Ist Amazon wirklich so alternativlos wie die Euro-Rettung? Wie aber könnte ein anderer Online-Handel mit Büchern aussehen? Ein radikaler Gegenentwurf: Wir machen so weiter wie bisher. Nur ganz anders.
Im Jahr 1826 wurde Alexis de Tocqueville von der französischen Regierung beauftragt, Strafvollzug und Rechtssystem in Amerika zu untersuchen. In seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ (1835), einem Standardwerk der Sozial- und Politikwissenschaften, gelang Tocqueville nicht nur eine detaillierte Beschreibung eines demokratischen Systems, in dem das Prinzip der Gleichheit für die Konstitution des politischen Zusammenlebens wesentlich ist. Mit etwas Lust am Klischee lassen sich in dem Werk auch die Beschreibung der Algorithmen wiederfinden, die bei Amazon täglich ihren Dienst tun:
„In Zeiten der Gleichheit schenken sich die Menschen wegen ihrer Gleichheit gegenseitig kein Vertrauen, aber dieselbe Gleichheit flößt ihnen ein fast unbegrenztes Vertrauen in das Urteil der Öffentlichkeit ein. Es erscheint ihnen nämlich nicht wahrscheinlich, dass die Wahrheit sich nicht aufseiten der größten Zahl befinde, da sie alle gleich aufgeklärt sind.“
Der Algorithmus, wie ihn Amazon etabliert hat, basiert auf diesem Grundprinzip: Die Wahrheit ist immer aufseiten der größten Zahl, jeder Einkauf, jeder Kommentar, jede Bewertung hat denselben Einfluss auf die Gewichtung des Titels, jegliches Produkt – egal ob aus Traditionshaus oder frisch gegründetem Selfpublishing-Verlag – wird dieselben Grundbedingungen vorfinden. Bei Amazon wird jede Bewertung gleich verarbeitet, ob ein Titel aufgrund des Covers oder aufgrund einer detaillierten fachlichen Auseinandersetzung abgelehnt wird, macht keinen Unterschied. Alle Kunden sind gleich, alle Bücher sind gleich, es gibt keine guten Bücher, nur Bestseller oder Langschwänze (s. Stichwort „Long Tail“, unten).
Tocqueville auf die amazonischen Algorithmen loszulassen, mag waghalsig sein, aber das Beispiel verdeutlicht, dass die Rechenanleitungen, die im Internet die Sichtbarkeit von Nachrichten oder Büchern regulieren, keine neutralen, mathematischen Formeln sind, sondern Interessen widerspiegeln, denen die Betreiber der Portale folgen. In den Algorithmen haben sich gesellschaftliche Strukturen, eine Sicht auf die Welt und eine bestimmte Ansicht von Kultur und bürgerlichem Diskurs niedergeschlagen; Algorithmen beschreiben auch ein Verhältnis zu traditionellen Instanzen, sie definieren die Gewichtung einzelner Produkte (oder Nachrichten) auf der Website.
Amazon: Buchhandel nach Mall-Prinzip
Amazon hat im Internet einen Handel mit Büchern etabliert, der in deutlichem Widerspruch zur westeuropäischen Tradition des Buchhandels steht: Es wird nicht ein ausgewähltes Sortiment für eine ausgewählte Kundengruppe erstellt, sondern im Blick ist: Die ganze Welt. Vergleichbar zu den Einkaufszentren der amerikanischen Vorstädte geht es darum, die Hindernisse zwischen Kunde und Produkt möglichst zu minimieren und die Zugangswege zu glätten.
Die Folgen waren durchaus auch positiv, wurden dadurch doch Kunden erschlossen, die durch die bisherigen Formen des Buchhandels kaum Zugang zu Büchern hatten bzw. wollten. Und auch das Angebot, das der Kundschaft zur Verfügung gestellt werden konnte, hat sich dank des Internethandels erheblich erweitert.
