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Jeder Leser hat seinen Wallander im Kopf

Nach 17 Millionen verkauften Büchern und Hörbüchern allein in Deutschland schließt Henning Mankell (Foto: Lina Ikse Bergmann) mit dem Roman „Der Feind im Schatten“ (ET: 30. April, Print-Ausgabe von Zsolnay und Hörbuch vom Hörverlag erscheinen gleichzeitig) seine Wallander-Serie ab. Im Interview beschreibt Mankell seine Beziehung zur Krimi-Figur und sucht nach Gründen für die Beliebtheit des Ermittlers.

Wie sind Sie vor über 20 Jahren auf die Figur des Wallander gekommen?
Es ist genau 20 Jahre her. 1989, das Jahr in dem wir sehr deutlich sahen, dass sich in Europa eine Menge tut: der Fall der Berliner Mauer und all das. Ich wollte etwas über die großen Veränderungen, die in Europa im Gange waren, schreiben. Aus diesem Grund habe ich eine Kleinstadt im Süden von Schweden gewählt. Am Anfang hatte ich gar nicht vor, mehr als ein Buch mit Wallander zu schreiben, aber ich erkannte schnell, dass ich mit ihm eine Art Instrument geschaffen hatte, das ich benutzen konnte, um viele Geschichten zu erzählen. Zunächst war mir das alles aber gar nicht so klar. Ich schrieb ein Buch, dann zwei, dann drei, dann vier Bücher und dann erst wurde es eine Reihe.

Dieser Wallander hat Sie jetzt so viele Jahre hinweg begleitet, er ist Ihre berühmteste Figur geworden. Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?
Wir kennen uns sehr lange, das stimmt. Aber wenn ich mir vorstelle, er wäre eine wirkliche Person, also jemand, der jetzt hier bei uns sitzen könnte – ich denke nicht, dass wir Freunde würden. Er hat eine Menge Charakterzüge, die ich so ganz und gar nicht mag. Die Art wie er Frauen behandelt zum Beispiel. Oder wie er mit sich selbst umgeht: Er isst schlecht, er trinkt zuviel, und er interessiert sich für meinen Geschmack zu wenig für Politik.

Aber Sie lieben beide die italienische Oper.
Das ist richtig. Außerdem arbeiten wir beide ziemlich viel. Über ein bisschen könnte man also sprechen.

Sind Sie, wenn Sie schreiben, ein moralisch freier Mensch?
Ja, ich glaube schon. Aber es gibt auch eine Seite, wie immer in der Kunst, die hat eine moralische, eine ethische Dimension. Du schreibst und Du willst irgendwie, dass die Welt dadurch besser wird. Das klingt sehr fantastisch, aber ich denke, dass diese ethische Dimension immer existiert.

Es ist jetzt 10 Jahre her, dass Sie Die Brandmauer geschrieben haben. Damals sagten Sie, dies sei Ihr »letzter« Wallander-Roman. Natürlich fragt sich jetzt jeder, was Sie bewogen hat, doch noch einmal zu ihm zurückzukehren?
Ja, manchmal irrt man sich. Als ich Die Brandmauer beendet hatte, dachte ich wirklich, dass mit Wallander Schluss sei. Und bis vor fünf Jahren war ich auch noch fest davon überzeugt. Aber dann bekam ich plötzlich das Gefühl, dass noch etwas fehlte.

Was denn?
Ich bemerkte, dass es keine Geschichte über Wallander selbst gab. Alle neun Bücher handelten immer nur von ihm im Zusammenhang mit einem Fall. Aber sehen wir doch einmal Wallander selbst als Rätsel: Wer ist dieser Mann eigentlich? Auf diese Frage gab es für mich keine befriedigende Antwort. Also beschloss ich, doch noch ein Buch zu schreiben. Aber diesmal ist es wirklich das letzte.

Wird Kurt Wallander denn im Fernsehen noch ein wenig weiter leben?
Was die schwedischen Serien betrifft, nein. Aber Kenneth Branagh wird noch einige Folgen drehen.

