Perfektion durchaus erstrebenswert, Perfektionismus hingegen nicht. Aus dem Blickwinkel des Lean-Start-up ist der oftmals positiv aufgeladene Perfektionsanspruch in sich jedoch auch schon eine Falle.
Psychofalle # 1: »Perfekt muss es schon sein, sonst kommt das nicht infrage!«
Die Perfektionismus-Falle gehört zu den größten Psychofallen überhaupt. Was tun, wenn man Perfektionist ist? Wenn man alles richtig machen will und dabei sehr ehrgeizig ist? Wenn nichts gut genug ist, nichts schnell genug ist? Dann sollten Sie lernen zu fokussieren, zum Beispiel auf das, was wirklich zählt. Oder auf das, was Ihren Ansatz von allen anderen unterscheidet. Einer Idee folgen und es aushalten, dass nicht alles zu Beginn perfekt ist. Einen ersten Wurf machen und einfach genau hinschauen, was König Kunde daraus macht. Früher undenkbar, bei Lean-Start-up zwingend.
Typische Verhinderungsgedanken sind: „Unser Kunde verzeiht es uns nicht!“, „Wir ruinieren unsere Marke!“, „Wenn wir so antreten, dann können wir gleich abtreten.“ Zudem geht die Abteilung Qualitätssicherung in der Regel davon aus, dass das Endprodukt stets einwandfrei zu sein hat. Das verstellt jedoch zuweilen den Blick auf die wirklichen Erfolgstreiber. Ein Buch sollte orthografisch und inhaltlich fehlerfrei sein, klar. Aber würden Sie ein Buch nur deswegen kaufen, weil es fehlerfrei ist? Kaum.
Welche Merkmale braucht ein Produkt dann, damit ein Kunde es kauft? Ist es die die Qualität? Sicherlich, Qualität muss in einem angemessenen Maß gegeben sein. Man kann hier unterscheiden zwischen äußerer (vom Anwender wahrnehmbar) und innerer (vom Entwickler oder Produzent wahrnehmbar) Qualität unterschieden. Die äußere Qualität sieht der Kunde in der Regel direkt.
Die innere Qualität von Produkten wird im Lebensmittelbereich durch Bio-Zertifizierungen und Fairtrade-Konzepte zu einem durchaus kaufrelevanten Merkmal. Das Produkt selbst mag sich nicht immer sichtbar unterscheiden, Sie als Konsument wissen jedoch etwas über die innere Qualität des Produktes und richten Ihr Kaufverhalten entsprechend aus.
Gute Beta-Tester sind heute ein Erfolgsfaktor
Qualitativ hochwertig kann jedoch auch der Prozess sein, mit dem ich zum Beispiel zusammen mit interessierten und qualifizierten Anwendern zu einem wirklich spannenden und innovativen neuen Produkt gelange und es so lange verbessere, bis es auch in der Breite überzeugt. So wird die Zahl der Beta-Tester immer größer und immer mehr etablierte Unternehmen greifen die kritischen und konstruktiven Tipps und Hinweise ihrer Fangemeinde auf.
Dabei agieren gute Beta-Tester eher im Hintergrund. Sie kritisieren nicht öffentlich, sondern erzählen den Produktentwicklern auf professionelle und objektive Art und Weise, was an einem Produkt funktioniert und was nicht. Die Schar der freiwilligen Beta-Tester sind die Testpiloten des 21. Jahrhunderts, und die IT-Branche wäre ohne Beta-Tester nicht da, wo sie heute ist. Die drei großen IT-Riesen Apple, die Google-Mutter Alphabet und Microsoft waren am 30. Dezember 2015 mehr wert als alle DAX-Unternehmen zusammen!
Oft kaufen Kunden eine Idee, die Details kommen dann später. Dieser Gedanke ist nicht neu: Boeing baute die 747 (Jumbo) auch nur deswegen, weil der PanAm-CEO Juan Trippe seinerzeit zusicherte, das Flugzeug in größeren Stückzahlen abzunehmen, und zwar unabhängig davon, wie einzelne Details ausgestaltet sein würden („If you build it, I‘ll buy it.“). Alles Weitere ist Geschichte. Hätte man mit den Details angefangen, wäre das über viele Jahrzehnte größte Passagierflugzeug der Welt niemals gebaut worden!