Dass Amazon für zahlreiche kleinere Verlage eine existenzielle Bedeutung hat, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass der traditionelle Handel die Sichtbarkeit der Titel aus jenen Häusern nicht (mehr) gewährleistet. An die Vorzüge von Amazon erinnert sich der traditionelle Handel etwas widerwillig dann, wenn wieder einmal nach einem exotischen Titel beim Feind gesucht wird, den die hauseigene Datenbank beim besten Willen nicht zu finden in der Lage war.
Es fehlen Alternativ-Algorithmen
Problematisch an Amazon ist nicht die Verwendung von Algorithmen – Internet und Internethandel sind nun mal nicht ohne Algorithmen durchführbar. Problematisch ist auch nicht, dass diese Algorithmen ihre Grundlage im amerikanisch-bezosianischen Denken haben könnten. Problematisch sind vielmehr die Marktmacht des Internetgiganten und die fehlenden Alternativ-Algorithmen. Die Vertriebsformen, die sich innerhalb der Buchbranche entwickeln, haben erheblichen Einfluss auf die Buchproduktion, die in diese Kanäle geleitet wird. Es wird das produziert, was auf den Marktplätzen gesehen werden kann.
Stellt sich also die Frage, welche Auswirkungen zu erwarten sind, wenn – wie in zahlreichen Prognosen vermerkt – der Anteil des Online-Handels beim Vertrieb von Büchern auf ca. 50% wachsen wird und die Marktmacht innerhalb des Online-Handels sich in der Tendenz ähnlich entwickelt wie bislang: Ein Großteil der Internetbestellungen wird über Amazon getätigt werden.
Traditioneller Buchhändler ist Aristokrat
Im Sortimentsbuchhandel zeichnet sich ein Buchhändler dadurch aus, dass er die wesentlichen Publikationen zu einem Sachgebiet zusammenstellt und durch seine Möglichkeiten der Präsentation gewichtet. Das Auswählen ist in erster Linie auch ein Weglassen, ein Akt der Konzentration, der mit dem Selbstbewusstsein einer im besten Fall auch einschüchternden Instanz präsentiert wird.
Amazon ist diesbezüglich gänzlich unambitioniert, in weiten Teilen gerät das „Sortiment“ zu einer kruden Auswahl, die den Vergleich mit der Buchauslage eines darniederliegenden MA-Händlers in einem verfallenden Einkaufszentrum nach dem Besuch einer Schulklasse und eines Kegelclubs nicht zu scheuen braucht. Es wird verkauft, was sich verkauft, es wird das präsentiert, was sich in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat.
Eine präzise Einordnung in die richtige Warengruppe ist da nur sekundär. Was Amazon beispielsweise im Bereich Germanistik/Regionen/Schweiz präsentiert, hat mit dem Thema ähnlich viel gemeinsam wie Wilhelm Tell mit Tellerwäschern. Es gibt eben nicht nur Schwarmintelligenz, es gibt auch das Gegenteil davon.
In vielen Bereichen funktioniert die Auswahl wesentlich besser (und in einigen Bereichen auch besser als die Auswahl in weiten Teilen des Sortimentsbuchhandels), aber trotzdem mag sich das Gefühl der Verlässlichkeit nur selten einstellen; die Gründe, die zu der Auswahl und dem Ranking geführt haben, bleiben undurchsichtig, und nicht nur die Berichte über gekaufte und gefälschte Rezensionen führen dazu, dass einen das Misstrauen beim Kaufprozess nur selten verlässt. Die Weigerung von Amazon, selbst Qualitätskriterien für die Präsentation der Ware zu erstellen und zur Anwendung kommen zu lassen, führt dazu, dass zahlreiche Kontextualisierungen, in denen die Titel sich befinden könnten, bei der Präsentation nicht zur Berücksichtigung kommen.
Je erfolgreicher der Internethandel mit Büchern und somit Amazon wird, desto stärker zeigt sich, dass sich eine Lücke auftut, dass Amazon nicht die Informationen liefert, die eine sorgfältige Buchrecherche zu bestimmten Themen benötigt. Wer sich heute etwa über Publikationen zu Recht informieren möchte, der tut dies in Deutschland in der Regel bei Schweitzer, in der Schweiz bei Schulthess und in Österreich bei Manz – nicht bei amazon.de.