Welcher Film-Kommissar kommt Ihrer eigenen Vorstellung von Wallander am nächsten?
Die beiden schwedischen Darsteller habe ich mit ausgesucht, deswegen bin ich natürlich mit beiden einverstanden. Und Kenneth Branagh ist sowieso brillant. Aber meiner ganz persönlichen Vorstellung von Wallander entspricht keiner von ihnen. Wozu auch? Es ist ihr Wallander, so wie jeder Leser seinen eigenen Wallander im Kopf hat. Da draußen laufen wahrscheinlich Millionen verschiedene Wallanders herum.

Die deutschen Leser lieben ihn besonders, was, glauben Sie, fasziniert die Deutschen so sehr an diesem schwedischen Kommissar?
Ich glaube, aber das trifft auf die Leser in Europa generell zu, es hat damit zu tun, dass er ganz einfach menschlich ist. Wallander ist kein »hardboiled hero«. Er verändert sich, er wird älter. Außerdem ist er in bestimmter Hinsicht sehr durchschnittlich. Nehmen Sie seine Diabetes. Eine Volkskrankheit. Oder können Sie sich James Bond vorstellen, wie er kurz auf die Toilette geht, um sich eine Insulinspritze zu setzen?



Ist es außerhalb Europas anders?
Das war für mich immer die interessantere Frage: Was fasziniert Leser in Vietnam an Wallander? Warum mögen ihn Leute aus Ecuador?



Und?

Ich hoffe, es sind die gleichen Gründe. Dass sie an ihm als Charakter interessiert sind. Aber es gibt sicher auch einen exotischen Aspekt. Ich erinnere mich an eine Mail von einer Übersetzerin, in der sie mich bat, ihr Schnee zu beschreiben. Es war verdammt schwierig. Aber letztlich ist das einer der Gründe, warum wir die Literatur so lieben: Weil sie Menschen aus der ganzen Welt in der Fantasie ein wenig näher zusammen bringt.



Sie sagen, dieser Wallander-Roman ist nun tatsächlich der letzte Fall. Gibt es trotz der vielen Zeit, die Sie mit Ihrer Figur verbracht haben, Eigenschaften, die Sie noch nicht von ihm kennen? Oder ist Wallander für Sie zu hundert Prozent entwickelt?
Nein, ich weiß nicht alles von ihm. Wenn ich Kenneth Branaghs BBC Version von Wallander sehe, dann spüre ich das. So wie Kenneth Branagh das macht, zeigt er mir viele Dinge über Wallander, die ich nicht wusste.
Ich bin mir sicher, dass es viele Aspekte seines Charakters gibt, die ich nicht kenne, denn ich weiß ja schließlich auch nicht alles über mich selbst. Und Sie wissen nicht alles über sich, oder? Es gibt immer Orte, die in einem liegen, die man nicht kennt. Das macht das Leben so spannend. Man kann immer noch Geheimnisse in sich selbst finden. Und ich vermute, das gilt für Wallander ebenso.



Ist es denkbar, dass Sie etwas von Wallander lernen könnten?

Das ist eine gute Frage! Ich habe nie darüber nachgedacht. Gratulation zu dieser Frage, denn das ist wirklich eine neue Frage für mich. Offen gestanden, ich habe keine besonders intelligente Antwort darauf. Aber ich glaube, es muss Situationen gegeben haben, in denen ich überlegt habe, wie er wohl reagieren würde und die mir gezeigt haben: Ja stimmt, auf diese Weise sollte auch ich reagieren. Aber ich bin ehrlich nicht auf diese Frage vorbereitet. Vielen Dank! Nach zwanzig Jahren bekomme ich eine Frage gestellt, auf die ich nicht vorbereitet war!



Bisher haben allein im deutschsprachigen Raum über 20 Millionen die Wallander-Bücher gelesen. Befürchten Sie keine Proteste, wenn Sie jetzt so endgültig Schluss machen?

Ach, nein. Wissen Sie, ich habe so viele andere Bücher geschrieben. Die sind doch auch interessant.

Die Fragen stellte Silja Ukena

Hier ein Video-Auszug aus dem Interview

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