Fazit: Ohne 200% Perfektion geht’s auch. Oft sogar schneller und schlanker, als wenn das i-Tüpfelchen schon von Beginn an vorhanden gewesen wäre!
Psychofalle # 2: »Klar verändern wir uns, falls es denn erforderlich sein sollte …«
Es liegt nicht an groß oder klein: Selbst Eric Ries, der Erfinder des Lean-Start-up-Konzepts, erzählt immer wieder gerne, dass er selbst drei Jahre an einer technisch genialen, aber für die Nutzer uninteressanten Variante eines Produkts festgehalten hat, bevor er und sein Team erkannt hatten, dass sie einem radikal anderen Ansatz folgen mussten, um erfolgreich zu sein.
2008 machte der bekannte Drogeriemarkt Schlecker europaweit mit mehr als vierzehntausend Filialen und circa 50.000 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von über 7 Mrd Euro. Der Aufstieg von Schlecker zur größten Drogeriemarktkette Europas konnte damals als Erfolgsgeschichte im europäischen Einzelhandel bezeichnet werden. Anton Schlecker, der Patriarch und ehemalige Metzgermeister, welcher die Drogeriekette Schlecker groß gemacht hatte, verfügte im Jahr 2011 über ein stattliches Vermögen von circa 1,95 Mrd Euro, wie das manager magazin im Oktober 2011 vermeldete.
Im Januar 2012 meldete Schlecker dann Insolvenz an. Zwar hatten seine beiden Kinder Lars und Meike Schlecker, welche sich anschickten, die Geschicke des Unternehmens zu übernehmen, im Januar 2011 ein durchaus überzeugendes Zukunfts- und Investitionsprogramm „Fit for Future“ zur Modernisierung der Outlets vorgelegt. Auch erste Pilotversuche waren bereits erfolgreich angestoßen worden.
Anton Schlecker jedoch hielt stur und viel zu lang daran fest, keine der fast fünfzehntausend Filialen zu schließen, hatte er sie doch mehr oder minder selbst aufgebaut. Der negative Cash-Flow-Beitrag aller unrentablen Shops zog dann das komplette Unternehmen sintflutartig in den Abgrund. Das Umdenken kam einfach zu spät und begrub die guten neuen Ideen unter sich …
Das Not-Invented-Here-Syndrom schlägt zu
Es ist also mal wieder die Psychologie, die hier eine entscheidende Rolle spielte. Genauso wie das, was man nicht selbst erfunden hat, nicht für wertvoll erachtet wird, ist vieles von dem, was über Jahre und Jahrzehnte im eigenen Haus praktiziert wird, heilig. Das Not-Invented-Here-Syndrom hat mal wieder zugeschlagen: „Ich habe mir das neue Konzept nicht ausgedacht, daher ist es auch nichts wert!“
In einer solchen Situation bedarf es in der Regel schon einer stärkeren Überzeugungsarbeit oder Reflexionsanstrengung, um liebgewonnene Überzeugungen und Gewohnheiten über Bord zu werfen. Wer trotz veränderter Lage und guten Idee neue Konzepten abschmettert, darf sich nicht wundern, wenn die Welt über ihm zusammenbricht!
Fazit: Menschen gehen oft den einfachen Weg und halten an ihren alten Ideen und Idealen fest, selbst wenn sie vordergründig Veränderungsbereitschaft signalisieren. Wenn Hypothesen nicht über Fakten validiert und die neuen Erkenntnisse dann nicht miteinander aufgearbeitet und diskutiert werden, dann passiert in aller Regel schlicht und einfach nichts!