Diese Beispiele zeigen auch, dass sich Fachportale, die sorgfältig ein Fachsortiment im Netz präsentieren, durchaus durchsetzen können: Schweitzer ist im jüngsten Buchhandelsranking von buchreport von Platz 4 auf Platz 3 vorgerückt und hat im Gegensatz zur Konkurrenz – trotz sinkender Ladenfläche – steigende Umsatzzahlen vorzuweisen, die wesentlich dem Online-Shop zu verdanken sind.
Handelssoftware mit Lücken
Für einige weitere Bereiche haben sich ebenfalls erfolgreiche Alternativen entwickelt. Zahlreiche Krimifans informieren sich auf krimi-couch.de über die aktuellen Bücher (und gelangen von dort zu Amazon), Anhänger der Graphic Novel landen womöglich zunehmend bei Novel Graph usw. Trotzdem ist zu konstatieren, dass für viele Gebiete Amazon weiterhin die erste Anlaufstation im Netz bleibt. Wer sich über Neuerscheinungen in der Philosophie, über den Reiseführer für die Bretagne, über Lyrik in Westmoldawien informieren möchte, geht zu – Amazon.
Die Alternativlosigkeit zu Amazon ist im Wesentlichen dadurch begründet, dass im Bereich der Handelssoftware kaum Alternativen zum Internetgiganten entwickelt wurden. Die Konkurrenten im allgemeinen Online-Sortiment wie buecher.de, libri.de, buchkatalog, weltbild.de oder buch.de etc. wirken wie koloniale Trabanten. Sie operieren mit denselben Grundprinzipien, mit ähnlichen Algorithmen – sie tun dies nur mit einer wesentlich schlechteren technischen und personellen Ausstattung, mit wesentlich weniger Kundendaten und verlieren aus diesen Gründen konsequenterweise zunehmend Anteile am Online-Handel an Amazon.
Eine Alternative könnte gelingen, wenn die Grundprinzipien des europäischen Sortimentsbuchhandels auf den Online-Handel transferiert würden. Wenn das Sortiment in der Online-Buchhandlung neben der möglichst vollständigen Bereitstellung der relevanten Titel eine subjektive, aber nachvollziehbare Zusammensetzung der Auswahl generiert. Wenn Qualitätskriterien bei der Auswahl spürbar und womöglich sogar nachvollziehbar sind, dann spült das Titel an die Oberfläche, die bei Amazon längst im diffusen Licht des langschwänzigen Restsortiments verkümmern.
Gelingt eine sinnvolle Alternative zu Amazon, wenn man nicht kopiert, sondern genau das Gegenteil macht? Nicht die Masse an Kunden sorgt für das Ranking und somit die Sichtbarkeit der Titel, sondern Experten für ein einzelnes Fachgebiet? Ist es wirklich so, dass Big Data die besseren Ergebnisse zu einem Fachgebiet liefert als der Buchhändler aus Kleinmachnow, der sich in ein Themengebiet verkrallt hat?
Fine Data statt Big Data
Derzeit hat der Buchhändler aus Kleinmachnow kaum die Möglichkeiten, sein Wissen entsprechend ins Netz zu transferieren. Er kann Empfehlungen platzieren, er kann aber seine Kriterien bei der Auswahl seines Sortiments nicht in seinem Online-Shop abbilden. Was wäre dazu notwendig? Einige Beispiele:
- Bei jedem Fachgebiet, das ein Buchhändler betreut, hat er eine relativ klare Vorstellung davon, welche Verlage relevant sind. Würde sich diese Auswahl – die im stationären Sortimentshandel selbstverständlich ist – auch im Online-Shop widerspiegeln, würde dies das Suchergebnis und die Darstellung in der Warengruppe wesentlich beeinflussen und womöglich auch die Suchergebnisse für den Kunden verbessern. Die Lagermengen des vorhandenen Sortiments, die Abverkäufe – oft fließen diese Daten nicht ein in die Platzierung der Bücher im Shop.
