Wer bestimmt eigentlich künftig, was wann von öffentlichem Interesse ist? Das ist die Kernfrage, die Social-Media-Plattformen wie Wikileaks aufwerfen. Geht es bei den Veröffentlichungen wirklich um „Enthüllungen“, wie es immer so schön heißt? Oder geht es schlichtweg um Aufklärung?Wenn sieben Jahrhunderte Wikileaks etwas zeigen, dann, dass den jeweils Herrschenden die Aufklärung der Öffentlichkeit noch nie so „recht“ war. Die sozial-medial vernetzte Öffentlichkeit lässt sich die allgegenwärtige Geheimniskrämerei und Desinformation aber auf Dauer noch weniger bieten als die massenmedial geprägte. Kollege Marcel Weiß hat bei neunetz 5 Aspekte der aktuellen Wikileaks-Revolution dargestellt.
Neben den staatlichen Organisationen stellen Wikileaks & Co. auch die privaten Organisationen auf den Prüfstand. Viele Unternehmen schreiben sich gerne groß und „führend“ auf die Fahnen. Aber stellen sie sich auch der Verantwortung, die mit dieser führenden Rolle verbunden ist? Sind sie ernsthaft bereit, öffentliches Vertrauen aufzubauen, sich der sozial-medialen Öffentlichkeit zu stellen und über ihr wahres Tun und Handeln aufzuklären?
Wie bereit sind Otto & Co. für eine Wikileaks-Veröffentlichung?
Was wäre also beispielsweise, wenn die Protokolle der letzten Vorstandssitzung öffentlich würden? Was wenn Ordnungsanweisungen und Strategiepapiere bei Wikileaks auftauchten, frei zugänglich für Mitarbeiter, für Lieferanten, Dienstleister und für die breitere, interessierte Öffentlichkeit?
Otto-Sprecher Thomas Voigt äußert sich zum Thema Wikileaks in der aktuellen Wirtschaftswoche („Wie Wikileaks Unternehmenskulturen verändern kann“; online noch nicht verfügbar):
„Wir können das Rad nicht mehr zurückdrehen. Die Wagenburg-Mentalität hat ausgedient. Was wir gerade erleben ist ein Lackmus-Test – ob man es ernst meint mit einer offenen Unternehmenskultur, oder nicht.“
Manche seiner Aussagen könnte man fast schon als Aufforderung deuten, mehr Otto-Interna ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Plattformen wie Wikileaks, und das ist vielleicht eines der größten Missverständnisse in der aktuellen Debatte, machen keine allzu großen Unterschiede zwischen dem, was wir jeweils gerade unter Gut und Böse verstehen. Ihre Mission ist Aufklärung und Transparenz.
Irritierend mag für viele sein, dass sie dabei neue und – aus heutiger Sicht – ungeahnt hohe Standards für eine aufgeklärte (=vernetzte) Öffentlichkeit setzen (siehe auch Umair Haque zum Thema).
Realistisch betrachtet haben Unternehmen nur zwei Möglichkeiten
Viele Organisationen, ob staatlich oder privat, reagieren nun reflexartig damit, ihre Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen und sich noch mehr abzuschotten. Realistisch betrachtet haben sie auf Dauer aber nur zwei Möglichkeiten, der „öffentlichen Bedrohung“ zu begegnen:
Sie können das Zepter selbst in die Hand nehmen und von sich aus stärker mit relevanten (oder – aus ihrer Sicht – brisanten) Informationen an die Öffentlichkeit gehen – oder abwarten, bis die ersten, internen Dokumente bei Openleaks & Co. auftauchen.
Vorbildlich bei diesem Thema ist einmal mehr die Einstellung von Frank Röbers, dem Vorstandsvorsitzenden der Synaxon AG (PC Spezialist). Das sind dann vermutlich auch die, die von Wikileaks am allerwenigsten zu befürchten haben (s. auch Angst ein Wiki loszulassen).
Schön, aber was hat das jetzt mit dem Thema des Beitrags zu tun?
Wikileaks tut derzeit vor allem eines: Unglaublich nerven. Das ganze Gerede ist sowieso nur von jeweils kurzer Dauer – wie immer, wenn etwas in den Medien hochgekocht wird (oder von selbst hochkocht). Vor 2 Woche waren noch die US-„Cables“ Thema Nummer 1. Jetzt geht’s nur noch um Julian Assange, ob er es nun war oder nicht oder ob die USA ihn „bestrafen“ wollen. Unser Verteidigungsminister fliegt nach Afghanistan und nimmt seine Frau und einen TV-Journalisten (auf dem stark absteigenden Ast) mit. DARÜBER wird heute geredet, nächste Woche aber vermutlich nicht mehr, weil dann was Neues kommt. Und egal, was auch immer von Wikileaks (oder Nachahmern) veröffentlicht wird. Es kommt immer die nächste (subjektiv wichtigere) Nachricht, die das vorheriger verdrängt. Man sieht solche Dinge dann immer im Dezember im TV beim Jahresrückblick und sagt: „Ach ja, weißt du noch…?“ Sollte es z. B. heute irgendwo in der Welt ein verheerendes Erdbeben geben, bei dem zig Tausende sterben, dann rennen alle TV-Sender dieser Erde sofort dahin und kümmern sich nicht mehr richtig um andere News. Zumindest solange, wie man mit dem Erdbeben Quote machen kann. Assange und sein Wikileaks werden maßlos überschätzt. Für die meisten Menschen ist es nur eine weitere Abwechslung in der medialen Beschallung zwischen Supertalent, FDP-Peinlichkeiten und sinnlosen Gesetzen. Man sollte sich mal lieber wieder mehr auf die Substanz konzentrieren und versuchen, Dinge voran zu bringen und zu entwickeln, als ständig nur mit dem Finger auf andere zu zeigen und diese anderen bloszustellen.