Psychofalle # 3: »Wir passen unseren Kurs natürlich jederzeit an relevante Veränderungen an!«
Es gibt bei Menschen den Wunsch, Dinge abschließen zu wollen. In der Psychologie ist dies unter dem Begriff „Zeigarnik-Effekt“ bekannt geworden. Der von der russischen Psychologin Bluma Zeigarnik beschriebene Effekt besagt, dass unerledigte Handlungen besser in der Erinnerung des Menschen gespeichert werden als erledigte. Der Legende nach stand am Anfang die Beobachtung, dass der Kellner eines Lokals komplizierte Bestellungen ohne schriftliche Hilfsmittel erledigen konnte, sich nach ihrer Erledigung aber an keine Einzelheiten mehr erinnerte (Franke/Kühlmann 1990: 180).
Fazit: Der Wunsch, Dinge abschließen zu wollen, ist manchmal übermächtig. Deswegen sind Kursänderungen nicht zu jeder Zeit möglich (und beim Segeln sogar gefährlich!). Allerdings sollte es immer aussagekräftige Daten und konkrete Anlässe geben, an denen der Kurs gemeinsam überdacht und vielleicht auch neu festgelegt werden kann.
Psychofalle # 4: »Das Geschäftsmodell müssen wir nicht täglich vor Augen haben, wir sind doch erfolgreich!«
Der Erfolg von heute hat mit dem Erfolg von gestern nicht notwendigerweise etwas zu tun. In Deutschland werden sich viele noch an die großen Marken wie zum Beispiel Quelle („Erst mal seh’n, was Quelle hat“) erinnern. Die Quelle AG hatte 1977 einen Umsatz von gut 7 Mrd D-Mark und mehr als 43.000 Mitarbeitende. Mit rund 25 Mio Paketen pro Jahr war Quelle dann im Jahr 1997 der größte Kunde der inzwischen privatisierten deutschen Post. Am 20. Oktober 2009 gab der Insolvenzverwalter das Aus für Quelle bekannt (Bräunlein 2015: 87).
Was war passiert? Quelle hatte als „größter Katalogversender Deutschlands“ nicht auf die veränderten Mediennutzungsgewohnheiten der Deutschen reagiert. Sie hatten stattdessen die Erfolgsformel der Sammelbesteller, der Quelle-Shops sowie der Quelle-Technik-Center unverändert bewahren wollen. Der unbedingte Schutz des Bestehenden hatte seinen Preis: Quelle hat so schlicht und ergreifend die Zukunft verpasst.
Hätten die Quelle-Manager ihr katalogbasiertes Geschäftsmodell zum Beispiel in einem Business Modell Canvas (siehe oben) abgebildet und so unmittelbar vor Augen gehabt, dann wäre ihnen sicher schon sehr viel früher aufgefallen, dass sich mit den Kundenkanälen in Richtung E-Commerce auch die Art der Kundenbeziehung ändert und dass dies dramatische Auswirkung auf die Erlösseite hat. Daraus hätte sich die dringende Notwendigkeit ergeben, neue Schlüsselkunden zu identifizieren, daran die Schlüsselressourcen neu auszurichten und alle Schlüsselaktivitäten komplett neu zu orchestrieren.
Fazit
Die Veränderungen und Erschütterungen sind dramatischer, als wir es uns vorstellen können. Vieles, was in der Vergangenheit national gedacht worden ist, hat inzwischen internationale Dimensionen, zum Beispiel werden interkulturelle Unterschiede immer wichtiger, im In- und Ausland. Alte Zielgruppen verschwinden, neue erscheinen am Horizont. Veränderungen wie diese sollten jederzeit abbildbar sein, zum Beispiel über das Business Model Canvas. So gelingt es, in einer sich wandelnden Geschäftsumwelt zeitnah die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Mit freundlicher Genehmigung der BusinessVillage GmbH.
Aus Valentin Nowotny Agile Unternehmen – fokussiert, schnell, flexibel. Nur was sich bewegt, kann sich verbessern.
BusinessVillage 2017. 396 Seiten.
Broschiert EUR 29,80. ISBN 978-3-8698-0330-2
E-Book (PDF) EUR 24,80. ISBN 978-3-8698-0331-9
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