- Amazon wählt die Buchempfehlungen im Bereich „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch“ via Algorithmen aus, die weitere erfolgreiche Verkäufe in dieser Warengruppe präsentieren. Manuelle Verknüpfungen durch Buchhändler/Experten würden einen größeren Spielraum, würden alternative und bessere Kontextualisierungen in einzelnen Warengruppen und über diese hinaus ermöglichen. Die Anzahl der getätigten Verknüpfungen pro Titel könnte wiederum dazu verwendet werden, um die Gewichtung der Titel bei der Suchabfrage zu beeinflussen.
- Mediale Ereignisse zum Buch (Rezensionen, Veranstaltungen, Radio- und Fernsehsendungen, Buchpreise etc.) könnten – eventuell im Rahmen des Metadatenprojektes des Börsenvereins – mit dem einzelnen Titel verknüpft werden. Auch hier wäre darauf zu achten, dass die Daten Einfluss auf die Gewichtung bei Suchabfragen haben und in den Shopsystemen entsprechend verarbeitet werden können.
- Die Platzierung von Titeln im Schaufenster, in einem Werbeversand, einem Kunden-Newsletter, einem Facebook-Eintrag, einem Mitarbeiter-Tipp können entsprechend vermerkt werden und somit auch die Gewichtung der Titel im Shop beeinflussen. Solche Daten werden teilweise automatisch beim Bestellprozess im Warenwirtschaftssystem erfasst, haben derzeit aber selten Auswirkungen auf die Relevanz. Titel, die sich als Longseller oder Standardwerke im Sortiment etabliert haben, könnten ebenfalls entsprechend gewichtet werden. Gängige Algorithmen bevorzugen die Neuerscheinungen und forcieren somit auch die Umschlagsgeschwindigkeit. Bislang fließt diese Haltbarkeit einzelner Publikationen nicht angemessen in das Ranking mit ein. Auch hier fehlen oftmals die Möglichkeiten, entsprechend das Ranking zu justieren.
- Anreicherungen wie Leseproben, Inhaltsverzeichnisse, Pressezitate werden vom Online-Händler nicht ohne Grund eingefügt. Einfluss auf die Platzierung des Titels hat eine Überarbeitung der Annotationen jedoch nicht.
Ohne Algorithmen funktioniert Online-Handel nicht, es braucht Algorithmen, um Suchabfragen darzustellen und sinnvoll zu sortieren. Bislang dominieren die Algorithmen, die Quantitäten verarbeiten, es ist die Frage, ob sich Qualitätsmerkmale (subjektive) in die Auswahl einpflegen lassen.
Es gibt nur wenige Anstrengungen, die täglichen und begründeten Handlungen eines Sortimentsbuchhändlers auch auf die Darstellung eines Online-Sortiments zu übertragen. Das war bislang keine Anforderung an die Informatiker und Softwareentwickler, allzu berauscht zeigt man sich noch von den Möglichkeiten der Big Data, allzu scheu näherte sich bislang die Buchbranche der Informatik, nur selten werden Wünsche bei den Softwareentwicklern platziert.
Es braucht jedoch Algorithmen, die nicht nur das Einkaufsverhalten der Masse widerspiegeln, sondern auch solche, denen sinnvolle Kontextualisierungen gelingen und die ureigenen Anforderungen eines Fachgebietes/Genres abbilden.
Horizontaler statt vertikaler Handel
Diese Fehlentwicklung im deutschsprachigen Online-Buchhandel mag damit zu tun haben, dass bislang Online-Handel in erster Linie als virtuelle Verlängerung des stationären Handels angesehen wurde. Der Online-Handel sollte den stationären Handel stützen – und damit wurde verhindert, dass sich ein eigenständiges Profil des Online-Buchhandels herausbilden konnte. Aus diesen Gründen hat sich ein vertikales Modell im Online-Buchhandel etablieren können: Das komplette Arsenal an Warengruppen wird möglichst umfassend in den Shop eingebunden – Biografien, Kochbücher, Reiseführer, Fachbücher, Romane. Als virtuelle Ergänzung zum Sortimentshandel mag das Sinn machen, kann aber nur als schlechte Alternative zu Amazon wahrgenommen werden.
Um als Alternative zu Amazon wahrgenommen werden zu können, braucht es eine horizontale Ausrichtung des Online-Buchhandels: Die Konzentration auf ein Gebiet, das detailversessen ausgestaltet wird, das feinste Verästelungen und Verbindungen baut, das eigenwillige und passende Präsentationsformen für die Produkte entwickelt, das Zusammenhänge, in denen die Bücher stehen, nachvollziehbar macht.
Es braucht Algorithmen, die sich an die Anforderungen des jeweiligen Sachgebietes anschmiegen. So könnten sich für die unterschiedlichen Bereiche der Wissens- und Buchproduktion unterschiedliche Methoden der Aufbereitung von Katalogen ergeben. Es müssten sich unterschiedliche Arten der Visualisierungen von Kontexten entwickeln, unterschiedliche Anforderungen an die virtuelle Produktpräsentation.
Ein Portal, das etwa die relevanten Publikationen einer geisteswissenschaftlichen Disziplin parathält, wird mit anderen Elementen durchsetzt sein als ein Reiseportal, das die Publikationen zum gewünschten Urlaubsziel bereithält. Ein Buchportal, das sich an den spezifischen Bedürfnissen seiner Kundengruppe ausrichtet, wird auch die entsprechende Anziehungskraft entwickeln.
Es gibt derzeit zahlreiche Methoden, um Sichtbarkeit für Produkte im Netz zu erzeugen: Von den Algorithmen über Social Media bis hin zu den Buchcommunitys wie Lovelybooks, Goodreads oder Librarything. Diese haben für zahlreiche Bereiche der Buchproduktion tatsächlich sinnvolle Prozesse der Sortimentspräsentation entwickelt, für zahlreiche Bereiche haben sie den Nachweis aber noch nicht erbracht.
Je erfolgreicher Amazon wird, je stärker sich die Buchkäufer dem Internet zuwenden, desto stärker wird das Bedürfnis nach Alternativen, nach einer Vielfalt, die in der Lage ist, den spezifischen Formen eines Sortiments Ausdruck zu verleihen. Es geht nicht darum, das Prinzip Amazon zu ersetzen, sondern darum, es mit der Vielfalt eines europäischen Onlinehandels zu erweitern.
Glossar
- „Long Tail“: Theorie, die auf den Arbeiten von Malcolm Gladwell basiert, nach der ein Anbieter im Internet durch eine große Anzahl an Nischenprodukten Geld verdienen kann, mitunter mehr Geld als mit einzelnen Bestsellern; der Name verweist auf die Ähnlichkeit der Verkaufsgrafik mit einem langen Schwanz.
- „Metadaten“: Werden zur Beschreibung, Katalogisierung und Verwaltung von Produkten verwendet. Der Einsatz von Metadaten wird notwendig, wenn eine größere Menge an Produkten zu verwalten ist. In der Buchbranche hat sich das Datenformat ONIX als Standard durchgesetzt. Im E-Commerce hat die Pflege der Metadaten erheblichen Einfluss auf die Sichtbarkeit der einzelnen Titel.
- „Discoverability“: Bezeichnet die Auffindbarkeit von Büchern, sowohl offline (z.B. im Buchhandel) als auch online (in Webshops). Aktuell wird darüber besonders angesichts des Schrumpfens der Buchhandelsfläche diskutiert, mit der Kernfrage: Wie kann die Auffindbarkeit von Büchern im Netz verbessert werden?
- „Algorithmen-Ethik“: Forderung u.a. des US-amerikanischen Politikprofessors Eben Moglen und des deutschen Internet-Unternehmers Stephan Noller, dass eine Diskussion über Mechanismen zur Kontrolle von Algorithmen geführt wird, „wie es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Diskussion gab, die zur Einführung von Sicherungsmechanismen für Pluralität, Meinungsfreiheit und vor allem eine freie Presse geführt hat“ (Noller).
Lektüretipps
- Mercedes Bunz: Die stille Revolution – Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne viel Lärm zu machen. Edition Unseld. 169 Seiten, Berlin 2012.
- Matthias Hell: Discoverability im E-Commerce. K5 Topics. Ca. 41 Seiten. Berlin 2013.
- GDI Impuls, Nr. 2, 2010. Die Transparenz-Revolution. 116 Seiten, Rüschlikon 2010.
- Patrick Stegemann: Algorithmen sind keine Messer. Bundeszentrale für politische Bildung.
- Jörg Blumtritt, Mercedes Bunz, Stephan Noller: re:publica: Algorithmenethik.
Joachim Leser
Jahrgang 1966, leitete jeweils fünf Jahre die Pressestelle beim Ammann Verlag und bei Kein & Aber. Seit 2009 ist er bei Schulthess Juristische Medien in Zürich als Portalmanager und Online-Buchhändler tätig. Joachim Leser schreibt seit Oktober 2009 im buchreport-Blog.
Ich möchte mich ebenfalls für die umfangreiche Analyse bedanken.
Ich denke aber, dass Amazon insbesondere für den Buchhandel in den Innenstädten und Einkaufszentren ein Problem ist. Für den Buchhandel in Klein- und Mittelzentren sowie in den Rand-Stadtteilen großer Städten bieten sich m.E. Chancen durch die Generierung lokalen „Patriotismus“ bzw. Heimatverbundenheit und die dreiste Nutzung der Amazon-Website. Ich selber wohne in einem Ort mit 15.000 Einwohnern im Landkreis München, suche meine Bücher bei Amazon aus und bestelle sie dann Online (dies ist für mich schon wichtig) auf der Website meines lokalen Buchhändlers. Seine Website ist im Vergleich zu der von Amazon grottenschlecht, aber man kann fix ein Buch finden (Infos habe ich zuvor bei Amazon gelesen) und sie dann zur Abholung in seinem Geschäft anklicken. (Der Buchhändler würde das Buch alternativ auch versenden.) So wie ich handeln auch Bekannte im Bewußtsein, dass zu unserem Ort ein Buchhändler ebenso gehört wie ein Maibaum. Übrigens zeigt das Beispiel regionaler Vermarkter im LEH, dass Regionalität mehr kosten darf. (Im Großraum München gibt es in den Kühltheken von Rewe, Tengelmann & Co. Milch von „Unser Land“, die stolze 1,15 Euro/ Liter kostet.)
Ein anderer Aspekt ist die Buchpreisbindung. Ich frage mich zunehmend, wer von dieser profitiert. An erster Stelle sicherlich Amazon. Der Versender kann seine große Einkaufsmacht voll ausnutzen ohne sie durch Angebote an den Verbraucher weitergeben zu müssen. Insofern subventioniert die Buchpreisbindung die Expansion Amazons in andere Branchen (vgl. http://verkaufspreis-optimierung.de/?p=244 ). Aber wie schaut es für die Buchbranche aus? Ich kann mir vorstellen, dass die Käufer der Filialisten weniger preissensibel wie die von Amazon sind Auch stellt sich mir die Frage, ob Verlage durch die Buchpreisbindung noch geschützt werden. Denn Amazon zu einer immer größeren Einkaufsmacht gelangt, wird es den Verlagen wenig nützen, dass der Endpreis geschützt ist, wenn sie ihren eigenen Verkaufspreis immer weiter senken müssen.
Habe schon vor Jahren zwei größeren Häusern in D vorgeschlagen, die qualitätsbuchhandel forcieren, dass wir Kundendaten anonymisiert sowie Emphelungen auf der Website zu poolen und eine Qualität in die online-suche der jeweiligen Häuser zu bringen, die Big Data nicht leisten kann. Wollte keiner.
Eine sehr gute Bestandsaufnahme. Leider fehlt es meiner Ansicht vielen „Onlinern“ im Buchhandel nicht nur an der passenden Software und den passenden Algorithmen, sondern auch an Fantasie, Mut, Kreativität – und an Kundenfreundlichkeit. Sowohl den Lesern, als auch den (kleinen) Verlagen gegenüber. Wenn man sich auf unterschiedlichen Ebenen in dieser Welt bewegt, setzt sehr schnell Ernüchterung ein und man erkennt ebenso schnell, dass es bei Amazon eben nicht nur die Algorithmen sind. Ich würde mir sehr wünschen, dass hier mal ein Aufwachen einsetzt, das sich und vor allem wieder auch wieder auf Nachhaltigkeit und gutes Geschäftsgebaren besinnt.
Der Beitrag ist die präziseste Bestandsaufnahme über das Thema eCommerce im deutschen Buchhandel, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Vielen Dank für die Mühe, Joachim!
Ich stimme zu, dass sich der deutsche Buchhandel nahezu kollektiv falsch auf den Online-Buchhandel eingestellt hat. Wenn überhaupt man eine Aufgabe für das Internet sah, dann, die Recherche dem Kunden im Internet nun selbst zu überlassen.
Was dagegen überhaupt nicht unterstützt wurde, war genau das aristokratische, erlesene, filternde Moment des Buchhandels, wie es Joachim Leser präzise herausarbeitet.
Seit mittlerweile mehr als 15 Jahren Online-Buchhandel verzichtet der Handel darauf, genau diese Kompetenzen auch online abzubilden. Dies führt nicht nur zu einem weitestgehenden Umsatzausfall. Zusätzlich verliert der Buchhandel auch noch auf großer digitaler Schaufenster-Fläche sein Profil und Image als kundiger Buchempfehler.
Um aus dieser Malaise herauszukommen, wäre es hilfreich, wenn die Anstrengungen von innovativen Buchhändlern und Web-Agenturen, eigene Shop-Lösungen zu entwickeln, von den Kataloganbietern (sprich: Barsortimenten und MVB) nach Kräften unterstützt würden.
Es muss eine Parallelentwicklung geben: Die Weiterentwicklung hin zu besseren White-Label-Shops bei gleichzeitiger Forcierung von individuellen Ansätzen und Lösungen, um mehr Erfahrungen und Fertigkeiten in der Bändigung, Filterung, Positionierung und Weiterentwicklung der Katalogdaten zu sammeln.
Auch wenn Amazon in den letzten Jahren groß und größer wurde: Die Chancen und Möglichkeiten für gutes buchhändlerisches eCommerce sind größer denn je – und Marktanteile nicht in Stein gemeißelt.
Einen ausführlichen Kommentar zu den Thesen habe ich in meinem Blog veröffentlicht:
http://www.kohlibri-blog.de/2014/01/5-thesen-zum-ecommerce-im-buchhandel-anmerkungen-zu-joachim-lesers-beitrag-%C2%BBauf-der-suche-nach-klugen-algorithmen%C2%AB/
Wenn ich bei Amazon (oder anderswo) unter Büchern „Schleswig-Holstein“ eingebe, bekomme ich undifferenzieten Salat. „Stöbern“ – zum Beispiel nach norddeutscher Literatur – geht nicht. Und das meiste finde ich, ohne eigene Kenntnisse, überhaupt nicht.
Von ‚buy local‘ bis zu Fluten der Regionalkrimis, von regionaler Küche bis zu Heimatdichtern (von gestern und heute), vom Wandern bis zu Dorfchroniken – wer macht die Spezialisierung auf Regionalia im Netz so, dass der lokale Buchhandel dies als Service anbieten kann? Das ginge partiell durch die Übernahme von Amazon-Daten und VlB, mit Algorhitmen – und gemeinsamer Menschen-Arbeit jeweils vor Ort. (Auch die Schwerinerin könnte beim Buchhändler in Garmisch recherchieren und bestellen.) Jetzt finde ich nicht mal „schwäbische Bestseller“ oder vor Ort handelnde Kinderbücher.
René Kohl – wär das nicht ein Unternehmen wert? „Regionalia“ als Suchbegriff schreit nach einer Such-Seite mit qualifizierten Inhalten!
Sehr gute Analyse. Die Schwäche der Konkurrenten von Amazon hat libri.de augenscheinlich gemacht durch die Umbenennung in ebook.de – als ob es dort keine gedruckten Bücher mehr gäbe. Der nächste Schritt ist die bedingungslose Kapitulation.